Der Effekt - Roman

von: John Birmingham

Heyne, 2009

ISBN: 9783641037604 , 752 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 8,99 EUR

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Der Effekt - Roman


 

01

Krankenhaus Pitié-Salpêtrière, Paris


Die Killerin erwachte, neben ihrem Bett standen fremde Personen. Eine intravenöse Injektion leitete Tröpfchen einer klaren Flüssigkeit durch eine lange dicke Nadel in ihren rechten Handrücken. Die Nadel war mit medizinischem Klebeband fixiert, das auf den feinen blonden Härchen auf ihrer Haut klebte. Die Fremden – allesamt Frauen – beugten sich über sie. Ganz offensichtlich machten sie sich große Sorgen um sie. Anstatt ihre Blicke zu erwidern, schaute sie auf ihre Hände, die auf einer dünnen braunen Decke lagen. Sie wirkten sehr kräftig, beinahe männlich. Sie drehte sie um und schaute sie sich genau an. Die Nägel waren kurzgeschnitten, die Knöchel hatten Schwielen aus Hornhaut, ebenso ihre Handflächen und die Seiten. Je mehr sie sich das alles ansah, desto unruhiger wurde sie. Genau wie die Frauen, die sich um sie herum versammelt hatten, waren ihr diese Hände völlig fremd. Sie hatte keine Ahnung, wer sie überhaupt war.
»Cathy? Wie geht es Ihnen?«
»Schwester!«, rief jemand.
Die drei fremden Frauen traten etwas näher an ihr Bett. Es machte sie nervös, aber allem Anschein nach wollten sie nur, dass es ihr gutging.
»Doktor. Sie ist aufgewacht«, sagte eine von ihnen auf Französisch.
Sanfte Hände drückten sie in die Kissen zurück, streichelten sie, als sei sie ein Kind, das einen schlimmen Alptraum hatte. Cathy? Das war doch nicht ihr richtiger Name. Sie versuchte ruhig zu bleiben, auch wenn es ihr unangenehm war, dass diese Frauen sie berührten. Sie sahen alle ziemlich schräg aus, wie Leute, mit denen sie lieber nichts zu tun haben wollte. In diesem Augenblick fiel es ihr wieder ein: Sie hatte mit diesen Leuten ja auch nichts zu tun.
Sie hatte einen Auftrag. Und ihr Name war nicht Cathy, sondern Caitlin.
Die Frauen trugen billige, dünne Kleider, die für eine warme Umgebung gedacht waren. Caitlin Monroe ließ sich zurück aufs Kissen sinken, um sich von dem aufkommenden Schwindelgefühl zu erholen. Sie lag in einem Krankenhausbett, das trotz des ärmlichen Aussehens ihrer »Freundinnen« so luxuriös ausgestattet war wie das Zimmer eines Privatpatienten. Die Jüngste trug eine braune Wildlederjacke, mit Fransen an den Ärmeln, auf der bunte Protest-Buttons prangten. Eine weiße Taube, ein Regenbogen. Dazu passende Slogans: »Pass auf, Halliburton!«, »Wen würde Jesus zerbomben?« und »Widerstand ist Pflicht«.
Caitlin trank einen Schluck Wasser aus der Flasche, die neben dem Bett stand.
»Entschuldigung«, krächzte sie. »Was ist denn mit mir passiert?«
Eine ältere Rothaarige in einer ausgeleierten, selbst gestrickten Jacke über einem weißen T-Shirt legte eine Hand auf ihr Bein. Celia. »Tante« Celia wurde sie genannt, obwohl sie mit niemandem hier verwandt war. Tante Celia trug dieses seltsame Outfit, damit man die Botschaft auf ihrem T-Shirt gut lesen konnte: »Wer sich nicht empört, hat nicht aufgepasst«.
»Doktor!«, rief die andere ältere Frau, die jetzt zur Tür gegangen war.
Maggie. Eine Amerikanerin, wie Caitlin. Aber da hörten die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Maggie, die Amerikanerin, war klein und untersetzt und fast fünfzig, wohingegen Caitlin groß, athletisch und jung war.
Sie langte unter ihre Decke und fand die Fernbedienung aus Plastik, die zum Bett gehörte.
»Versuch’s mal hiermit«, schlug sie vor und reichte sie der hübschen jungen Französin mit den rabenschwarzen Haaren, von der sie wusste, dass sie Monique hieß. »Drück auf den roten Knopf. Dann kommt jemand.« Dann tastete sie ihren Kopfverband ab und fragte: »Wo bin ich überhaupt?«
»In einem privaten Krankenzimmer im Pitié-Salpêtrière-Krankenhaus in Paris«, erklärte Monique. »Paris in Frankreich«, fügte sie hinzu.
Caitlin lächelte matt. »Okay, ich weiß, dass Paris in Frankreich liegt.« Sie hielt inne. »Also bin ich auch da, nehme ich an. Aber wie bin ich hierhergekommen? Ich erinnere mich nicht an sehr viel, außer, dass ich im Shuttle durch den Tunnel unterm Ärmelkanal gefahren bin.«
Die große Amerikanerin, die an der Tür stand – also Maggie, verdammt nochmal, jetzt merk dir endlich mal ihren Namen! -, drehte sich um und kam wieder herein.
»Faschistenschweine, das war’s. Sie haben uns außerhalb von Calais angegriffen.«
»Skinheads«, erklärte Monique. »Und du warst einfach großartig!«
»War ich das?«
»O ja«, rief die Französin begeistert. Sie sah nicht älter als siebzehn aus, war aber, wie Caitlin wusste, schon zweiundzwanzig. Sie wusste eine ganze Menge über Monique. Die anderen stimmten genauso begeistert zu. »Diese Faschisten von der Front National, die Schläger von Le Pen, die haben den Bus angehalten und uns rausgetrieben, uns getreten und geschlagen. Du hast dich gegen sie gestellt, Cathy. Du hast gegen sie gekämpft, bis die Gewerkschafter eintrafen, um uns zu helfen.«
»Gewerkschafter?«
»Arbeiter«, erklärte Maggie. »Genossen von den Docks in Calais. Wir werden sie in Berlin wieder treffen. Für den nächsten Einsatz, wenn du so weit bist. Wir müssen Bush weiterhin auf die Pelle rücken und alle Menschen auf die Straße holen.«
Caitlin versuchte, sich an den Zwischenfall zu erinnern, aber es war, als würde sie in eine Nebelwand hineinfassen. Offenbar hatte sie bei der Auseinandersetzung ganz schön was abbekommen.
»Ich verstehe«, sagte sie, obwohl sie nichts verstand. »Ich hab diese Mistkerle also verprügelt?«
Monique lächelte zum ersten Mal.
»Du bist richtig hart. Du hast uns vom Surfen erzählt, und wie du immer kämpfen musstest, damit du in der Brandung einen guten Platz ergattern konntest. Richtig kämpfen. Einmal hast du einen Mann von seinem Surfbrett geworfen, weil er sich … dazwischengedrängt hatte.«
Caitlin hatte das Gefühl, als würde ein riesiges Zahnrad in ihrem Kopf endlich wieder richtig einrasten. Das war ihre verdeckte Existenz. Für diese Frauen war sie Cathy Mercure, eine halbprofessionelle Surferin, auf Platz 46 der Weltrangliste. Teilzeit-Organisatorin der »Meeresschützer«, einer militanten Umweltschutzgruppe, die bekannt war für ihre rücksichtslosen und gelegentlich gewalttätigen Aktionen gegen Öko-Sünder, wie Wasserverschmutzer, Thunfischfänger und japanische Walfangboote. All diese Verbrecher wurden von den Meeresschützern fernsehwirksam angegriffen. Aber Caitlins Zugehörigkeit zu dieser Gruppe war nur Teil ihrer verdeckten Tätigkeit. Ihre Tarnung.
Sie trank noch einen Schluck Wasser und schloss kurz die Augen.
Ihr richtiger Name war Caitlin Monroe. Sie war eine hochrangige Agentin von »Echelon«, einer geheimen Organisation, die von etlichen Geheimdiensten mit finanziellen Mitteln ausgestattet wurde, ohne dass man eine direkte Verbindung herstellen konnte. Die Hälfte des Geldes kam von amerikanischen Institutionen. Sie war Auftragskillerin, und diese Frauen hier waren …? Einen Moment lang fiel ihr gar nichts dazu ein. Dann erinnerte sie sich wieder. Klar und deutlich. Diese Frauen waren nicht die, die sie umbringen sollte, aber sie sollten sie zu ihrem Ziel bringen.
Al-Banna.
Caitlin fluchte leise vor sich hin. Sie hatte keine Ahnung, was heute für ein Tag war. Keine Ahnung, wie lange sie bewusstlos gelegen hatte, und was in dieser Zeit passiert war.
»Alles in Ordnung?«
Diese Französin, Monique, sie war der Grund, warum sie hier war, zusammen mit diesen beiden Tanten.
»Alles klar«, sagte Caitlin. »Könnten wir vielleicht …?« Sie deutete auf den Fernsehapparat, der oben an der Wand befestigt war. »Ich hab das Gefühl, ich könnte was verpasst haben. Wie ist der Friedensmarsch denn ausgegangen?«
»Großartig!«, sagte die Rothaarige. Tante Celia.
Sie kam aus London und hatte einen ziemlich scharfen Akzent. »Es waren Hunderttausende«, sagte sie. »Chirac hat eine Grußbotschaft geschickt. In Berlin wird es auch richtig groß werden.«
»Wirklich?« Caitlin heuchelte Begeisterung. »Super. Wurde denn in den Nachrichten drüber berichtet? Und über den Krieg?«, fragte sie und schaute zum Fernseher.
»Oh, entschuldige«, murmelte Monique und zog eine weitere Fernbedienung unter Caitlins Decke hervor. Oder Cathys Decke, wie sie natürlich denken würde.
Ein Knopfdruck, und der Bildschirm flammte auf.
»CNN?«, fragte Caitlin.
Monique zappte durch die Kanäle, konnte den Nachrichtenkanal aber nicht finden. Auf Kanal 13, wo der Sender sich normalerweise befand, war kein Bild zu sehen und nur weißes Rauschen zu hören. Auch beim US-Sender MSNBC war nichts zu sehen, nur ein leeres Studio, aber alle französischen Sender waren vorhanden, ebenso BBC World.
»Können wir uns BBC anschauen?«, bat Celia. »Mein Französisch ist nicht so gut, wie ihr wisst.«
Caitlin wollte einfach nur ein paar Minuten haben, um für sich herauszufinden, wie sie wieder in ihren Alltag zurückfand. Ihre Verletzungen waren offenbar ziemlich schwer und hatten sie wahrscheinlich um drei Tage zurückgeworfen. Auch wenn ihre verdeckte Existenz noch funktionierte, wollte sie kein Risiko eingehen. Sie musste unbedingt wieder Verbindung mit Echelon aufnehmen. Die Kollegen würden sicher wissen, wo sie gelandet war und darauf warten, dass sie ihre Position wieder einnahm …
»He!«, rief Celia aus. »Was ist das denn?«
Alle Augen richteten sich auf den Bildschirm, wo eine makellos gekleidete Eurasierin mit einer perfekt klingenden BBC-Stimme sich bemühte, Haltung zu...