Schweiz schreiben - Zu Konstruktion und Dekonstruktion des Mythos Schweiz in der Gegenwartsliteratur

von: Jürgen Barkhoff, Valerie Heffernan

Walter de Gruyter GmbH & Co.KG, 2010

ISBN: 9783484970526 , 330 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: DRM

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Preis: 114,95 EUR

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Schweiz schreiben - Zu Konstruktion und Dekonstruktion des Mythos Schweiz in der Gegenwartsliteratur


 

Peter Utz

Der Kitt der Katastrophen (S. 65-66)

Das, was die Schweiz verbindet, stemmt sie so hoch hinauf wie möglich: die Alpen. Für die Schweiz sind sie nicht nur das ästhetisch ›Erhabene‹, das die Aufklärung in den Alpen erkennen wollte, sondern die konkrete Erhebung zu einem gemeinsamen Mythos, zu einem Mythos der Gemeinsamkeit. Im archaisierenden Blick auf die Alpen kann sich die Schweiz als moderne Nation konstituieren, denn zu ihnen kann man von allen Seiten aufblicken. Doch in den Katastrophen geraten die Alpen nicht selten ins Rutschen. Dies schädigt ihre Erhabenheit jedoch nicht. Im Gegenteil: rutschende Berghänge, Lawinen und vom Berg stürzende Wasserströme schweißen eine Nation, die sich auf die Alpen als ihr topographisches Leitmassiv fixiert hat, desto enger zusammen. Je mehr Felsbrocken, Schneemassen oder Wasserfluten von den Bergen stürzen, desto mehr steigt das Selbstbewusstsein der Schweiz.

Dieser Effekt scheint naturgegeben, bis heute. Doch ›Natur‹-Katastrophen werden zu solchen immer durch ihre Interpretation in einem kulturellen Rahmen. Max Frisch bringt dies in seinem Holozän auf den lapidaren Befund: »Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt; die Natur kennt keine Katastrophen.« Naturkatastrophen sind Kulturkatastrophen. Erst als eine ›Erzählung‹, welche Vorgeschichte und Verlauf inszeniert und das ›Ereignis‹ als radikalen Bruch in der Kontinuität bestimmt, wird die Katastrophe zur Katastrophe. Deshalb gehört zu ihr die mediale Vermittlung, vom Flugblatt der frühen Neuzeit bis zum Katastrophenfilm Hollywoods. Dabei bilden sich tragende Bildmuster heraus, deren wirkungsmächtigstes für die christlich-abendländische Kultur die Bibel mit Schöpfung, Sintflut und Apokalypse setzt.

Solche universellen Muster differenzieren sich kulturell aus, werden national und lokal perspektiviert. Sie erhalten, mit Peter von Matt zu sprechen, »einheimische Bedeutung«, und sie werden, wie von Michael Böhler beschrieben, im lokalen Kontext ›re-embedded‹. Im Zeitalter der sich ausbildenden Nationalstaaten konfiguriert sich in ihnen das, was wir heute höchstens in Anführungszeichen als ›nationale‹ Kultur verstehen wollen. Der Westschweizer Schriftsteller Gonzaque de Reynold beispielsweise, Wortführer des Mouvement Hélvétiste, erzählt in seinen Contes et légendes de la Suisse héroïque, wie die Bürger der Stadt Solothurn der Schöpfung und der Sintflut von ihren sicheren Stadtmauern aus zuschauen – das Jahr der Erstpublikation ist bezeichnenderweise das Jahr desKriegsausbruchs 1914. Literarische Katastrophenerzählungen aus der Schweiz müssen deshalb zumindest für die letzten zweihundert Jahre in den Rastern einer ›nationalen‹ Literaturgeschichte gelesen werden, auch wenn man in ihnen nicht deren affirmative Bestätigung sucht. Denn die Literatur aus der Schweiz leistet einen Beitrag zur Herausbildung einer nationalen Katastrophenkultur, selbst wenn sie dazu ihre Fragezeichen setzt. Mit dieser These verbinde ich jedoch die größere Frage, inwieweit es noch sinnvoll und sogar notwendig ist, eine historische und thematische Konstellation von literarischen Texten an einem nationalgeschichtlich geprägten Raster auszurichten, auch wenn man dieses historisch relativiert und ihm ideologisch gründlich misstraut.

Historisch konstellieren kann ich dabei in der gegebenen Kürze nur einige bekanntere Autoren und Werke der Literatur aus der Schweiz der letzten zweihundert Jahre. Angeleitet wird diese Konstellation durch eine These des Berner Klimahistorikers Christian Pfister, der zeigt, wie die moderne Schweiz seit der Helvetik in der Bewältigung von Katastrophenereignissen den inneren Zusammenhalt übt und ausbildet. Eine eigentliche schweizerische »Katastrophenkultur« entsteht, mit eigenen Institutionen und Ritualen.