Die letzte Zeugin - Roman

von: Nora Roberts

Blanvalet, 2013

ISBN: 9783641096748 , 576 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Die letzte Zeugin - Roman


 

2

Da Julie ihr so viel geholfen hatte, fand Elizabeth es nur fair, mit Julies Führerschein zu beginnen. Die Dokumentenvorlage war nicht schwer zu erstellen. Die Qualität des Ausweises hing im Wesentlichen von der Qualität des Papiers und des Laminats ab.

Das stellte kein Problem dar, da ihre Mutter immer für ausreichend Vorrat sorgte.

Mit Scanner und Computer produzierte sie eine ganz anständige Kopie, bearbeitete das digitale Foto mit Photoshop und setzte es an die richtige Stelle.

Das Ergebnis war gut, aber nicht gut genug.

Nach mehreren Stunden und drei weiteren Versuchen hatte sie endlich das Gefühl, einen Ausweis geschaffen zu haben, der der Überprüfung in einem Nachtclub standhielt. Wahrscheinlich würde er sogar eine eingehendere Prüfung durch die Polizei überstehen. Sie hoffte allerdings, dass es dazu nicht kommen würde.

Sie legte Julies Ausweis beiseite.

Als sie auf die Uhr blickte, stellte Elizabeth fest, dass es schon zu spät war, um Julie anzurufen. Es war schon fast ein Uhr morgens. Dann warte ich eben bis morgen früh, dachte sie und machte sich an ihren eigenen Ausweis.

Zuerst das Foto. Beinahe eine Stunde brauchte sie, um sich zu schminken, wobei sie sorgfältig die einzelnen Schritte kopierte, die sie bei Julie in der Mall beobachtet hatte. Die Augen schminkte sie dunkler, die Lippen heller, und dann gab sie noch Rouge auf die Wangen. Sie hatte nicht gewusst, dass es so viel Spaß – und Mühe – machte, mit all den Farben, Pinseln und Stiften zu spielen.

Liz sieht älter aus, dachte sie, als sie anschließend das Ergebnis im Spiegel betrachtete. Liz sieht hübsch und selbstbewusst aus – und normal.

Berauscht vom Erfolg machte sie sich daran, ihre Haare zu stylen.

Das war komplizierter, aber sie war sich sicher, dass sie es mit etwas Übung schon lernen würde. Die sorglose, ein wenig unordentliche Frisur gefiel ihr. Dieses kurze, stachelige, glänzende Schwarz war völlig anders als ihre langen, glatten, langweiligen rötlichbraunen Haare.

Liz war neu. Liz konnte und würde Dinge tun, die Elizabeth sich im Traum nicht getraut hätte. Liz hörte Britney Spears und trug Jeans, die ihren Nabel frei ließen. Liz ging samstagsabends mit einer Freundin in Clubs, tanzte und lachte und … flirtete mit Jungs.

»Und die Jungs flirten zurück«, murmelte sie. »Liz ist nämlich hübsch und lustig, und sie hat vor nichts Angst.«

Sie stellte den richtigen Winkel ein, sorgte für den richtigen Hintergrund und machte mit ihrer neuen Kamera mehrere Fotos mit Selbstauslöser.

Sie arbeitete bis nach drei, wobei sie feststellte, dass der Prozess ihr beim zweiten Dokument leichter fiel. Erst kurz vor vier räumte sie die Ausrüstung sorgfältig weg und entfernte pflichtbewusst ihr Make-up. Sie würde bestimmt nicht schlafen können, dachte sie – ihr schwirrte der Kopf von all den Aktivitäten.

Kaum hatte sie die Augen geschlossen, war sie jedoch auch schon fest eingeschlafen.

Und zum ersten Mal in ihrem Leben, abgesehen von Zeiten, in denen sie krank war, schlief sie bis Mittag. Als Allererstes rannte sie an den Spiegel, um sich zu vergewissern, dass sie nicht alles geträumt hatte. Dann rief sie Julie an.

»Ja. Ich habe alles.«

»Und, ist es gut geworden? Meinst du, es funktioniert?«

»Es sind ganz hervorragende Papiere. Ich sehe da überhaupt kein Problem.«

»Geil! Neun Uhr. Ich komme mit dem Taxi und lasse es warten – du musst also fertig sein. Und sieh bloß zu, dass du gut aussiehst, Liz.«

»Ich habe gestern Abend schon versucht, mich zu schminken. Heute Nachmittag übe ich noch ein bisschen, auch mit meinen Haaren. Und ich muss üben, in den Schuhen zu laufen.«

»Ja, tu das. Bis später dann. Party-Time!«

»Ja, ich …« Aber Julie hatte schon aufgelegt.

Sie verbrachte den ganzen Tag mit dem Projekt Liz, wie sie es getauft hatte. Sie zog neue Dreiviertelhosen und ein Top an, schminkte sich, arbeitete an ihren Haaren. Sie lief in den neuen Schuhen, und als sie das Gefühl hatte, es zu beherrschen, tanzte sie.

Sie übte vor dem Spiegel zur Musik eines Popmusiksenders im Radio. So hatte sie auch früher schon getanzt – alleine vor dem Spiegel –, um sich die Bewegungen beizubringen, die sie bei den Tanzabenden auf der Highschool beobachtet hatte. Damals hatte sie traurig am Rand der Tanzfläche gestanden, zu jung und zu unattraktiv, um von den Jungen bemerkt zu werden.

Die hohen Absätze machten die Bewegungen und Drehungen problematisch, aber es gefiel ihr, dass sie gezwungen war, Knie und Hüften locker zu halten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Um sechs holte sie ihre beschriftete Mahlzeit heraus, und während sie aß, checkte sie ihre E-Mails. Ihre Mutter hatte sich nicht gemeldet. Und dabei war sie sicher gewesen, etwas vorzufinden – eine Strafpredigt, irgendwas.

Aber Susans Geduld war endlos, und sie verstand es meisterhaft zu schweigen.

Dieses Mal würde es jedoch nicht funktionieren, beschloss Elizabeth. Dieses Mal würde Susan eine Überraschung erleben. Sie hatte Elizabeth verlassen, und wenn sie nach Hause kam, würde sie Liz vorfinden. Und Liz würde nicht am Sommerprogramm der Universität teilnehmen. Liz würde ihren Stundenplan und ihre Kurse für das kommende Studienjahr ändern.

Liz würde nicht Chirurgin werden. Liz würde beim FBI arbeiten, in der Abteilung Cyber-Verbrechen.

Sie nahm sich eine halbe Stunde Zeit, um die Universitäten zu recherchieren, die für diesen Studiengang am angesehensten waren. Sie würde die Universität wechseln müssen, und das könnte ein Problem darstellen. Ihr Studium wurde von ihren Großeltern bezahlt, und möglicherweise kappten sie ihr das Geld. Bestimmt hörten sie auf ihre Tochter und beugten sich ihren Wünschen.

Na ja, dann würde sie sich eben um ein Stipendium bewerben. Ihre Zeugnisse waren hervorragend. Sie würde zwar ein Semester verlieren, aber bestimmt einen Job finden. Sie würde arbeiten gehen und sich ihren Traumberuf selbst verdienen.

Schließlich fuhr sie den Computer herunter und rief sich ins Gedächtnis, dass heute Abend nur Spaß und Entdeckung zählten. Heute ging es einmal nicht um Sorgen und Pläne.

Sie ging nach oben, um sich für den ersten Abend, an dem sie ausging, umzuziehen. Ihr erster Abend in Freiheit.

Weil sie sich so früh umgezogen hatte, hatte Elizabeth viel zu viel Zeit, um nachzudenken, zu grübeln, zu zweifeln. Sie war bestimmt overdressed, zu wenig geschminkt, und ihre Haare waren nicht richtig so. Niemand würde sie zum Tanzen auffordern.

Julie war achtzehn, älter und erfahrener. Sie wusste, wie sie sich kleiden, sich in Gesellschaft benehmen, mit Jungs reden musste. Aber sie würde Julie bestimmt in Verlegenheit bringen, weil sie irgendetwas Unpassendes sagen oder tun würde. Und dann würde Julie nie wieder mit ihr sprechen, und dieses zarte Band der Freundschaft wäre für immer zerrissen.

Sie steigerte sich in eine so panische Erregung hinein, dass sie sich ganz zitterig und fiebrig fühlte. Zweimal musste sie sich hinsetzen und den Kopf zwischen die Knie nehmen, um Panikattacken zu bekämpfen, und als Julie dann endlich an der Tür klingelte, waren ihre Handflächen feucht, und das Herz schlug ihr bis zum Hals.

»Ach, du liebe Scheiße!«

»Es ist falsch! Ich bin ganz falsch angezogen.« Wie gelähmt stand sie vor Julie. »Es tut mir leid. Nimm einfach deinen Ausweis mit.«

»Deine Haare.«

»Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Ich wollte nur versuchen …«

»Das ist geil! Du siehst hammermäßig aus. Ich hätte dich nicht erkannt. Oh, mein Gott, Liz, du siehst aus wie einundzwanzig. Richtig sexy!«

»Wirklich?«

Julie stemmte eine Hand in die Hüfte. »Das ist der Wahnsinn!«

Elizabeth bekam kaum Luft, so heftig klopfte ihr Herz. »Dann ist es also in Ordnung? Sehe ich richtig aus?«

»Und wie richtig du aussiehst.« Julie hob die Hand und legte Daumen und Zeigefinger zu einem Kreis zusammen. »Dreh dich mal um, Liz. Lass mich das Gesamtpaket sehen.«

Erhitzt und den Tränen nahe drehte Elizabeth sich um die eigene Achse.

»Oh, Mann! Wir werden heute Abend wie eine Bombe einschlagen!«

»Du siehst auch toll aus. Aber das ist bei dir ja immer so.«

»Lieb von dir.«

»Dein Kleid gefällt mir.«

»Es gehört meiner Schwester.« Julie drehte sich in dem schwarzen Neckholder-Minikleid und warf sich in Pose. »Sie bringt mich um, wenn sie merkt, dass ich es mir geliehen habe.«

»Ist es schön, eine Schwester zu haben?«

»Es schadet zumindest nicht, eine ältere Schwester zu haben, die die gleiche Kleidergröße trägt wie man selbst, auch wenn sie die meiste Zeit ziemlich nervt. Lass mich mal den Ausweis sehen. Der Taxameter läuft, Liz.«

»Ach so. Ja.« Liz öffnete die Abendtasche, die sie aus der Sammlung ihrer Mutter ausgesucht hatte, und holte Julies gefälschten Führerschein heraus.

»Er sieht echt aus«, sagte Julie, nachdem sie ihn stirnrunzelnd betrachtet hatte. Sie blickte Elizabeth mit großen dunklen Augen an. »Ich meine, du weißt schon, echt echt.«

»Ja, sie sind ganz gut geworden. Mit einer raffinierteren Ausrüstung könnte ich es wahrscheinlich noch besser, aber für heute Abend müssten sie eigentlich reichen.«

»Er fühlt sich sogar echt an«, murmelte Julie. »Du hast ja richtiges Talent, Mädchen. Du könntest ein...