Nur ein Leben - - - Das Meer der Seelen 1

von: Jodi Meadows

Goldmann, 2013

ISBN: 9783641102227 , 352 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Nur ein Leben - - - Das Meer der Seelen 1


 

KAPITEL 1


Schnee


Ich bin nicht wiedergeboren.

Als ich begriff, wie sehr mich das von allen anderen unterschied, war ich fünf. Es war die Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche im Jahr der Seelen, die Seelennacht, in der sich die Leute erzählen, was sie vor drei Leben gemacht haben. Vor zehn Leben. Zwanzig. Kämpfe gegen Drachen, die Entwicklung der ersten Laserpistole und der vier Leben währende Versuch von Cris, eine Rose in reinstem Blau zu züchten, nur um dann von allen zu hören, sie sei purpurn.

Niemand machte sich die Mühe, mit mir zu reden, daher sprach ich kein Wort – kein einziges –, hörte jedoch gut zu. Sie hatten alle schon einmal gelebt, hatten gemeinsame Erinnerungen, hatten Leben, auf die sie sich freuen konnten. Sie tanzten um die Bäume und das Feuer, tranken, bis sie vor Lachen umfielen, und als es Zeit war, den Dank für die Unsterblichkeit zu singen, schauten einige zu mir herüber, und auf der Lichtung herrschte eine so unheimliche Stille, dass man den meilenweit entfernten Wasserfall auf die Felsen donnern hörte.

Li brachte mich nach Hause, und am nächsten Tag besann ich mich auf alle Wörter, die ich kannte, und bildete einen Satz. Alle anderen erinnerten sich an hundert frühere Leben. Ich konnte das nicht und musste wissen, warum.

»Wer bin ich?« Meine ersten gesprochenen Worte.

»Niemand«, sagte sie. »Eine Seelenlose.«

 

Ich ging fort.

Es war mein achtzehnter Geburtstag, nur wenige Wochen nach der Jahreswende.

Li sagte: »Gute Reise, Ana«, doch ihre Miene war versteinert, und ich bezweifelte, dass sie es aufrichtig meinte.

Das Jahr der Dürre war das schlimmste meines Lebens gewesen, voll aufgestautem Zorn und Ärger. Das Jahr des Hungers hatte nicht viel besser begonnen, aber jetzt war mein Geburtstag, und ich hatte einen Rucksack voller Verpflegung und Ausrüstung und die Aufgabe herauszufinden, wer ich war und warum ich existierte. Die Möglichkeit, den feindseligen Blicken meiner Mutter zu entkommen, war ein positiver Nebeneffekt.

Ich sah über die Schulter zum Purpurrosenhaus zurück, wo Li, groß und schlank, vor der Tür stand. Zwischen uns wirbelten Schneeflocken.

»Auf Wiedersehen, Li.« Mein Abschied gefror wie Nebel in der kalten Luft, als ich den Rucksack schulterte. Es war Zeit, dieses abgelegene Haus zu verlassen und die anderen kennen zu lernen. Von seltenen Besuchern abgesehen kannte ich niemanden außer meiner schlangenherzigen Mutter. Der Rest der Bevölkerung lebte in der Stadt, in Heart.

Der Gartenpfad wand sich zwischen den reifbedeckten Tomatenranken und Kürbissen den Hügel hinab. Ich zog den Wollmantel enger um mich, während ich die Frau zurückließ, die mich zur Strafe jedes Mal tagelang hungern ließ, wenn ich eine Pflicht nicht richtig erfüllt hatte. Von mir aus durfte es das letzte Mal sein, dass ich sie sah.

Unter meinen Stiefeln knirschten Kies und Eis. Ich behielt die Fäuste in den Taschen und biss die Zähne gegen die Kälte zusammen. Lis durchdringender Blick verfolgte mich den ganzen Weg den Hügel hinunter, stechend wie die Eiszapfen, die vom Dach hingen. Es spielte keine Rolle. Ich war jetzt frei.

Am Fuß des Hügels wandte ich mich nach Heart. In der Stadt würde ich meine Antworten finden.

»Ana!« Li winkte auf der Türschwelle mit einem kleinen Metallgegenstand. »Du hast den Kompass vergessen.«

Ich stieß einen Seufzer aus und stapfte wieder zurück. Sie würde ihn mir nicht bringen, und es überraschte mich nicht, dass sie gewartet hatte, bis ich unten am Fuß des Hügels war, bevor sie mich an meine Nachlässigkeit erinnerte. Als ich zum ersten Mal meine Tage bekommen hatte, war ich aus der Toilette gerannt und hatte geschrien, dass ich verblute. Sie hatte gelacht und gelacht, bis ihr klar geworden war, dass ich tatsächlich gedacht hatte, ich würde sterben. Daraufhin war sie erst recht in schallendes Gelächter ausgebrochen.

»Danke.« Der Kompass schmiegte sich in meine Hand, und ich steckte ihn in meine vordere Tasche.

»Nach Heart sind es vier Tage nach Norden. Sechs bei diesem Wetter. Verlauf dich nicht, denn ich werde dich nicht suchen gehen.« Sie schlug mir die Tür vor der Nase zu und schnitt den warmen Luftstrom von der Heizung ab.

Verborgen vor ihren Blicken streckte ich ihr die Zunge heraus, dann berührte ich die geschnitzte Rose in der Eichentür. Dies war das einzige Zuhause, das ich je gekannt hatte. Nach meiner Geburt hatte Menehem, Lis Geliebter, unser Reich verlassen. Die Demütigung, eine seelenlose Tochter zu haben, war zu groß gewesen, als dass er hätte bleiben können, und Li hatte mir die Schuld gegeben – an allem. Sie hatte sich nur deshalb um mich gekümmert – oder etwas in der Art –, weil der Rat sie dazu gezwungen hatte.

Danach – noch immer verletzt und gekränkt von Menehems Verschwinden – war sie mit mir ins Purpurrosenhaus gezogen, das ebenfalls verlassen worden war. Sein Name stammte aus der Zeit, als Cris dort Rosen züchtete, die niemand außer ihm selbst als blau bezeichnete. Sobald ich alt genug gewesen war, hatte ich Stunden damit verbracht, die Rosen wieder dazu zu bringen, dass sie den ganzen Sommer über blühten. Meine Hände waren immer noch vernarbt von ihren Dornen, aber ich wusste, warum sie sich so gut schützten.

Ein zweites Mal wandte ich mich ab und trottete den Hügel hinunter. In der Stadt würde ich den Rat um Zeit in der großen Bibliothek bitten. Es musste einen Grund dafür geben, dass ich geboren worden war, nachdem fünftausend Jahre lang immer dieselben Seelen wiedergeboren worden waren.

Der Vormittag schritt voran, aber die Kälte ließ kaum nach. Schneeverwehungen säumten die kopfsteingepflasterte Straße, und ich hinterließ Spuren in der weißen Schicht, die sich seit der Nacht neu gebildet hatte. Ab und zu raschelten Streifenhörnchen und Eichhörnchen in den vereisten Zweigen oder huschten die Tannen hinauf, aber meist war es still. Selbst der Elchbulle, der mit der Schnauze im Schnee wühlte, gab keinen Laut von sich. Man hätte meinen können, ich sei der einzige Mensch im Reich.

Ich hätte vor meinen Quindec fortgehen sollen, meinem fünfzehnten Geburtstag und – für normale Menschen – dem Tag, an dem man körperlich erwachsen ist. Normale Menschen verließen ihre Eltern, um diesen Geburtstag mit Freunden zu feiern, aber ich hatte keine Freunde, und ich hatte gedacht, dass ich länger brauchen würde, um die Fähigkeiten zu erlernen, die jeder andere seit Jahrtausenden beherrschte. Es geschah mir recht – warum hatte ich Li auch immer geglaubt, wenn sie mich als dumm bezeichnete?

Diese Chance würde sie nie wieder bekommen. Am Ende der Straße, die vom Haus wegführte, zog ich den Kompass hervor und schlug den Weg Richtung Norden ein.

Die vertrauten Bergwälder im Süden des Reiches waren ungefährlich; Bären und andere große Säugetiere ließen mich in Ruhe, und ich sie ebenfalls. Ich hatte meine Jugend damit verbracht, Muscheln und Mineralien zu sammeln, die nach Jahrhunderten wieder an die Erdoberfläche gelangt waren. In den Büchern stand, dass der Endsee sich vor tausend Jahren in den Regenzeiten bis hierher nach Norden ausgedehnt hatte und dass man hier deswegen heute auf Schatzsuche gehen konnte. Der See wurde so genannt, weil er die südliche Grenze des Reiches bildete.

Ich machte keine Pause, sondern aß im Gehen einige der schrumpeligen Äpfel aus dem Keller und hinterließ eine Spur von Kerngehäusen für den glücklichen Finder. Als mein Hunger gestillt war, zog ich mir den Hemdkragen über die Nase und ließ meinen Atem über Lippen und Wangen streichen. Die Brust und den Hals gewärmt sang ich Unsinn über Freiheit und Natur. Meine Schritte hielten den Takt, und ein Adler stimmte mit seinen Rufen ein.

Ich hatte nie richtigen Musikunterricht gehabt, aber ich hatte einige Bücher darüber aus der Bibliothek unseres Hauses gestohlen und auch ein paarmal Aufnahmen von Dossam, dem meistgefeierten Musiker im Reich. Ich hatte mir seine – manchmal ihre – Lieder gut gemerkt, falls Li meinen Diebstahl entdeckte. Die Schläge war es wert gewesen.

Allmählich sank die trübe Sonne dem Horizont entgegen. Die verschneiten Gipfel zu meiner Rechten wurden bereits schwarz. Seltsam, denn ich ging nach Norden. Die Sonne hätte also links von mir untergehen müssen.

Vielleicht hatte sich die Straße um einen Hügel herumgewunden, und ich hatte es nicht bemerkt. Aber als ich meinen Rucksack auf dem Kopfsteinpflaster abstellte und auf eine Pappel kletterte, um mir etwas Übersicht zu verschaffen, bewahrheitete sich meine Vermutung nicht. Die Straße führte keineswegs in einem Bogen zurück in die entgegengesetzte Richtung. Sondern sie zog sich, soweit ich es in dem Dämmerlicht erkennen konnte, wie eine Schneise geradlinig durch Fichten und Kiefern, direkt am Endsee vorbei.

Also hatte Li mich hereingelegt.

»Ich hasse dich!«, schrie ich, warf den Kompass auf den Boden und kniff die Augen fest zusammen, nicht sicher, auf wen ich wütend sein sollte. Auf Li, die mir einen schlechten Kompass gegeben hatte, oder auf mich selbst, weil ich ihr eine kleine Geste der Freundlichkeit überhaupt zugetraut hatte.

Ich war einen ganzen Tag umsonst gelaufen und würde einen weiteren Tag für den Rückweg benötigen, aber zumindest hatte ich es bemerkt, bevor ich die Grenzen des Reiches überschritten hatte. Das Letzte, was ich brauchte, war eine Begegnung mit einem Kentauren – durchaus möglich so weit im Süden – oder einem der Sylphen, die die Grenzen des Reiches unsicher machten. Für gewöhnlich kamen sie dank der Wärmefallen, die überall im Wald aufgestellt waren, nicht herüber, aber als...