Nimue Alban: Die Invasion - Nimue Alban, Bd. 5. Roman

von: David Weber

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2010

ISBN: 9783838702155 , 416 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Nimue Alban: Die Invasion - Nimue Alban, Bd. 5. Roman


 

.I.


Der Tempel, Stadt Zion,
die Tempel-Lande


Vor dem Tempel lag selbst für die Stadt Zion der Schnee ungewöhnlich hoch – immerhin war gerade erst Oktober. Und es schneite und schneite und wollte gar nicht mehr aufhören. Der Schnee fiel in dicken Flocken. Der bitterkalte Wind, der vom Peisee hereinpeitschte und dicke Eisschollen ans kältestarrende Ufer trieb, scheuchte tanzende Schneedämonen durch die Straßen. An jedem Hindernis, auf das der Wind stieß, türmte er skulpturenartige Verwehungen mit messerscharfen Risskanten auf. Jedem Passanten biss er mit Eiszähnen schmerzhaft in Hautpartien, die nicht ausreichend geschützt waren. Überall in der Stadt kauerten sich die Ärmsten der Armen dicht an jede erdenkliche Wärmequelle, die sich auftreiben ließ. Doch für allzu viele fand sich nirgendwo Wärme. Zitternde Eltern betrachteten voller Sorge abwechselnd das raue Wetter und ihre Kinder, wann immer sie an die endlosen Fünftage bis zur Rückkehr des Frühlings mit seiner Wärme dachten. Dabei schien ihnen die herbeigesehnte Jahreszeit wie ein halb vergessener Traum, an den man sich kaum noch zu erinnern vermochte.

Im Inneren des Tempels gab es natürlich keinerlei Kälte. Unter der gewaltigen Kuppel, die sich hoch hinauf dem Himmel entgegenreckte, spürte man trotz ihrer Nähe zu Schnee und klirrender Kälte nicht den kleinsten kühlen Hauch. In diesem Bau, den einst, am nebelverhangenen Morgen der Schöpfung, die Erzengel persönlich an eben diesen Ort gesetzt hatten, herrschte immer die gleiche, perfekte Temperatur, voller Verachtung für das, was das vergängliche Wetter einer sterblichen Welt all dem antun mochte, was sich außerhalb der heiligen Mauern befand.

Die luxuriösen Privatgemächer, die man den Mitgliedern des Rates der Vikare zugewiesen hatte, waren prächtiger, als jeder Sterbliche sich auch nur im Traum hätte ausmalen können. Einige dieser Suiten aber übertrafen in ihrer Pracht alle anderen. In aller Deutlichkeit zeigte das etwa diejenige, die Großinquisitor Zhaspahr Clyntahn vorbehalten war. Sie lag im fünften Stock, eine Ecksuite. Daher bestanden zwei Wände des großen Wohnzimmers und des Speisezimmers vollständig aus Fenstern. Es waren die unzerstörbaren, fast gänzlich unsichtbaren Fenster, die einst die Erzengel persönlich geschaffen hatten. Von innen waren die Scheiben dieser wundersamen Fenster völlig durchsichtig – und das, obwohl sie das einfallende Sonnenlicht wie Wände aus hochglanzpoliertem Silber zurückwarfen. Staunenswert war auch, dass sie keine Spur von Hitze – und ebenso wenig von Kälte – hereinließen, die jegliches Glas, das von Menschenhand geschaffen war, doch stets zu durchdringen vermochten. Überall Luxus und höchste Ästhetik: auf den Böden lagen dicke Teppiche; Kunstwerke, Gemälde ebenso wie Statuen, waren allesamt mit dem Scharfblick eines wahren Kenners ausgewählt. Indirekte Beleuchtung, deren Quelle selbst dem aufmerksamsten Betrachter verborgen blieb, und die perfekten Temperaturen hier rundeten das Bild ab.

Es war selbstredend nicht das erste Mal, dass Erzbischof Wyllym Rayno die Privatgemächer des Großinquisitors betreten durfte. Rayno war der Erzbischof der Diözese Chiang-wu im Harchong-Reich. Zugleich war er der Adjutant des Schueler-Ordens, und das machte ihn zu Clyntahns Erstem Offizier im Heiligen Offizium der Inquisition. Aus diesem Grund wusste Rayno mehr darüber, was Clyntahn dachte und war in dessen Pläne umfassender eingeweiht als jeder andere auf Safehold. Das galt sogar für Clyntahns Kollegen aus der ›Vierer-Gruppe‹. Allerdings gab es Bereiche in Clyntahns tiefstem Inneren, in die selbst Rayno nicht vorgestoßen war. Ein Grund dafür war, dass der Erzbischof in diese intimsten Tiefen und Untiefen auch nicht vorzustoßen wünschte.

»Kommen Sie, Wyllym – kommen Sie herein!«, sagte Clyntahn überschwänglich, als der obligatorische Posten vor den Gemächern des Großinquisitors für Rayno die Tür geöffnet hatte.

»Ich danke Euch, Euer Exzellenz«, murmelte Rayno. Er trat an dem Posten, einer aus einer Gruppe handverlesener Tempelgardisten, vorbei.

Clyntahn streckte Rayno seinen bischöflichen Ring entgegen, und der Erzbischof beugte sich vor, um das Symbol für den Rang des Großinquisitors respektvoll zu küssen. Dann richtete er sich wieder auf und schob die Hände in die weit geschnittenen Ärmel seiner Soutane. Von der hochherrschaftlichen Tafel waren die Überreste eines wahrhaft üppigen Mahles immer noch nicht abgetragen. Es waren zwei Gedecke aufgelegt, wie Rayno sogleich bemerkte. Allerdings vermied er sorgsam, sich seine Erkenntnis anmerken zu lassen. Die meisten unter den Vikaren bemühten sich um ein Mindestmaß an Diskretion, wenn es darum ging, ihre Geliebten in den Räumlichkeiten des heiligen Tempels zu empfangen. Natürlich wusste jeder, dass es dennoch geschah. Aber es galt eben, einige Standards aufrechtzuerhalten; es galt schlicht, den Schein zu wahren.

Aber Zhaspahr Clyntahn war eben keiner von ›den meisten Vikaren‹. Er war der Großinquisitor, der Bewahrer des Gewissens von Mutter Kirche selbst. Es gab Zeiten, in denen selbst Rayno, der schon seit Jahrzehnten in Clyntahns Diensten stand, sich ernstlich fragte, was seinem Vorgesetzten wohl durch den Kopf gehen mochte. Wie konnte dieser Mann derartigen Eifer an den Tag legen, wenn es darum ging, die Sünden anderer zu ahnden, während er sich seiner eigenen Sündhaftigkeit zügellos hingab?

Jetzt werd aber mal nicht ungerecht, Wyllym!, schalt sich der Erzbischof selbst. Clyntahn mag ja ein Eiferer sein, und er ist zweifellos zügellos. Aber wenigstens gehört er unter seinesgleichen nicht auch noch zu den Verlogenen. Er unterscheidet penibel genau zwischen Sünden, erwachsen aus unserer schwachen menschlichen Natur, und eben jenen, die vor den Augen Schuelers und Gottes unverzeihlich sind. Der Herr Großinquisitor kann ja manchmal so unerträglich frömmlerisch tun wie kein Zweiter, das ist wahr. Aber niemand hat je miterlebt, dass er einen seiner Vikars-Kollegen für eben jene Schwachheit des Fleisches verurteilt hätte, die auch ihm nicht fremd ist. Mit demjenigen aber, der Schwäche im Glauben zeigt, dessen Spiritualität zu wünschen übrig lässt, verfährt er ganz anders. Ja, da ist er völlig unnachgiebig Dagegen ist er … nun, bemerkenswert verständnisvoll, was die Vorrechte betrifft, die nun einmal mit hohen Ämtern unweigerlich einhergehen.

Rayno fragte sich, wer wohl an diesem Abend die Besucherin gewesen sein mochte. Clyntahns Appetit war in jeglicher Hinsicht schier unersättlich, und stets reizte ihn das Neue, Unbekannnte. Tatsächlich vermochten nur wenige Frauen seine Aufmerksamkeit über längere Zeit zu erregen. War sein Interesse an ihnen erst einmal abgeklungen, neigte er dazu, sich mit gelegentlich sogar überraschender Plötzlichkeit einer anderen zuzuwenden. Den Frauen gegenüber, die er so plötzlich seiner Gunst beraubte, zeigte er sich allerdings stets sehr großzügig.

Rayno war sich in seiner Funktion als Adjutant der Inquisition durchaus bewusst, dass es in der Hierarchie des Tempels nicht wenige gab, die Clyntahns Begeisterung für die Freuden des Fleisches missbilligten. Manch einer zeigte seine Missbilligung sogar, wenngleich stets mit der nötigen Vorsicht. Offen würde niemand dem Großinquisitor und seinen Vorlieben Paroli bieten. Und selbst wenn jemand es wagte: Rayno hatte schon den einen oder anderen Brief mit verurteilenden Bemerkungen verschwinden lassen, bevor der Großinquisitor etwas von den Angriffen auf seine Person hatte erfahren können. Dennoch war es nur natürlich, dass so mancher in Mutter Kirche mit dem Großinquisitor ein wenig … unglücklich war. Hin und wieder war der Unmut gegen den hohen Geistlichen sicher nichts anderes als Neid. Die meisten aber hatten, das war Rayno durchaus bereit zuzugeben, tatsächlich etwas gegen Clyntahns ausgeprägte Sinnenfreude. Es hatte sogar Zeiten gegeben, da war es Rayno selbst nicht anders ergangen. Aber das war lange her. Denn lange bevor Clyntahn sein derzeitiges Amt angetreten hatte, war Erzbischof Wyllym Rayno zu dem Schluss gekommen, jeder Mensch habe seine Fehler – und große Männer hatten eben auch große Fehler. Clyntahn immerhin beschränkte sich bei seiner Fehlbarkeit ganz auf die fleischlichen Gelüste. Das erschien Rayno bedeutend besser als das, was er schon bei anderen Inquisitoren erlebt hatte: Jene hatten ihr hohes Amt dazu missbraucht, ihren Durst nach gänzlich unnötiger Grausamkeit zu stillen.

»Danke, dass Sie so rasch gekommen sind, Wyllym«, fuhr Clyntahn fort, kaum dass er Rayno begrüßt hatte. Er geleitete seinen Besucher zu einem der bequemen Sessel des Tempels. Dabei lächelte er zuvorkommend, rückte Rayno den Sessel zurecht und schenkte ihm dann gar eigenhändig ein Glas Wein ein. Normalerweise standen die Tischmanieren des Großinquisitors an zweiter – oder eher noch: dritter – Stelle hinter der Inbrunst, mit der er selbst sich aufgetragenen Speisen und Wein widmete. Dennoch konnte Clyntahn ein geradezu unglaublich kultivierter, charmanter Gastgeber sein, wenn er das wollte. Und nichts an diesem Charme war gespielt oder gar falsch. Nur kam Clyntahn sonst eben nie auf die Idee, zu jemandem charmant zu sein. Außer vielleicht dem kleinen Kreis engster Mitarbeiter gegenüber, auf die er sich verließ. ›Vertraute‹ nämlich wäre zu viel gesagt gewesen. Denn Zhaspahr Clyntahn vertraute wahrscheinlich niemandem wirklich.

»Ich muss gestehen, dass Eure Nachricht mir nicht den Eindruck unmittelbarer Dringlichkeit machte, Euer Exzellenz. Ich hatte allerdings ohnehin im Tempel zu tun. Daher erschien es mir am besten, umgehend auf Eure Einladung zu reagieren.«

»Ich wünschte nur, ich...