Die Tränen der Henkerin - Historischer Roman

von: Sabine Martin

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2013

ISBN: 9783838718958 , 508 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Die Tränen der Henkerin - Historischer Roman


 

DIE
BEDROHUNG


AUGUST 1332

»Fahr zur Hölle, Melisande Wilhelmis!« Ottmar de Bruce hob sein Schwert und schlug Melisande die Waffe aus der Hand.

Sie blickte sich verwundert um. »Aber Ihr seid tot, Graf! So tot wie meine Familie, die Ihr hingemetzelt habt in Eurem Blutrausch.«

De Bruce lachte schallend. »Ich werde niemals tot sein, ich werde Euch immer verfolgen, und ich werde Euch zur Strecke bringen, Euch und Eure Brut.« Mit einer lässigen Bewegung warf er sein Schwert ins Gras.

Melisande war immer noch verwirrt. Wo waren sie? Was geschah hier? Es musste früh am Morgen sein, denn das Gras schimmerte nass. Ein Herbsttag? Oder war das der Tau, der im Frühjahr auf den Wiesen lag und glitzerte wie tausend Edelsteine? Nein, es musste Herbst sein – es roch nicht nach Frühling, es roch nach Winter, nach fauligem Laub, nach erbarmungsloser Kälte und Tod.

De Bruce kam auf sie zu, legte ihr seine Pranken um den Hals und drückte zu. Schmerz schoss ihr durch die Kehle, Panik stieg in ihr auf, sie wollte atmen, doch de Bruce drückte ihr die Luft ab, die sie zum Leben brauchte. Das war schon immer so gewesen. Er hatte ihr die Luft zum Leben genommen, bis sie ihn getötet hatte. De Bruce war tot. Er konnte ihr nichts mehr anhaben!

»Ihr seid tot. Ihr seid tot!« Melisande schlug mit den Fäusten auf de Bruce ein, der aber nur laut lachte und noch fester zudrückte. Sie trat um sich, japste nach Luft, Feuerräder tanzten um ihre Augen.

»Melissa! Melissa!« De Bruce rief ihren Namen, immer wieder, aber es war gar nicht ihr Name. »Melissa!«

Melisande schlug de Bruce’ Arme weg, holte Luft wie eine Ertrinkende.

»Melissa, beruhige dich!«

Wer war Melissa?

Der Druck auf ihrer Kehle verschwand, es wurde dunkel, der Geruch nach Winter und Tod machte dem Duft von Lavendel und frischem Stroh Platz – und auf einmal fiel ihr ein, wer Melissa war. Sie selbst war Melissa, und es war nicht Ottmar de Bruce, der nach ihr rief. Sie ließ ihre Arme fallen, und schon strich eine warme Hand über ihre schweißnasse Stirn.

»Melissa«, flüsterte die Stimme, die sie kannte und liebte.

Sie öffnete die Augen. Nicht de Bruce beugte sich über sie, sondern Wendel, ihr Gatte, der Vater ihrer Tochter. Er hielt sich mit der Rechten die rot glühende Wange, mit der Linken griff er ein Tuch und tupfte ihr behutsam die Stirn trocken. »Du hast wieder geträumt und um dich geschlagen. Diesmal war es die rechte Wange.«

Melisande seufzte. »Tut es sehr weh?«

»Ja, es tut weh, aber es ist ein süßer Schmerz.« Er lachte leise. »Du hast die Arme eines Schwertkämpfers.«

»Es tut mir leid.«

»Ich weiß. War es wieder derselbe Traum?«

Melisande presste die Lippen zusammen. Ja, es war der Traum gewesen, der sie seit zwei Jahren verfolgte. Sie hatte gehofft, mit dem Tod von Ottmar de Bruce würde alles gut werden, doch der Graf ließ ihr auch über das Grab hinaus keine Ruhe. Nacht für Nacht schwor er Rache, bedrohte er sie mit seinem Schwert, legte er ihr die bärenstarken Hände um den Hals. Er war tot, von ihrer Hand gestorben, er konnte ihr nichts mehr anhaben. Doch nachts, wenn sie schlief, bewies er ihr, dass er immer noch Macht über sie hatte.

»Es ist alles gut«, erwiderte sie, doch sie sah in Wendels Augen, dass er ihr nicht glaubte. Was sollte sie ihm denn sagen? Dass sie ihn getäuscht hatte? Dass sie nicht Melissa de Willms aus Augsburg war? Dass sie vielmehr Melisande Wilhelmis war, die wie durch ein Wunder mit dem Leben davongekommen war, als Ottmar de Bruce ihre ganze Familie abschlachten ließ, und dass sie danach beim Henker von Esslingen aufgewachsen war und dessen Handwerk erlernt hatte? Sollte sie ihm sagen, dass sie selbst es gewesen war, die ihn, ihren geliebten Wendel, im Kerker von Esslingen gefoltert hatte, hatte foltern müssen, um ihn zu retten? Dass sie es gewesen war, die Ottmar de Bruce schließlich getötet und damit das Schicksal herausgefordert hatte?

Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf Wendels sanfte Hände, genoss die Liebe, die aus jeder Berührung sprach, ebenso wie die Sorgen, die er sich um sie machte. Ein Geräusch ließ sie hochschrecken. »Ist jemand im Zimmer?«

»Nein, Liebste, das ist der Wind, der an den Läden rüttelt. Er hat die Wolken vertrieben. Das Wetter ist über Nacht umgeschlagen, bestimmt bekommen wir einen herrlichen Sommertag.«

Melisande lauschte. Er hatte Recht. Außer dem leisen Pfeifen des Windes war nichts zu hören. Offenbar schlief die Stadt noch. »Ich bin gleich wieder bei dir.« Sie strich Wendel über den Arm, schlüpfte aus dem Bett und trat ans Fenster. Sie drückte die Läden ein kleines Stück auf und spähte hinaus. Nichts rührte sich auf der Straße vor dem Haus. Selbst der Nachtwächter war nirgends zu sehen. Doch der Himmel wurde bereits grau. Bald würde es vom Kloster der Dominikanerbrüder her zur Laudes läuten, und kurz darauf würde die Stadt zum Leben erwachen. Rottweil, ihre neue Heimat. Hier lebte es sich ganz anders als in Esslingen, wo sie aufgewachsen war. Die Bräuche waren anders, der Singsang der Sprache und vor allem die Aussicht. Da die Stadt hoch über dem Neckartal thronte, konnte man hier vom Stadttor aus den Blick weit in die Ferne schweifen lassen.

Die Morgenluft war mild und kühlte Melisandes heiße Stirn. Langsam beruhigte sich ihr Herzschlag. Sie gähnte. Doch zum Schlafen würde sie nicht mehr kommen. Ein langer Tag lag vor ihnen. Ein mächtiger Handelszug aus Italien sollte heute ankommen, mit über fünfzig Fässern Wein für ihr Geschäft. Rottweil würde kopfstehen, denn außer dem Wein würden auch seltene Tuche, Gewürze, Spezereien und vor allem sündhaft teures Glas aus Venedig angeliefert werden. Wenn nur der Zug heil die Stadt erreichte! Nicht nur Wendels und ihr Geschick hingen davon ab, sondern das eines weiteren halben Dutzends braver Rottweiler Bürger, die wie sie ein Vermögen in den Ankauf der kostbaren Handelsgüter gesteckt hatten. Und der Rest der Woche versprach nicht weniger Aufregung: Am Mittwoch erwartete Wendel seine Mutter, die angekündigt hatte, sie zu besuchen – eine seltene Freude, die ihnen nur zuteilwurde, wenn es ihr gelang, sich unter einem Vorwand aus Reutlingen zu entfernen.

»Komm wieder ins Bett, Liebste.« Auffordernd hob Wendel die Decke an.

Melisande kroch zurück ins warme Nest. Noch ein paar Augenblicke die Ruhe genießen! Sie nahm Wendels Hand und küsste sie. Die Zeit bis zum Hahnenschrei würden sie nutzen. Sie war bereit, ein zweites Kind zu empfangen.

Als wenig später die ersten Geräusche im Haus zu vernehmen waren, wand sich Wendel mit einem Seufzer aus dem Bett. Melisande betrachtete ihn und strich sich über den Bauch. »Ich glaube, vorhin ist es passiert. Und diesmal wird es ein kräftiger Junge.«

»Wirklich?« Er sah sie an und lächelte glücklich. »Dagegen hätte ich nichts einzuwenden. Aber nur, wenn er genauso wunderbar wird wie unsere Gertrud.«

»Versprochen. Und jetzt eile dich. Was sollen die Mägde von uns denken?«

»Lass uns lieber einen Namen für unseren Sohn suchen.« Er trat zu ihr und küsste sie auf die Nasenspitze.

»Raimund. Wenn es ein Sohn wird, soll er Raimund heißen.« Sie musste einen Moment die Augen schließen, denn der Name löste eine Flut Erinnerungen in ihr aus. Raimund war ihr Ziehvater gewesen. Raimund, der Henker von Esslingen.

»Raimund? Was für eine ungewöhnliche Wahl.«

»Ich kannte einmal einen Raimund. Das war ein sehr kluger Mann.«

»Dann ist es beschlossen.« Rasch schlüpfte Wendel in seine Kleider und verließ die Schlafkammer.

Melisande genoss die wenigen Augenblicke der Ruhe. Sie flocht ihr rotes Haar zu zwei Zöpfen, die sie hochsteckte, damit sie besser unter die Haube passten, und betrachtete ihr Gesicht in dem kostbaren kleinen Silberspiegel, den Wendel ihr zur Hochzeit geschenkt hatte. Wendel … Sie hatte ihn dem Schicksal abgetrotzt, und um nichts in der Welt würde sie ihn wieder hergeben! Sie lächelte ihr Ebenbild an, legte den Spiegel zurück in die Truhe und folgten ihrem Gemahl hinunter in die Küche.

Gertrud, ihre kleine Tochter, saß auf dem Schoß der Magd und schlief zufrieden, während Selmtraud Möhren putzte. Ihr Anblick versetzte Melisande einen Stich. Sie hatte ihre Tochter nach ihrer kleinen Schwester benannt, deren Leben sie nicht hatte schützen können. Wenn Gertrud so selig schlief, erinnerte sie sie noch mehr als sonst an ihre Schwester, die ebenfalls immer und überall hatte schlafen können, selbst während des größten Unwetters. Sie war der Sonnenschein der Familie Wilhelmis gewesen. Bis Ottmar de Bruce sie abgeschlachtet hatte wie Vieh.

Rasch trat Melisande vor. »Guten Morgen, Selmtraud.«

»Guten Morgen, Herrin.« Selmtraud sprach, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. »Die Kleine hat schon gegessen. Der Herr hat sich nur einen Kanten Brot genommen und ist hinunter in den Keller gegangen, um nach dem Rechten zu sehen. Weil doch heute der Wein kommt.«

»Gut.« Melisande beugte sich über ihre schlafende Tochter und küsste sie. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass die Köchin mit einem Korb Eier unter dem Arm zur Hintertür hereinkam. »Guten Morgen, Walburg.«

»Guten Morgen, Herrin.« Walburg hielt den Korb hoch. »Da kann ich einen schönen Kuchen backen, wenn übermorgen die Mutter von Herrn Wendel kommt.« Sie blickte sich um. »Ist denn die Berbelin noch nicht zurück? Sie sollte doch nur rasch der alten Martha etwas Brot bringen.« Sie seufzte. »Dieses Mädchen, sicherlich hat sie sich wieder am Brunnen verschwatzt. Der werde ich Beine machen, wenn sie zurückkommt.«

»Ja, tu das, aber sei...