Selbst und Individuation - Facetten von Subjektivität und Intersubjektivität in der Psychoanalyse

von: Roman Lesmeister

Brandes & Apsel Verlag, 2012

ISBN: 9783860999639 , 312 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: DRM

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Preis: 28,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Selbst und Individuation - Facetten von Subjektivität und Intersubjektivität in der Psychoanalyse


 

Einleitung
Der Seiltänzer
Seit meiner Jugendzeit begleitet mich eine Grafik Paul Klees. Es ist der Seiltänzer, eine Farblithografie aus dem Jahre 1923 (das Bild ist auf dem Cover dieses Buches zu finden). Das Bild zierte über viele Jahre Wände aufeinander folgender Behausungen, bis es bei einem Umzug verschwand. Trotzdem war es irgendwie immer "da". Als ich vor längerer Zeit begann, mich eingehend mit den Themen von Selbst und Individuation zu befassen, tauchte es wieder auf. Dies war der Anlass für mich, auf Klees Darstellung einen nochmals neuen Blick zu werfen.
Im Zentrum des Blattes erblickt man eine Konstruktion aus überwiegend geraden Linien, die den Eindruck eines Gerüstes abgeben, wie man es aus dem Zirkus oder von ähnlichen Gelegenheiten artistischer Darbietungen her kennt. Das Besondere daran ist, dass diese Konstruktion keine feste Verankerung am Boden aufweist, sie schwebt förmlich frei in der Luft und sieht im Übrigen nicht sonderlich vertrauenserweckend aus. Von irgendeiner Stelle aus führt so etwas wie eine Strickleiter nach oben zum Seil, und auf dem bewegt sich ein ebenfalls in streng geometrischer Linienführung gefertigtes Männchen, der Seiltänzer, der sich mit Hilfe einer langen Balancierstange im Gleichgewicht hält. Diese Technik, die äußerstes Geschick erfordert, ist auch das Einzige, worauf er sich verlassen kann. Denn bei einem etwaigen Sturz nach unten wäre da kein Netz, gar nichts, was ihn auffangen könnte. Da oben hilft ihm keiner. Sicherheit über der Bodenlosigkeit findet er nur, indem er Schritt für Schritt seine Lage neu ausbalanciert, indem er fortlaufend auf feinste Schwankungen und Differenzen im Gefüge der Kräftewirkungen reagiert. Er kann sich nur halten, indem er ständig seinen Schwerpunkt neu ermittelt.
Wenn man sich nun den Akrobaten genauer anschaut, stellt man fest, dass er um seine Lage und die zu vollbringende Aufgabe nicht besonders besorgt scheint. In Haltung und Gestus bemerkt man nichts Ängstliches oder Angestrengtes. Im Gegenteil, der Seiltänzer vermittelt eine Leichtigkeit, ja Gewitztheit und Keckheit, die man angesichts der insgesamt recht instabilen Gesamtsituation nicht ohne Weiteres erwarten würde. Selbst das in bedrohliche Schieflage gerutschte monumentale Kreuz im Hintergrund der Komposition scheint ihn nicht sonderlich zu beeindrucken. Dem sicheren Vertrauen darauf, die Mittel zur Herstellung eines ausreichend stabilen Zustandes jederzeit in den eigenen Händen zu haben, vermag offenbar auch die Lockerung der großen Seinskoordinaten nichts anzuhaben. Man kann vielleicht nachvollziehen, weshalb es mir in den Sinn gekommen ist, den Seiltänzer an seinem prekären Ort, den Seiltänzer im permanenten Wagnis seines Unterfangens, den Seiltänzer aber auch in der gelassenen Heiterkeit und Souveränität seines Voranschreitens als Bild des auf sich gestellten Subjektes in einer Welt ohne sichere Fundamente zu verstehen.
Das Selbst?
Im vorliegenden Buch werden Facetten des Selbst und der Selbstwerdung (Individuation) untersucht. Wer so etwas tut, kommt nicht an der Frage vorbei, was er sich unter einem Selbst eigentlich vorstellt. Eine herausragende Besonderheit der Selbstthematik besteht nun aber darin, dass man mit dieser Frage mitten in den zu untersuchenden Problemen angelangt ist. Auch wenn man sich auf das engere Spektrum der psychologischen und namentlich psychoanalytischen Theorien des Selbst und seiner Entwicklung beschränkt, gibt es heute niemanden mehr, der sich eine Definition des Selbst zutrauen würde, die Aussicht auf allgemein akzeptierte Gültigkeit hätte. Die vielfältigen Weisen, vom Selbst zu sprechen, scheinen vor allem die explizite oder häufiger implizite Philosophie der Sprecher widerzuspiegeln. Und es scheint kein anderes psychologisches Phänomen zu geben, das nachhaltiger die Philosophie seiner Interpreten wiederspiegelt als das Selbst. Man kann diese Philosophien des Selbst herauspräparieren und feststellen, dass sie teils in die Metaphysik fernster Kulturepochen zurückreichen, teils Produkte modernsten nachmetaphysischen und erfahrungswissenschaftlichen Denkens darstellen. Dabei entsteht zuweilen der Eindruck, als erschiene das Selbst um so wesenhafter, je weiter man dessen Wurzeln in der älteren geistesgeschichtlichen Tradition verortet, und umso wesenloser, je mehr man es aus den Denkgewohnheiten der Gegenwart herleitet. Die Wesenhaftigkeit der älteren Vorstellungen vom Selbst wird heute gerne als "substanzialistisch" oder "essenzialistisch" hingestellt, was im Wesentlichen heißen soll, dass es sich nicht mehr lohne, weiter in dieser Richtung nachzudenken. Die moderne Wesenlosigkeit lässt sich positiv in der Weise übersetzen, dass man sagt, beim Selbst handle es sich um ein mentales Konstrukt, eine komplexe Phantasie, ein Phänomen der Sprache oder ein Narrativ. Vielleicht aber auch nur um eine Fiktion, eine Selbsttäuschung im Dienste gewisser Bedürfnisse nach Ordnung, Einheit, Kontinuität usw., auf deren Befriedigung wir nicht verzichten zu können glauben. "Dass es kein Selbst gibt, wissen wir", sagt Cioran, "aus Instinkt neigen wir zum Selbst" (Cioran, 2002, S. 97). Dass es kein Selbst gibt, hat aber auch Buddha in seiner Lehre vom anatman bereits behauptet. Allerdings hat er etwas andere Konsequenzen aus dieser Ansicht gezogen, als Cioran dies tut.
Beim Selbst denkt man gewöhnlich an etwas, das das gesamte psychische Sein eines Individuums umfasst. Heinz Hartmann, der bedeutende Mitbegründer der psychoanalytischen Ich-Psychologie, hat deshalb vom Selbst als dem Ganzen der Person gesprochen. Damit drückt er sich ähnlich aus wie vor ihm bereits C. G. Jung, für den das Selbst ein Name für die "Einheit und Ganzheit der Gesamtpersönlichkeit" ist (Jung, 1921, GW 6, § 891). Es macht vergleichsweise geringe Mühe, sich dieser Sichtweise anzuschließen. Die Mühe beginnt aber sehr bald, wenn es darum geht, dieser Ganzheit in irgendeiner Weise habhaft werden zu wollen. Wie soll man das Ganze erkennen, begreifen, darstellen - begrifflich, diskursiv oder mit anderen Mitteln? Es geht zunächst einmal nicht, ohne das Ganze dabei wieder zu einem singulären Teil, einem Gegenstand zu machen. Damit ist man auf dem Wege zum Selbst nach vielversprechendem Beginn schon wieder am Ende angekommen, es sei denn, man entscheidet sich, von dieser Grenze aus metaphysisches oder wenigstens transzendentales Terrain zu betreten - was Jung beispielsweise getan hat, was aber heute längst nicht mehr jedermanns Sache ist. Mit einer bestimmen philosophischen Neigung ausgestattet, wäre es durchaus möglich, vom Ganzen der Person so zu sprechen, wie andere, Karl Jaspers etwa, vom Ganzen des Seins gesprochen haben, vom Umgreifenden, das sich in Chiffren ausspricht (Jaspers, 1966, S. 31). Wenn es eine einhellige Meinung unter den modernen Selbsttheoretikern gibt, dann die, dass das Selbst als Ganzes nicht fassbar, sondern nur anhand seiner Manifestationen, wozu insbesondere die pathologischen gehören, in seinem Vorhandensein zu erschließen sei. Das Selbst also kein empirisches Phänomen, vielmehr ein noumenon in der Sprache Kants?
Weil jeder Versuch, das Selbst mittels objektivierender Erkenntnismittel zu bestimmen, es sozusagen psychologisch zu vermessen, schon im Ansatz als gescheitert gelten muss, sind Heinz Kohut, der Begründer der psychoanalytischen Selbstpsychologie, und seine Nachfolger darauf gekommen, sich der Wirklichkeit des Selbst mit Hilfe rein subjektiver Parameter anzunähern. Das phänomenale Selbst, das erlebte oder empathisch eingefühlte Selbst, das Selbst der Selbstempfindung (vgl. Stern, 2003) trat in den Mittelpunkt des therapeutischen und Forschungsinteresses. Was dem Wechsel zur Modalität des Fühlens und Empfindens zugrunde liegt, ist unter anderem die Überzeugung, die Ungegenständlichkeit des Gefühls passe besser zur Ungegenständlichkeit des geheimnisvollen Wesens namens Selbst. Der Phänomenologe Hermann Schmitz hat indessen gezeigt, dass auch Gefühle die Qualität von Objekten haben, ausgebreiteter, diffuser und "randloser" Objekte, aber eben Objekte unseres Bewusstseins (vgl. Soentgen, 1998). Was gibt uns die Sicherheit, Gefühl und Empfindung eigneten sich besser zur Repräsentation des Ganzen des Selbst als Begriffe und begriffliche Konzepte? Wahrscheinlich ist es ein romantisierender Irrtum zu glauben, das Ganze könne man zwar nicht denken und vorstellen, dafür aber fühlen und erleben.
Andere - und damit meine ich vor allem die sich auf direkte Säuglingsbeobachtung stützenden psychoanalytischen Forscher - haben sich wieder mehr mit dem Objektivismus angefreundet und sehen im Selbst das Gesamtsystem organisierender und regulativer Funktionen der Psyche. Dass zum Selbst adaptive Funktionen gehören, die dessen Lebens- und Entwicklungsprozesse steuern, galt C. G. Jung schon als bekannte Tatsache, die als solche einen wichtigen Platz in seiner Theorie des Selbst eingenommen hat. Möglicherweise beschert uns der Systembegriff eine Ahnung vom hochkomplexen funktionalen Gefüge des Selbst. Aber wir sind heute in der Lage, namen- und gesichtslose biotechnische Systeme herzustellen, die ebenfalls über hochkomplexe regulative Funktionen verfügen. Wovon uns der Systembegriff also sicher keine Ahnung beschert, ist die Personalität des Selbst. Wenn wir vom Selbst sprechen, meinen wir nämlich nicht irgendein Ganzes, sondern das Ganze dieser einen bestimmten Person.
In den Analysen der Zeitverhältnisse, der psychologischen wie der sozialen, herrschen seit langem Begriffe vor, die das Unbestimmte, Vieldeutige, Gebrochene und Veränderliche an den Phänomenen betonen. Wendet man diese Konzepte auf das Selbst an - und man muss es tun -, dann werden dessen Konturen immer schemenhafter, wie in weite Ferne gerückt. Trotz allen professionellen Forschungseifers erscheint das Selbst heute undeutlicher und entrückter denn je. Und doch: Wenn wir einen Menschen anschauen, meinen wir dann nicht, ihn in seinem Selbst vor uns zu haben? Das mag daran liegen, dass, wie Aristoteles schon lehrte, das Selbst, die Individualität eines Menschen, sich vor allem in seiner dreidimensionalen Leiblichkeit ausdrückt. Unter normalen Umständen verwechsle ich einen Menschen nicht mit einem anderen (was umgekehrt natürlich auch für mich selbst gilt). Ich erkenne ihn - im Ganzen - an seiner leiblichen Erscheinung. Auch dabei ist nicht auszuschließen, dass Einbildungen und Gewohnheiten mit im Spiel sind, dass ich also etwas wahrnehme, was nicht im buchstäblichen Sinne "da" ist. Aber das ändert nichts daran, dass im Bild der Leiblichkeit das Selbst auf unmittelbare Weise präsent ist.
So ergibt sich als paradoxes Resultat: Das Selbst als Ganzes ist das Entzogene und Unerkennbare, und es ist zugleich das Anwesende und im unmittelbaren Gewahrsein Gegebene. Ich spreche daher vom Selbst als einer unfassbaren Präsenz.
Der Begriff der Individuation, der in den nachfolgenden Untersuchungen eine zentrale Rolle spielt, weicht von der engeren Bedeutung, die ihm die psychoanalytische Entwicklungslehre verliehen hat, in einer Richtung ab, auf die hier eingangs hingewiesen werden soll. Er setzt eine gewisse Vertrautheit mit der diesbezüglichen Verständnisweise C. G. Jungs voraus. Danach meint Individuation die nicht nur auf die frühe Kindheitsentwicklung begrenzte, sondern lebenslange psychische Dynamik, die darauf hinarbeitet, ein individuelles Selbst zu sein oder anders ausgedrückt: das Selbst zu sein, das ich bin. Man sieht sehr schnell, dass sich alle Unklarheiten und Rätsel, die dem Selbstbegriff anhaften, zwangsläufig auf den der Individuation übertragen. Von der Individuation können wir nur so viel sagen, wie wir vom Selbst sagen können. Das Paradoxon der unfassbaren Präsenz wiederholt sich, wie sich zeigen wird, als Paradoxon eines Werdens, das um etwas kreist, was in seiner Wirklichkeit entzogen bleibt.
Dieses Buch
erhebt nicht den Anspruch, einen Überblick über die psychologischen Problemstellungen des Selbst und seiner Entwicklung zu liefern. Nach einer Anzahl ausgewählter Perspektiven wird der Frage nachgegangen, was es unter gegenwärtigen Umständen bedeuten kann, ein Selbst zu sein oder zu werden. In die Abfassung des Textes sind die Erfahrungen aus zwanzigjähriger psychoanalytisch-psychotherapeutischer Tätigkeit und Lehre eingeflossen. Trotz immer wieder hergestellter Bezüge zur therapeutischen Praxis wird der Leser jedoch keine ausführliche klinische Kasuistik antreffen. Die Patienten, denen ich viele Einsichten verdanke, sind persönlich nicht zu Gast. Wo Veranschaulichungen sinnvoll oder notwendig waren, habe ich mich dafür entschieden, auf den reichhaltigen psychologischen Fundus der meist zeitgenössischen Literatur zurückzugreifen. Ein deutlicher Schwerpunkt der theoretischen Orientierung, aus der die folgenden Betrachtungen hervorgehen, liegt in der Analytischen Psychologie C. G. Jungs, die mehr zum Verständnis moderner Subjektivität beigetragen hat, als vielen bekannt ist (vgl. Hauke, 2000). Bleibt noch zu bemerken, dass die einzelnen Kapitel des Buches, obgleich inhaltlich eng miteinander verflochten, auch unabhängig voneinander gelesen werden können.