Das Urteil - Roman

von: John Grisham

Heyne, 2013

ISBN: 9783641110178 , 544 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Das Urteil - Roman


 

1. KAPITEL


Das Gesicht von Nicholas Easter war durch ein mit schlanken, schnurlosen Telefonen gefülltes Schauregal halbwegs verdeckt, und er schaute nicht direkt in die versteckte Kamera, sondern eher nach links, vielleicht zu einem Kunden oder vielleicht auch zu einem Tisch, an dem eine Gruppe von Jugendlichen bei den neuesten Computerspielen aus Asien herumlungerte. Obwohl aus einer Entfernung von vierzig Metern von einem Mann aufgenommen, der ziemlich starkem Fußgängerverkehr im Einkaufszentrum ausweichen mußte, war das Foto klar und zeigte ein nettes Gesicht, glattrasiert, mit kraftvollen Zügen und jungenhaft gutaussehend. Easter war siebenundzwanzig, soviel wußten sie bestimmt. Keine Brille. Kein Nasenring oder irrer Haarschnitt. Keinerlei Hinweis darauf, daß er einer der üblichen Computerfreaks war, die für einen Fünfer die Stunde in dem Laden arbeiteten. In seinem Fragebogen stand, daß er seit vier Monaten dort war, und außerdem stand darin, er sei Teilzeitstudent, aber sie hatten an keinem einzigen College im Umkreis von dreihundert Meilen irgendwelche Immatrikulations-Unterlagen gefunden. In diesem Punkt hatte er gelogen, da waren sie ganz sicher.

Er mußte gelogen haben. Ihre Recherchiermethoden waren zu perfekt. Wenn der Junge Student wäre, dann wüßten sie auch wo, seit wann, welches Studienfach, wie gut seine Noten waren oder wie schlecht. Sie wüßten es. Er war Verkäufer in einem Computerladen in einem Einkaufszentrum. Nicht mehr und nicht weniger. Vielleicht hatte er vor, sich irgendwo immatrikulieren zu lassen. Vielleicht hatte er sein Studium auch abgebrochen und bezeichnete sich trotzdem noch gern als Teilzeitstudent. Möglicherweise fühlte er sich damit besser, so als hätte er ein Ziel vor Augen, oder es hörte sich einfach gut an.

Auf jeden Fall war er kein Student, weder jetzt noch irgendwann in der jüngsten Vergangenheit gewesen. Also, konnte man ihm trauen? Zweimal war diese Frage bereits hier im Zimmer durchdiskutiert worden, jedesmal, wenn sie auf der Liste auf seinen Namen stießen und sein Gesicht auf der Leinwand erschien. Sie waren so gut wie entschlossen, das Ganze als harmlose Lüge zu betrachten.

Er rauchte nicht. Im Laden herrschte striktes Rauchverbot. Aber er war gesehen (nicht fotografiert) worden, wie er im Food Garden ein Taco aß, zusammen mit einer Kollegin, die zu ihrer Limonade zwei Zigaretten rauchte. Der Rauch schien Easter nicht zu stören. Zumindest war er kein fanatischer Antiraucher.

Das Gesicht auf dem Foto war schlank und braungebrannt und lächelte leicht mit geschlossenen Lippen. Das weiße Hemd unter dem roten Ladenjackett hatte einen nicht angeknöpften Kragen, und er trug eine geschmackvoll gestreifte Krawatte. Er wirkte nett, gut in Form, und der Mann, der das Foto gemacht hatte, hatte sogar mit Nicholas gesprochen, angeblich auf der Suche nach irgendeinem veralteten Ersatzteil, und meinte, er sei redegewandt, hilfsbereit, kenntnisreich, ein netter junger Mann. Sein Namensschild wies Easter als Co-Manager aus, aber es gab in dem Laden noch zwei weitere Verkäufer mit demselben Titel.

Einen Tag, nachdem das Foto aufgenommen worden war, betrat eine attraktive junge Frau in Jeans den Laden und zündete sich, während sie sich die Software anschaute, eine Zigarette an. Zufällig war Nicholas Easter der ihr am nächsten stehende Verkäufer oder Co-Manager oder was immer er war, und er trat höflich auf die Frau zu und bat sie, ihre Zigarette auszumachen. Sie gab sich verärgert, ja beleidigt, und versuchte ihn zu provozieren. Er blieb dennoch zuvorkommend und erklärte ihr nur, daß in dem Laden ein striktes Rauchverbot herrsche. Es stünde ihr frei, woanders zu rauchen. »Stört es Sie, wenn geraucht wird?« hatte sie gefragt und einen Zug getan. »Eigentlich nicht«, hatte er erwidert. »Aber es stört den Mann, dem dieser Laden hier gehört.« Dann hatte er sie abermals gebeten, ihre Zigarette auszumachen. Im Grunde sei sie ja auch wegen eines neuen Digitalradios da, erklärte sie ihm, also, wäre es wohl möglich, daß er ihr einen Aschenbecher besorgte? Nicholas holte eine leere Coladose unter dem Tresen hervor, nahm ihr die Zigarette ab und drückte sie aus. Sie unterhielten sich zwanzig Minuten über Radios, während sie sich bemühte, ihre Wahl zu treffen. Sie flirtete schamlos, und er nützte die Chance. Nachdem sie das Radio bezahlt hatte, gab sie ihm ihre Telefonnummer. Er versprach, sie anzurufen.

Die Episode dauerte vierundzwanzig Minuten und wurde von einem kleinen, in ihrer Handtasche versteckten Recorder aufgezeichnet. Das Band war beide Male abgespielt worden, während die Anwälte und ihre Experten sein auf die Leinwand projiziertes Gesicht studierten. Ihr schriftlicher Bericht über das Zusammentreffen lag in der Akte, sechs maschinegeschriebene Seiten mit ihren Beobachtungen über alles, von seinen Schuhen (alte Nikes), über seinen Atem (Zimt-Kaugummi) und sein Vokabular (College-Niveau) bis hin zu der Art, wie er mit der Zigarette umging. Ihrer Ansicht nach, und sie hatte Erfahrung in solchen Dingen, hatte er nie geraucht.

Sie lauschten seiner angenehmen Stimme mit dem professionellen Verkäufertonfall und seinem netten Geplauder, und sie mochten ihn. Er war intelligent und kein absoluter Tabakhasser, nicht gerade ihr Modell-Geschworener, aber eindeutig jemand, den man im Auge behalten mußte. Das Problem mit Easter, Anwärter auf das Amt eines Geschworenen Nummer sechsundfünfzig, war, daß sie so wenig über ihn wußten. Wie es schien, war er vor weniger als einem Jahr an der Golfküste gelandet, und sie hatten keine Ahnung, wo er herkam. Seine Vergangenheit lag vollkommen im dunkeln. Er hatte acht Blocks vom Gerichtsgebäude von Biloxi entfernt eine kleine Wohnung gemietet – sie hatten Fotos von dem Mietshaus – und zuerst als Kellner in einem der Kasinos am Strand gearbeitet. Dann war er schnell zum Geber am Black Jack-Tisch aufgestiegen, hatte aber nach zwei Monaten gekündigt.

Kurz nachdem Mississippi das Glücksspiel legalisiert hatte, waren über Nacht an der Küste ein Dutzend Kasinos aus dem Boden geschossen und hatten einen heftigen Konjunkturaufschwung ausgelöst. Jobsucher kamen aus allen Richtungen, und so konnte man mit einiger Gewißheit annehmen, daß Nicholas Easter aus denselben Gründen nach Biloxi gekommen war wie zehntausend andere Leute auch. Das einzig Merkwürdige daran war, daß er sich so schnell in die Wählerliste hatte eintragen lassen.

Er fuhr einen VW-Käfer von 1969; ein Foto davon wurde auf die Leinwand projiziert und nahm den Platz seines Gesichts ein. Na großartig. Er war siebenundzwanzig, ledig, angeblicher Teilzeitstudent – der perfekte Typ für so einen Wagen. Keine Aufkleber. Nichts, was auf politische Neigungen oder seine soziale Einstellung oder auch nur eine Lieblings-Baseballmannschaft hindeutete. Kein Parkausweis von einem College. Nicht einmal eine verblichene Händlerreklame. Der Wagen sagte ihnen gar nichts, außer daß sich sein Eigentümer am Rande der Mittellosigkeit befand.

Der Mann, der den Projektor bediente und den größten Teil des Redens besorgte, war Carl Nussman, ein Anwalt aus Chicago, der nicht mehr in seinem ursprünglichen Beruf tätig war, sondern statt dessen seine eigene Juryberater-Firma leitete. Für ein kleines Vermögen konnten Carl Nussman und seine Leute jedem die richtige Jury zusammenstellen. Sie sammelten Material, machten Fotos, zeichneten Stimmen auf, ließen genau im richtigen Moment Blondinen in engen Jeans aufmarschieren. Carl und seine Mitarbeiter umschifften sämtliche Klippen von Gesetz und Ethik, aber man konnte sie einfach nicht dafür drankriegen. Schließlich war nichts Illegales oder Unethisches am Fotografieren potentieller Geschworener. Sie hatten vor sechs Monaten, dann noch mal vor zwei Monaten und vor einem Monat wieder erschöpfende Telefonumfragen in Harrison County durchgeführt, um herauszufinden, wie man dort über das Thema Tabak dachte und danach Modelle der perfekten Geschworenen auszuarbeiten. Sie ließen kein Foto unaufgenommen, keine schmutzige Wäsche unberührt. Über jeden potentiellen Geschworenen hatten sie eine eigene Akte.

Carl drückte auf einen Knopf, und an die Stelle des VW trat ein nichtssagendes Foto von einem Mietshaus mit abblätternder Farbe, das Heim, irgendwo drinnen, von Nicholas Easter. Dann ein Klick, und wieder zurück zu seinem Gesicht.

»Also haben wir nur die drei Fotos von Nummer sechsundfünfzig«, sagte Carl mit einem Anflug von Frustration, während er sich umdrehte und den Fotografen anfunkelte, einen seiner zahllosen Privatschnüffler, der erklärt hatte, er könnte den Jungen einfach nicht erwischen, ohne dabei selbst erwischt zu werden. Der Fotograf saß auf einem Stuhl an der hinteren Wand, mit dem Gesicht zu dem langen Tisch voller Anwälte, Anwaltsgehilfen und Jury-Experten. Er war ziemlich angeödet und hätte sich am liebsten verdrückt . Es war sieben Uhr am Freitagabend. Nummer sechsundfünfzig war auf der Leinwand, hundertvierzig standen noch bevor. Das Wochenende würde furchtbar werden. Er brauchte einen Drink.

Ein halbes Dutzend Anwälte in zerknitterten Hemden und mit aufgerollten Ärmeln kritzelte endlose Notizen und schaute gelegentlich auf das Gesicht von Nicholas Easter dort hinter Carl. Alle möglichen Jury-Experten – Psychiater, Soziologen, Schriftanalytiker, Juraprofessoren und so weiter  – hantierten mit Papieren und blätterten in daumendicken Computerausdrucken. Sie waren nicht sicher, was sie mit Easter anfangen sollten. Er war ein Lügner, und er verbarg seine Vergangenheit, aber auf dem Papier und auf der Leinwand sah er trotzdem okay aus.

Vielleicht log er ja auch nicht. Vielleicht war er im vergangenen...