Verändert - Über die Lust Welt zu gestalten

von: Christoph Chorherr

Verlag Kremayr & Scheriau, 2011

ISBN: 9783218008310 , 190 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 16,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Verändert - Über die Lust Welt zu gestalten


 

Lernen – mitten im Leben


Meinen Eltern bin ich für sehr vieles dankbar – auch wenn wir politisch manches unterschiedlich sehen. Unter anderem verdanke ich ihnen meine Leidenschaft für Bücher. Die große Bibliothek meiner Eltern war ein besonders prägendes Erlebnis – sie war ein einziges Abenteuer. Jedes Buch war für mich eine eigene Welt, in die ich eintauchte. Von den Klassikern bis zur Fach- und Unterhaltungsliteratur. Besonders gerne erinnere ich mich an die amerikanischen Politthriller aus den 70er Jahren, die mir letztlich das Volkswirtschaftsstudium schmackhaft machten: Ölpreise, Manipulationen an Börsen, Mord im Wirtschaftsmilieu – das war einfach faszinierend.

Bis heute ist es für mich ein reines Lust-Erlebnis, in einem Buchgeschäft zu schmökern, zu „browsen“, wie man im Internetzeitalter sagen könnte. Vor jedem Urlaub gibt es bei mir das Ritual: Zwei Stunden werden freigeschaufelt, ich gehe in ein Buchgeschäft, suche aus, kaufe ein – und dann gehe ich mit vier, fünf oder zehn Büchern nach Hause. Das Gefühl dabei ist jedes Mal: Lust!

Oder wenn ich zu jemandem in die Wohnung komme, schaue ich mir unweigerlich seine oder ihre Bibliothek an – und es ist für mich wie der Geruch einer guten Küche.

Ein besonderes Element meiner Schulzeit, das mich meine ganze weitere Laufbahn begleitete, ist, dass ich im Schottengymnasium besonders gelernt habe, mich auszudrücken und mit Sprache umzugehen. Uns unterrichtete der wunderbare Pater Heinrich, der später Direktor und Abt wurde. Dieser Pater Heinrich hat dem 14-jährigen Christoph in der 6. Klasse die Lyrik nähergebracht. Goethe, Heine, Rilke, Trakl – ich erinnere mich beispielsweise an eine Schularbeit, bei der wir vier Stunden Zeit hatten, einen Sechszeiler zu analysieren. Herrlich! Für mich persönlich ist auch heute noch der Umgang mit Sprache eine elementare Bildungs-Errungenschaft.

Ich habe später immer wieder gern und viel geschrieben. Für einige Zeitungen – in jüngster Zeit kamen mein Blog, Facebook und Twitter dazu. Mich ausdrücken zu können, hat mir auf meinem Lebensweg viel ermöglicht.

Daher ist es für mich heute noch eines der Top-3-Ziele für eine gute Schule: Ebne den Kindern und Jugendlichen den Weg zum Buch. Vermittle ihnen die Lust am Lesen. Wenn 66 Prozent der Burschen heute beim Pisa-Test sagen, sie nehmen freiwillig kein Buch in die Hand, ist das für mich, als würde man den Stephansdom niederreißen oder die Hainburger Au niederbaggern.

Was Lernen bedeutet


Erzähle es mir – und ich werde es vergessen. Zeige es mir – und ich werde mich erinnern. Lass es mich tun – und ich werde es behalten. (Konfuzius)

Die österreichische Bildungspolitik ist an einem traurigen Tiefpunkt angelangt. Einerseits sind wir mit einem jahrzehntelangen, immer stärkeren Unbehagen gegenüber der allgemeinen Bildungssituation konfrontiert – gleichzeitig verstrickt sich die politische Bildungsdiskussion mehr und mehr in Kompetenzfragen. Sind die Schulen nun Bundes- oder Landessache, wann sind schulautonome Tage, wie lange sollen die Ferien sein, Gesamtschule ja oder nein. Und wenn alle paar Jahre ein neuer, vernichtender Pisa-Test präsentiert wird, schrecken alle kurz hoch, diskutieren heftig, wie viel Lehrpersonal nötig ist und wie viele Stundeneinheiten geschaffen werden sollen – und das war’s dann auch schon wieder.

Aber interessanterweise gibt es so gut wie keine Diskussion über Unterrichtsinhalte und die Art der Vermittlung. Also darüber, was eigentlich zwischen Jugendlichen und Lehrern stattfindet – oder stattfinden sollte.

Was heißt heute eigentlich Lernen? Diese Diskussion wird kaum bis überhaupt nicht geführt. Genauso wenig gibt es eine inhaltliche Diskussion darüber, wie heute, im 21. Jahrhundert, eine allgemeine höhere Bildung aussehen sollte. Wie definieren wir Reife? Was soll man mit dem Pflichtschulabschluss und dann bei der Matura können? Was soll man wissen – gibt es da einen Kanon? Was soll man können, welche Fähigkeiten sollen die Jugendlichen erworben haben? Und wenn wir Bildung als Selbstbildung verstehen: Welche sozialen, kulturellen Kompetenzen soll man erworben haben? Und: Wie weit soll Schule eine Polis sein – ein politisches Element, in dem die Lust an der Demokratie, die Fähigkeit zu argumentieren und zu verhandeln, das Verstehen politischer Vorgänge vermittelt und geübt werden?

In der Schuldiskussion müsste es also in erster Linie um die Frage gehen: Wie lernt man? Beziehungsweise: Wie lernt man lernen? Und nicht: Wie organisiert man Schule? Das ist der falsche Ansatz.

Ich bin überzeugt: Die wirklichen Lernprozesse sind jene, bei denen man selbst etwas getan hat – sei es alleine oder mit jemand anderem, bei denen man etwas erreicht hat oder auch gescheitert ist. An diesem konkreten Tun und in der Reflexion mit anderen – da lernt man wirklich. Wenn die Studierenden acht Wochen in Südafrika bauen, lernen sie ausgesprochen viel: wie man in der Gemeinschaft arbeitet oder wie ein Plan sich in die Praxis umsetzen lässt. Und wenn man analysiert, wie erfolgreiche Schulen funktionieren, dann haben diese eine sehr starke Projektorientierung: Theateraufführungen, Konzerte, Momente, in denen Schülerinnen und Schüler aktiv werden müssen und auch die Notwendigkeit dieses Tuns einsichtig wird.

Früher habe ich Ferienlager organisiert, da wurde auch sehr viel in der Gemeinschaft gelernt und damit soziale Kompetenz vermittelt. Wer geht Holz sammeln? Wenn kein Holz organisiert wird, gibt es kein Feuer, ohne Feuer kann man nicht kochen, ohne Kochen gibt’s nichts zu essen. Da findet ein unmittelbares Erkennen statt: Was ich tue, hat einen Sinn, ebenso, was wir gemeinsam tun – und es ist wichtig, sich aufeinander verlassen zu können.

In der Wiener W@lz, einem Oberstufen-Lernzentrum, das im Jahr 2000 von meiner damaligen Frau Renate Chorherr gegründet wurde, ist der erste Jahrgang zunächst einmal eine Ent-Schulung. Fünf Monate kommen die Jugendlichen erst einmal in das Tun – bei einem Landwirtschaftspraktikum, einem Handwerkspraktikum, einem Straßentheater im Waldviertel. Die Wirklichkeit ist einfach spannend. Oft passiert es, dass sonst gelangweilte Schüler in Südafrika (ein Projekt der 11. Schulstufe) beim Mitarbeiten plötzlich aufgehen und sich selbst und ihre Fähigkeiten entdecken.

Ja, man ist auch als Jugendlicher gerne schöpferisch. Und so radikal es klingt: Die gängige Abtrennung – man baut ein Schulhaus, macht Klassen hinein, stellt vorne einen Lehrer hin,
der erzählt den Schülern und Schülerinnen etwas – das nennt man lernen? Das ist vielleicht Wissens-Vermittlung, aber kein Lernen.

Warum hält man Jugendliche oft bis weit in die Volljährigkeit hinein vom Leben fern? Unsere Schulen sind Lebens-Entfremdungs-Gebäude: Auf dem einen steht Volksschule drauf, auf dem anderen Mittelschule, auf dem nächsten Gymnasium und auf einem anderen steht dann Universität. Und in jedem von ihnen hat man eine Mischung aus Tischen, Stühlen, Zetteln zum Mitschreiben, Büchern und Computern.

Die radikale Abkehr von diesem System in der W@lz war am Anfang aus der Not heraus geboren, weil wir eigentlich keine Schule waren. Wir konnten von Null weg starten, alles neu erfinden, alles hinterfragen, alles anders machen. Wir konnten ohne jede Vorbelastung über die Frage nachdenken: Wie lernt man im ausgehenden 20. Jahrhundert? Wir waren vollkommen frei – jedoch mussten die W@lzisten regelmäßig Externisten-Prüfungen ablegen. Heute sind wir eine Schule – und trotzdem haben wir weiter ausschließlich Externistenprüfungen. Das System hat sich sehr bewährt, weil es eine vollkommen andere Rolle der Lehrerin ermöglicht. Es funktioniert dann nicht mehr nach dem Prinzip: Ich frag’ dich was – und wenn du nicht die richtige Antwort weißt, fliegst du durch. Was für ein Beziehungs-Killer! Der andere Zugang ist, dass der Lehrer zum Partner des lernenden Schülers wird und ihm hilft, bei der Prüfung durchzukommen. Da kann man dann sagen: Treffen wir uns noch einmal am Sonntag um 16 Uhr, schauen wir uns das noch einmal gemeinsam an. Und die Lehrerin tritt dann gemeinsam mit ihren Schülern bei einer ziemlich harten Prüfung an.

So ist der Lehrer wie im Sport ein Coach und stellt dann auch regelmäßig fest, wer noch einen speziellen Förderbedarf hat. Es ist ja vollkommen absurd, dass die Schulpflicht erfüllt wird und dann das verheerende Urteil folgt: 20 Prozent der Schüler können nicht sinnerfassend lesen. Das bedeutet natürlich Alarmstufe Rot. Es müsste schon viel früher festgestellt und überlegt werden, wie man da gegensteuern kann. Das ist eine Bringschuld der Schule und der Öffentlichen Hand. Sonst nimmt man in Kauf, dass diese Jugendlichen im weiteren Leben ziemlich schlechte Karten haben.

Es gibt Mindestziele, die erreicht werden müssen. Aber innerhalb dieses Rahmens, der abgeprüft wird, sollte die Schule der Zukunft völlige Freiheit bei der Wahl der Methoden, der Gewichtung der Inhalte, der Zeittaktung, der Verschränkung von Fächern, des Inner- und Außerschulischen und der Feriengestaltung haben.

Er-fahren


Warum behandelt man in der Schule zum Beispiel das Thema Fremdenverkehr nicht, indem die Schüler einige Wochen lang etwa in Ischgl kellnern und danach einen Bericht darüber schreiben? Dabei würden sie sicher eine Menge lernen, vielleicht auch brutal lernen müssen. Ein anderes Beispiel: Auf einem...