Die Form des Wassers - Commissario Montalbano löst seinen ersten Fall

von: Andrea Camilleri

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2010

ISBN: 9783838703275 , 256 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Die Form des Wassers - Commissario Montalbano löst seinen ersten Fall


 

Eins


Noch drang kein Schimmer heraufdämmernden Morgens in den Hof der Firma »Splendor«, die für die Müllabfuhr von Vigàta zuständig war. Eine tiefhängende, dichte Wolkendecke überzog lückenlos den Himmel, als hätte man von einem Dachgesims zum anderen eine graue Plane gespannt. Kein Blatt regte sich. Der Schirokko wollte nicht aus seinem bleiernen Schlaf erwachen. Schon das geringste Wort strengte an. Bevor der Fuhrmeister die Arbeit einteilte, gab er bekannt, daß an diesem und an allen weiteren Tagen Peppe Schèmmari und Caluzzo Brucculeri entschuldigt fehlen würden. Ihre Abwesenheit war in der Tat entschuldigt: Die beiden waren am Abend zuvor bei einem bewaffneten Überfall auf einen Supermarkt verhaftet worden. Die verwaiste Stelle, die Peppe und Caluzzo hinterließen, wies der Fuhrmeister Pino Catalano und Saro Montaperto zu, zwei jungen Landvermessern, die als solche, wie es sich gehörte, arbeitslos waren, dank der herzigen Fürsprache des Abgeordneten Cusumano aber als Hilfsumweltpfleger eingestellt worden waren. Dessen Wahlkampagne hatten die beiden mit Leib und Seele unterstützt (und zwar genau in dieser Reihenfolge, da der Leib weitaus mehr tat, als der Seele lieb war). Ihnen wurde das als Mànnara bezeichnete Gebiet zugeteilt, so genannt, weil dort vor undenklichen Zeiten angeblich ein Hirte seine Ziegen gehütet hatte. Die Mànnara war ein breiter Streifen mediterraner Macchia am Rande des Städtchens, zwischen dem Meeresstrand und den baulichen Überresten einer großen Chemiefabrik, die der allgegenwärtige Abgeordnete Cusumano eingeweiht hatte, als ein neuer, frischer Wind wehte, der eine glänzende und vielversprechende Zukunft zu verheißen schien. Aber jener Wind war schnell zu einer leichten Brise abgeflaut und schließlich gänzlich abgeklungen: Allerdings hatte er größere Schäden angerichtet als ein Tornado, indem er ein Heer von Kurzarbeitern und Arbeitslosen hinterließ. Um zu verhindern, daß die im Ort umherstreichenden Scharen von Schwarzen und weniger Schwarzen, von Senegalesen und Algeriern, Tunesiern und Libyern sich in der Fabrik einnisteten, hatte man rundherum eine hohe Mauer gezogen, hinter der die von Unwettern, Meeressalz und allgemeiner Vernachlässigung angefressenen Bauten weiterhin emporragten und dabei mehr und mehr aussahen wie die Architektur eines Gaudí im Drogenrausch.

Die Mànnara hatte bis vor kurzer Zeit bei allen, die sich vormals schlicht und einfach als Müllmänner bezeichneten, als ausgesprochen ruhiger Posten gegolten: Inmitten von Papierfetzen, Plastiktüten, Bier- und Coca-Cola-Dosen, unzureichend zugedeckter oder einfach im Wind stehengelassener Scheißhaufen tauchte hin und wieder ein verirrtes Präservativ auf. Dazu konnte sich dann einer, wenn er Lust und Phantasie hatte, seine Gedanken machen und sich das entsprechende Schäferstündchen in allen Einzelheiten ausmalen. Seit einem Jahr jedoch lagen hier die Präservative herum wie der Sand am Meer. Angefangen hatte es, als ein Minister mit einem finsteren und verschlossenen Gesicht, das Lombroso alle Ehre gemacht hätte, aus Überlegungen heraus, die noch finsterer und verschlossener waren als sein Gesicht, eine Idee gebar, die ihm als die Lösung der Probleme der öffentlichen Ordnung im Süden erschien. Diese Idee teilte er seinem Kollegen mit, der der Armee angehörte und aussah, als wäre er einer Illustration aus Carlo Collodis Pinocchio entsprungen. Schließlich und endlich entschieden die beiden, zur »Kontrolle des Territoriums« einige Militäreinheiten nach Sizilien zu entsenden. Diese sollten als Unterstützung dienen für Carabinieri, Polizisten, Informationsdienste, Sonderkommandos, für Steuerfahnder, Straßenpolizei, Bahnpolizei, Hafenpolizei, für Angehörige der Sonderstaatsanwaltschaft, Antimafia- und Antiterrorgruppen, für das Drogen- und Raubdezernat, das Anti-Entführungskommando und für weitere Organe, die sich ganz anderen Tätigkeiten verschrieben hatten. Als Folge dieses großartigen Einfalls der beiden herausragenden Staatsmänner mußten sich Söhne piemontesischer Mütter, flaumbärtige Rekruten aus dem Friaul, die sich tags zuvor noch an der frischen und rauhen Luft ihrer Berge gelabt hatten, über Nacht an klimatische Bedingungen gewöhnen, in denen es sich nur mühsam atmete. Sie richteten sich in ihren prov isorischen Unterkünften ein, in Ortschaften, die, wenn überhaupt, einen Meter über dem Meeresspiegel lagen, inmitten von Leuten, die einen unverständlichen Dialekt sprachen, der mehr aus Schweigen denn aus Worten bestand, mehr aus einem schwer entzifferbaren Runzeln der Augenbrauen und einer unmerklichen Kräuselung der Gesichtsfalten. Dank ihrer Jugend paßten die Soldaten sich an, so gut sie eben konnten. Unterstützung bekamen sie im wesentlichen von den Einwohnern Vigàtas selbst, die von der Hilflosigkeit und Verwirrtheit in den Gesichtern der fremden Jünglinge gerührt waren. Daß ihr unfreiwilliges Exil jedoch ein wenig erträglich wurde, dafür sorgte Gegè Gulotta, ein Mann von schöpferischem Geist, der bis dahin seine natürliche Begabung zum Kuppler hatte unterdrücken müssen und sich als kleiner Dealer weicher Drogen verdingt hatte. Nachdem er über ebenso krumme wie amtliche Wege von der bevorstehenden Ankunft der Soldaten erfahren hatte, durchzuckte Gegè ein Geistesblitz.

Um seine geniale Idee in die Tat umzusetzen, empfahl er sich umgehend dem Wohlwollen des Zuständigen, um die unzähligen und komplizierten, aber unumgänglichen Genehmigungen zu erhalten. Dem Zuständigen, das heißt demjenigen, der das Gebiet tatsächlich kontrollierte und nicht einmal im Traum daran dachte, Bewilligungen auf Stempelpapier zu erteilen. Kurz, Gegè konnte an der Mànnara seinen auf frisches Fleisch und eine reiche Auswahl an weichen Drogen spezialisierten Markt eröffnen. Das Frischfleisch kam zum größten Teil aus osteuropäischen Ländern, nun endlich vom kommunistischen Joch befreit, das, wie jeder weiß, dem menschlichen Wesen jegliche Würde absprach, und zwischen den Sträuchern und am Sandstrand der Mànnara strahlte die zurückeroberte Würde in neuem Glanze. Allerdings fehlte es auch nicht an Evas aus der Dritten Welt, an Transvestiten, Transsexuellen, neapolitanischen Schwuchteln und brasilianischen Viados – für jeden Geschmack war etwas dabei, eine einzige Pracht, ein riesiges Fest. Und der Handel blühte, zur großen Befriedigung der Soldaten, Gegès und desjenigen, der sich mit Gegè über die Formalitäten geeinigt hatte und als Gegenleistung die gerechte prozentuale Beteiligung am Gewinn forderte.

Pino und Saro machten sich auf den Weg zu ihrem Arbeitsplatz. Jeder schob seinen Karren vor sich her. Bis zur Mànnara brauchte man eine knappe halbe Stunde, wenn man so langsam ging wie die beiden. Die erste Viertelstunde verbrachten sie stumm. Schon waren sie vollkommen verschwitzt und verklebt. Dann brach Saro das Schweigen.

»Dieser Pecorilla ist ein Drecksack«, verkündete er.

»Ein elender Drecksack«, bekräftigte Pino.

Pecorilla war der Fuhrmeister, der für die Zuteilung der zu reinigenden Bezirke zuständig war und unübersehbar einen tiefen Haß gegen jeden nährte, der studiert hatte. Ihm selbst hatte man erst mit vierzig Jahren seinen Schulabschluß bescheinigt, und das auch nur, weil Cusumano mit dem Lehrer ein ernstes Wort gesprochen hatte. Deswegen drehte er es so, daß die erniedrigendste und schwerste Arbeit immer auf den Schultern der drei Diplomierten lastete, die er in seiner Truppe hatte. An diesem Morgen hatte er Ciccu Loreto den Abschnitt der Mole zugewiesen, an dem das Postschiff zur Insel Lampedusa ablegte. Das hieß im Klartext, daß Ciccu, seines Zeichens Buchhalter, mit Zentnern von Abfällen würde rechnen müssen, die lärmende Touristenschwärme, getrennt durch verschiedene Sprachen, aber vereint in der totalen Verachtung persönlicher und öffentlicher Sauberkeit, in Erwartung der Einschiffung am Samstag und Sonntag zurückgelassen hatten. Und Pino und Saro würden an der Mànnara das ganze Durcheinander vorfinden, das die Soldaten während ihres zweitägigen Ausgangs veranstaltet hatten.

Als sie an die Kreuzung der Via Lincoln mit der Viale Kennedy kamen (in Vigàta gibt es auch einen Eisenhower-Hof und eine Roosevelt-Gasse), blieb Saro stehen. »Ich geh’ schnell auf einen Sprung nach Hause, um zu sehen, wie’s dem Kleinen geht«, sagte er zu seinem Freund. »Wart auf mich, dauert nur eine Minute.«

Ohne Pinos Antwort abzuwarten, schlüpfte er durch die Haustür in einen jener zwergenhaften Wolkenkratzer, die, allerhöchstens zwölf Stockwerke hoch, zur gleichen Zeit wie die Chemiefabrik entstanden waren und ebenso wie diese alsbald völlig heruntergekommen, wenn nicht gar verlassen dastanden. Wer vom Meer her nach Vigàta kam, dem präsentierte sich das Städtchen wie eine Parodie von Manhattan im verkleinerten Maßstab. Der kleine Nenè war wach. Er schlief, wenn überhaupt, nur zwei Stunden pro Nacht, die restliche Zeit lag er mit weitaufgerissenen Augen in seinem Bettchen, ohne auch nur ein einziges Mal zu weinen. Aber wer hätte je von Babies gehört, die niemals schreien? Tag auf Tag verzehrte ihn eine Krankheit, von der man weder die Ursache noch die Behandlungsmethode kannte. Die Ärzte von Vigàta wußten sich keinen Rat, man hätte den Kleinen woanders hinbringen müssen, zu irgendeinem berühmten Spezialisten, aber es fehlte an Geld. Kaum kreuzte sein Blick den des...