Zeitenzauber - Die goldene Brücke - Band 2

von: Eva Völler

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2013

ISBN: 9783838726625 , 338 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 6,99 EUR

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Zeitenzauber - Die goldene Brücke - Band 2


 

Venedig, 1756

O mein Gott, war das hoch! Entsetzt starrte ich in die Tiefe. Das Dach hatte von unten schon hoch ausgesehen, doch wenn man draufstand und runterschaute, fühlte es sich an wie am Rand des Grand Canyons. Abgesehen davon, dass es auch noch abschüssig war – man musste höllisch aufpassen, nicht abzurutschen. Tief unter mir glitzerte das Mondlicht auf dem Kanal. Die Gondel war in der Dunkelheit kaum zu erkennen, aber ich wusste, dass sie dort war – unser Fluchtfahrzeug.

»Was meinst du, ob es wohl mehr als dreißig Meter sind?«, fragte ich kläglich. Es sah wirklich sehr hoch aus.

»Unsinn«, sagte Sebastiano. »Außerdem bist du bequem raufgekommen, und genauso bequem wirst du es wieder runter schaffen. Stell dich nicht so an. Du bist doch sonst so mutig.«

Er hatte leicht reden, er hatte keine Höhenangst.

»Ah, hier ist es.« Sebastiano zerrte eine Abdeckung von einem Loch im Dach, dann drehte er sich zu mir um. Im Licht der kleinen Nachtlaterne, die er vorhin angezündet hatte, sah er verwegen und wagemutig aus. Und gefährlich, mit all den Waffen an seinem Gürtel.

»Hör auf, nach unten zu starren. Es geht los.« Er beugte sich vor und spähte vorsichtig ins Innere des Dachs. Das Loch hatte der Gefangene, den wir heute Nacht befreien wollten, freundlicherweise schon selber hineingemacht. Leider hatte es ihm nicht viel geholfen. Jedenfalls nicht in der unkorrigierten Vergangenheit. In der war er nämlich vom Dach gefallen und hatte sich den Hals gebrochen. Wovon er natürlich nichts wusste, denn es war ja noch nicht passiert. Sebastiano und ich würden dafür sorgen, dass es beim zweiten und endgültigen Anlauf besser klappte.

»Messèr, seid Ihr wach?«, rief Sebastiano leise nach unten.

Drinnen hörte man ein Rumoren, dann kam es ungläubig zurück: »Wer ist da?«

»Eure Retter, Messèr. Wenn ich Euch nun bitten dürfte, Eure Schuhe anzuziehen und zu mir heraufzukommen, damit wir Euch in Sicherheit bringen können …«

Ich blickte ihm über die Schulter und konnte das Innere der winzigen Zelle sehen, die so niedrig war, dass man kaum darin stehen konnte. Bleikammern, so nannte man diese Knastlöcher direkt unterm Dachgebälk des venezianischen Dogenpalastes – weil das Dach mit Bleiplatten gedeckt war. Im Sommer wurde es da drin mörderisch heiß, die Gefangenen steckten in einem Backofen, und im Winter war es so kalt wie in einem Kühlschrank. Wer meckerte, hatte schlechte Karten – die Folterkammer lag nämlich praktischerweise gleich um die Ecke. In der Gegenwart hatte ich mal eine Führung durch dieses Horrorkabinett mitgemacht. Von der Decke hing immer noch der Strick, mit dem man widerspenstige Gefangene so lange an den auf dem Rücken zusammengebundenen Händen aufgehängt hatte, bis sie alles gestanden, egal ob sie was verbrochen hatten oder nicht. Amnesty international hätte hier ein breites Betätigungsfeld gefunden.

»Wer zum Teufel seid Ihr?« Es klang misstrauisch. Klar, er hatte in wochenlanger Kleinarbeit das Loch ins Dach gebohrt und wollte heute Nacht nach dem nächsten Wachwechsel abhauen. Dass auf einmal fremde Leute an seinem Fluchtweg herumstanden, musste ihm verdächtig vorkommen. Hätte er gewusst, dass diese fremden Leute außerdem Zeitreisende waren und aus dem Jahr 2011 stammten, wäre er bestimmt gar nicht erst rausgekommen.

In der Öffnung tauchte eine Gestalt auf, und dann schob sich ein zerzauster Kopf ins Freie. Mein Herz klopfte schneller. Der Mann sah trotz des schwarzen Bartgestrüpps richtig gut aus! Nicht wirklich wie Heath Ledger, aber trotzdem sehr männlich, mit einem attraktiven, wenn auch etwas übernächtigten Gesicht und breiten Schultern, die gleich darauf ebenfalls ins Freie drängten.

»Unsere Namen tun nichts zur Sache, aber glaubt uns, dass wir Euch wohlgesonnen sind.« Sebastiano half dem Gefangenen aufs Dach heraus. Der klopfte sich die Kleidung ab, und anschließend stand er einfach nur da, blickte zum sternenübersäten Himmel auf und sog in tiefen Zügen die Nachtluft ein. Dann sah er mich an und riss die Augen auf.

»Meiner Treu! Ihr seid kein Knabe! Mit Eurer Verkleidung könnt ihr mich nicht täuschen!«

»Na ja.« Ich rückte meine Kappe zurecht und stopfte eine herausgerutschte Haarsträhne zurück. »Lange Röcke sind in dieser Höhe nicht das Wahre.«

»Ich habe dir gesagt, dass die Hose zu eng ist«, bemerkte Sebastiano grollend.

»Ich kann nichts dafür. Du hast sie mir gegeben!«

»Hast du zugenommen?«

»Findest du mich etwa fett?«, fragte ich empört zurück.

»Gestattet, dass ich mich vorstelle«, mischte der Gefangene sich ein. »Giacomo Casanova.« Er verneigte sich formvollendet, griff nach meiner Hand und küsste sie. »So ein schönes Fräulein, fürwahr! Wie sehr Euer Anblick mein Herz erwärmt! Ich hoffe, Ihr verzeiht mir meine unzureichende Aufmachung und meinen unseligen Körpergeruch.«

»Ja, und wir sollten jetzt los, bevor noch jemand runterfällt und sich den Hals bricht«, sagte Sebastiano schlecht gelaunt.

»Nur zu gerne!« Giacomo Casanova strahlte mich an, und ich strahlte zurück. Er sah ziemlich ungepflegt aus mit seinem verdreckten Hemd und den ungekämmten Haaren, aber er war auch der Typ, den Heath Ledger in einem meiner Lieblingsfilme gespielt hatte. Und ich stand ihm leibhaftig gegenüber! Solche Momente waren die Highlights dieses Ferienjobs!

Sebastiano stieg vorsichtig die Dachschrägung hinauf, das Windlicht mit einem Zipfel seines Wamses abschirmend, wobei er sich ab und zu mit der Hand abstützte. Es war nicht allzu steil, doch man musste vorsichtig sein, weil die Platten an manchen Stellen glatt waren. Casanova folgte ihm und blickte sich immer wieder zu mir um. Sein Lächeln hatte etwas Bezwingendes und Verheißungsvolles. Dieser Mann war definitiv der geborene Frauenheld, es stimmte alles, was man über ihn sagte. Aber dann überlegte ich, dass er nach über einem Jahr Knast wohl einfach unter männlicher Entbehrung litt. Wahrscheinlich hätte er auch mit der alten Bettlerin geflirtet, die unten auf der Piazzetta hockte und jeden, der vorbeikam, um Kleingeld anhaute. Trotzdem war es aufregend, mit ihm bei Nacht über den Dächern von Venedig unterwegs zu sein. So ein Abenteuer erlebte man nicht alle Tage, daran würde ich bestimmt noch lange zurückdenken.

Wir kletterten über den First, von dort aus ging es abwärts in Richtung Campanile weiter. Langsam und vorsichtig bewegten wir uns Schritt für Schritt das flach abfallende Dach hinab.

Casanova warf mir einen weiteren Blick über die Schulter zu. »Wie heißt Ihr, schönes Fräulein?«

»Anna«, erwiderte ich gedankenlos.

Sebastiano stieß einen Fluch aus, weil Casanova gegen ihn gestoßen war. Er konnte ihn gerade noch festhalten, sonst wäre er abgerutscht.

»Denkt lieber an Euren Hals als an schöne Frauen«, sagte er ärgerlich.

»Ah, aber diese eine hier ist überaus liebreizend!«, gab Casanova zurück. »Sie ist es wert, dass man jeden Augenblick an sie denkt!«

Ich fühlte mich geschmeichelt, doch Sebastianos Laune geriet langsam an den Tiefpunkt.

»Ist sie Euer Weib?«, wollte Casanova höflich wissen. Darauf gab Sebastiano keine Antwort. Wenig später war unser Weg über das Dach zu Ende. Wir hatten das Fenster erreicht, durch das wir mithilfe einer Leiter zu Beginn der Rettungsaktion aufs Dach gelangt waren. Sebastiano kletterte als Erster hinein, dann half er mir beim Einstieg und anschließend Casanova. Drinnen wartete schon der schielende, nach Zwiebeln stinkende Wärter, den Sebastiano bestochen hatte.

»Lorenzo«, sagte Casanova verärgert zu ihm. »Woher kommt dieser Sinneswandel? Flehte ich dich nicht tausendmal an, mir aus diesem Rattenloch herauszuhelfen? Wieso tust du es für diese Fremden, nicht jedoch für mich?«

Dafür gab es eine einfache Erklärung. Lorenzo war nicht gerade der Hellste, aber schlau genug, um viel Gold von wenig Gold unterscheiden zu können. Das wurde Casanova im nächsten Moment auch klar, denn er nickte langsam und bedachte Sebastiano mit einem bohrenden Blick, in dem unzählige Fragen lagen. Die wichtigste stellte er zuerst.

»Warum ich?«, wollte er von Sebastiano wissen. Als dieser jedoch schwieg, wandte er sich an mich. »Warum habt Ihr von all den Gefangenen ausgerechnet mich befreit, Anna?«

Weil du ein toller Typ bist und tolle Bücher geschrieben hast und weil dein Leben ein einziges Abenteuer war! Deshalb sind wir aus der Zukunft gekommen und haben dich aus dem Knast befreit, damit du so berühmt werden kannst, wie du es in unserer Zeit sein wirst!

Doch das konnte ich ihm natürlich nicht sagen. Eine Art automatische Sperre verhinderte es. Kein Zeitreisender konnte den Menschen in der Vergangenheit Dinge aus der Zukunft verraten. Auch wenn man es wollte – es ging nicht.

Davon abgesehen hätte Casanova uns sowieso kein Wort geglaubt. Jeder vernünftige Mensch hätte uns für verrückt erklärt, wenn wir ihm erzählt hätten, dass wir Zeitwächter waren und als Beschützer bezeichnet wurden und dass unsere geheimnisumwitterten Auftraggeber sich Bewahrer nannten oder einfach nur die Alten. Bevor ich vor anderthalb Jahren zu dieser Truppe gestoßen war, hätte ich es ja selbst für absoluten Blödsinn gehalten. Von daher passte es ganz gut, dass wir wegen der Sperre nicht drüber reden konnten.

»Jetzt aber los«, sagte Sebastiano. Wieder ging er voraus. Außer Lorenzo hatte er auch den Sekretär der Staatsinquisition bestochen, der dafür gesorgt hatte, dass alle Türen in diesem Trakt offen waren. Den Weg musste uns niemand zeigen, Sebastiano war schon oft im...