Allmen und der rosa Diamant

von: Martin Suter

Diogenes, 2013

ISBN: 9783257602203 , 224 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Allmen und der rosa Diamant


 

[87] Zweiter Teil

1

Am nächsten Tag war das Wetter noch schlechter. Allmen hatte nach alter Gewohnheit um sieben Uhr einen Tee ans Bett bestellt und vom Zimmerkellner den Ratschlag bekommen, noch lange liegen zu bleiben.

Zwei Stunden später wurde er von Regenböen geweckt, die gegen die Fensterfront prasselten.

Die Schwalben, die sonst unentwegt für ihre Brut Versorgungsflüge flogen, warteten jetzt aufgeplustert vor den Nestern der nahen Schwalbentürme auf das Nachlassen des Regens.

Am Abend zuvor hatte sich Allmen früh sein Abendessen aufs Zimmer bestellt. Danach war er durch die Hotelanlage geschlendert und hatte dabei unauffällig die verschiedenen Restaurants, die Lobby, den Rauchsalon, die Bibliothek und die Bar abgesucht. Er war niemandem begegnet, der Sokolow ähnlich sah. War er inzwischen abgereist?

[88] Nach seinem Rundgang telefonierte er mit Carlos und bat ihn, im Hotel anzurufen und Sokolow zu verlangen. Kurz darauf rief Carlos zurück mit der Auskunft, Herr Sokolow sei außer Haus und werde erst morgen wieder erwartet.

Allmen war beruhigt zu Bett gegangen und hatte wunderbar geschlafen. Nach dem Early Morning Tea hatte er sich das Frühstück aufs Zimmer bestellt: Milchkaffee, Croissants, Butter und Honig, Rührei mit Schinken und etwas geräucherten Aal. Eine nahrhafte Mahlzeit. Er hatte vor, es später den Unentwegten gleichzutun, die er unten am Strand trotz der Witterung in die Brandung springen sah.

Um zehn Uhr rief er Carlos an. Allmen wusste, dass er heute Vormittagsdienst hatte und um diese Zeit sein Handy einschaltete. Denn um zehn Uhr machte er seine Pause. Wie jeder Mensch spanischer Sprache, wo immer auf der Welt.

Carlos war »sin novedad, gracias a Dios«. Eine Redensart aus seiner Heimat Guatemala, wo Neuigkeiten in der Regel nichts Gutes bedeuten. Ohne Neuigkeiten, Gott sei Dank.

Von Montgomery hatte Carlos nichts gehört, was Allmen hoffen ließ, dass dieser den zweiten Vorschuss geschluckt hatte. Geld war allerdings noch keines auf dem Konto eingetroffen. Carlos würde in der Mittagspause wieder den Kontostand [89] von Allmen International prüfen, versicherte er ihm.

Kurz nach dem Anruf ließ der Regen nach. Allmen packte die Strandtasche, eine geflochtene, mit Kunststoff gefütterte Einkaufstasche mit dem Hotelemblem. Er zog eine Badehose an und darüber ein paar verwaschene Chinos. In einem Sweatshirt mit dem Charterhouse-Emblem und seiner geliebten alten Barbour-Windjacke, die Carlos ihm vor der Abreise frisch eingewachst hatte, verließ er seine Suite.

Auf dem Gang begegnete er der Gouvernante. Es war eine großgewachsene knochige Frau Mitte vierzig. »Schmierig, heute«, sagte sie.

Allmen verstand nicht.

»Es regnet aus allen vier Himmelsrichtungen«, erklärte sie.

»Ach, und dazu sagt man schmierig?«

»Ich sag dem so.«

Gouvernanten waren nach Allmens Hotelerfahrung fast so wichtig wie Concierges und Maîtres d’Hôtel. Wer sich mit ihnen gut stellte, der hatte stets ein aufgeräumtes Zimmer, dem wurden kleine Sonderwünsche erfüllt, dessen Wäsche kam schnell aus der Wäscherei, dessen Anzüge waren gebürstet und aufgebügelt, dessen Kleenex aufgefüllt und dessen Bademantel täglich frisch. Allmen [90] erkundigte sich nach ihrem Namen, gab ihr hundert Euro Trinkgeld und wünschte ihr einen nicht allzu schmierigen Tag.

Frau Schmidt-Gerold hieß sie. Er merkte sich den Namen.

Das Gittertor zum Strand war verschlossen. Erst als der unterbeschäftigte Strandwärter herbeieilte, begriff Allmen, dass man es mit der Zimmerkarte öffnete.

Er ließ sich einen Strandkorb herrichten, machte es sich bequem, starrte auf den Strand und schaute den Möwen zu.

Lange verharrten sie reglos. Urplötzlich sammelten sie sich kreischend, flogen undurchschaubare Figuren und ließen sich nieder, um wieder reglos zu verharren.

Oder sie trippelten am Rande der Brandung und warteten auf essbares Strandgut im zurückfließenden Wasser.

In der Ferne waren drei Containerschiffe zu erkennen. Etwas näher ein Trawler. Vom Strand stieß der kleine Katamaran der hoteleigenen Segelschule ab, an Bord ein paar Kinder in riesigen, leuchtfarbenen Schwimmwesten.

Aus der grauen Wolkenschicht vor dem hellgrauen Wolkenhintergrund hing ein dünner Wolkensack fast bis zum Meer herunter.

[91] Allmen nahm ein Buch aus der Strandtasche und begann zu lesen. The House on the Strand von Daphne du Maurier.

Eine Stunde später wurde er abrupt von etwas aus dieser wunderbaren Zeitreise in die Gegenwart zurückgeholt. Er brauchte einen Moment, bis ihm klar wurde, was es war.

Eine russische Männerstimme.

2

Er hatte nicht bemerkt, dass sich das Wetter gebessert hatte. Es hatte aufgehört zu regnen, der Wind hatte sich gelegt, und manchmal ließ die Wolkendecke sogar ein paar Sonnenstrahlen durch.

Allmen stand von seinem Strandkorb auf und sah sich um. Es waren jetzt einige Hotelgäste an den Strand gekommen. Viele hatten ihre Körbe so gedreht, dass die raren Sonnenstrahlen nicht wie bei Allmen nur die Rückwand trafen. Kinder spielten im Sand, und ein paar Tische bei der Strandbar waren besetzt.

Die russische Stimme war genau hinter ihm. Sie klang nicht nach einem knapp Vierzigjährigen, sie musste einem alten Mann gehören. Sie erzählte gemächlich von einer anderen Zeit.

[92] Allmen hörte zu. Militärische Ränge kamen vor und Ausdrücke wie Kantonnement, Feldküche, Offiziersmesse, Wachkommando, Inspektion. Der alte Mann erzählte vom Militär. Und bald wurde Allmen klar, dass er von der Zeit sprach, als das Grand Duc von der Roten Armee requiriert war und er als junger Offizier die, wie er es nannte, schönste Zeit des Krieges verbracht hatte.

Die Stimme des anderen Mannes klang jünger. Aber sie beschränkte sich auf einsilbige Kommentare und Ausdrücke der Bewunderung, Überraschung und des Erstaunens.

Allmen ging zwischen den Körben vorbei zur Strandbar. So konnte er einen Blick auf den Erzähler werfen. Es war ein sehr bleicher Mann, dessen Körperfülle beide Plätze des Strandkorbs in Anspruch nahm. Er hatte den Kopf zurückgelehnt und sah mit halbgeschlossenen Augen auf den Mann hinunter, der vor ihm im Sand kauerte.

Der Zuhörer hatte Allmen den Rücken zugewandt, er konnte sein Gesicht nicht sehen. Aber sein Haar war schütter. Und dunkelblond.

An der Strandbar bestellte Allmen ein Glas Champagner. Gegen das Herzklopfen.

Der Strandkorb Nummer zweiunddreißig war nur von hinten zu sehen. Allmen behielt ihn im Auge. Auf dem Rückweg würde er von der [93] anderen Seite daran vorbeigehen und so einen Blick auf den Zuhörer werfen können.

Nach dem zweiten Glas hatte das Herzklopfen aufgehört, und die Mischung aus Euphorie und Sorglosigkeit, für die er dieses Getränk so liebte, hatte sich eingestellt.

Er unterschrieb die Rechnung und gab dem Barmann ein Trinkgeld, das diesem helfen würde, sich Allmens Namen und Zimmernummer zu merken. Dann schlenderte er zu seinem Korb zurück.

Der alte Mann war noch immer am Erzählen. Aber der Zuhörer kauerte nicht mehr, er stand. Es war ein kleiner Mann, er kam nicht annähernd auf die ein Meter neunzig von Sokolow. Sein Gesicht war rundlich, und seine Augen lagen nicht tief.

Allmen setzte sich wieder in seinen Korb und widmete sich seiner Lektüre.

Nach einer Weile machte sich der Strandwärter am Nachbarkorb zu schaffen. Schloss ihn auf, entfernte das Holzgitter, zog die Fußstützen heraus, klopfte den Sand ab.

»Danke«, sagte der Gast, der ihn begleitete. »Bitte bringen Sie mir einen Milchkaffee.«

Sein Akzent ließ Allmen aufblicken.

Der Mann war groß, hatte ein schmales Gesicht, schütteres, dunkelblondes, nach hinten gekämmtes Haar und tiefliegende Augen.

[94] 3

Bereits am zwölften Tag nach der Auftragserteilung hatte Allmen International Inquiries den Gesuchten also ausfindig gemacht.

Eine Erfolgsmeldung, mit der Allmen gerne sofort bei seinem Auftraggeber aufgetrumpft hätte. Aber er musste sich noch ein wenig gedulden. Natürlich wollte er sich erst mit Carlos absprechen.

Allmen zog Hose und Sweatshirt aus und ging ins Wasser. Er schwamm eine Weile, bis er das Gefühl hatte, er könne nun zu seinem Korb zurückgehen und dabei Sokolow beobachten, ohne den Eindruck zu erwecken, er sei einzig deswegen ins Wasser gegangen.

Der Russe saß mit angezogenen Beinen quer in seinem Strandkorb. Er hatte einen kleinen Laptop auf den Knien und tippte. Als Allmen an ihm vorbeiging, sah er kurz auf und konzentrierte sich sofort wieder auf seinen Bildschirm.

Allmen rieb sich die Haare trocken und schielte dabei unter dem Frottiertuch hervor. Sokolow war nicht zum Baden gekleidet. Seiner Haut sah man nicht an, dass er schon über einen Monat in einem Seebad verbracht hatte. Er sah harmlos aus. Harmlos und ein wenig einsam.

Noch eine Stunde, bis Allmen Carlos anrufen [95] konnte. Er verbrachte sie lesend, keine zwei Meter neben dem Mann, der ihnen – wenn alles gut lief – zu eins Komma acht Millionen verhelfen würde.

Zwanzig Minuten zu früh packte Allmen seine Strandtasche. Im Vorbeigehen nickte er seinem neuen Korbnachbarn zu. Dieser hatte den Sonnenstore so tief heruntergezogen, wie es nur ging, und blickte nicht von seinem Laptop auf.

»Jetzt, wo es endlich schön wird, gehen Sie?«, wunderte sich der Strandwärter. Allmen gab ihm ein Trinkgeld und bat ihn, den Strandkorb...