Die Stunde der Patrioten - Thriller

von: Tom Clancy

Heyne, 2012

ISBN: 9783641088583 , 496 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 8,99 EUR

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Die Stunde der Patrioten - Thriller


 

1


Fast wäre Ryan innerhalb von dreißig Minuten zweimal getötet worden. Er stieg einige Straßen vor dem Ziel aus dem Taxi. Es war ein schöner, klarer Tag, die Sonne stand schon tief am blauen Himmel. Ryan hatte stundenlang auf harten Stühlen gesessen und wollte sich Bewegung verschaffen, um seine verkrampften Muskeln zu lockern. Auf den Straßen herrschte relativ wenig Verkehr, und auch die Bürgersteige waren kaum belebt. Das überraschte ihn, denn er sah erwartungsvoll der abendlichen Rush-hour entgegen. Diese Straßen waren nämlich seinerzeit nicht für Automobile angelegt worden, und das Chaos nach Büroschluß würde ein denkwürdiges Schauspiel bieten. Jacks erster Eindruck von London war, daß es eine gute Stadt zum Laufen sein würde, und er ging schnellen Schrittes, wie er es sich während seines kurzen Gastspiels bei der Marineinfanterie angewöhnt hatte.

Kurz vor der Ecke waren keine Fahrzeuge mehr zu sehen, und er konnte die Kreuzung überqueren, ohne auf Grün zu warten. Er sah automatisch nach links, nach rechts, dann wieder nach links, wie er es seit seiner Kindheit gewohnt war, und trat vom Bordstein.

Da wurde er beinahe von einem doppelstöckigen Bus erfaßt, der nur wenige Zentimeter von ihm entfernt vorbeibrauste.

«Verzeihung, Sir.» Ryan wandte sich um und erblickte einen Polizisten in der bekannten altmodischen Uniform. «Seien Sie bitte vorsichtig und gehen Sie möglichst nahe an der Ecke über die Straße. Achten Sie auch auf die gemalten Hinweise am Bordstein – ob man nach rechts oder nach links sehen muß. Wir geben uns Mühe, daß nicht allzu viele Touristen überfahren werden.»

«Woher wissen Sie, daß ich Tourist bin?» Jetzt würde er es natürlich wissen, wegen Ryans Akzent.

Der Konstabler lächelte geduldig. «Weil Sie zuerst in die falsche Richtung gesehen haben, Sir, und weil Sie wie ein Amerikaner angezogen sind. Seien Sie bitte vorsichtig. Guten Tag.» Der Bobby ging mit einem freundlichen Nicken weiter, und Ryan fragte sich, warum sein dreiteiliger Anzug ihn als Amerikaner auswies.

Er beherzigte die Warnung und ging bis zur Ecke. Auf dem Asphalt stand «Nach rechts sehen», und für Leute mit Leseschwierigkeiten war zusätzlich ein Pfeil aufgemalt. Er wartete auf Grün und hielt sich innerhalb der gemalten Markierungen. Er nahm sich vor, genau auf den Verkehr zu achten, vor allem ab Freitag, wenn er einen, Leihwagen nehmen würde. Großbritannien war eines der letzten Länder der Erde, wo noch auf der linken Straßenseite gefahren wurde. Er war sicher, daß es ihn einige Mühe kosten würde, sich daran zu gewöhnen.

Aber alles andere machen sie hier wirklich gut, dachte er angenehm berührt, während er, schon an seinem ersten Tag in London, allgemeine Schlußfolgerungen zog. Ryan war ein ausgezeichneter Beobachter, und ein aufmerksames Auge kann vieles aufnehmen. Er befand sich in einem Geschäfts- und Büroviertel. Die Passanten waren eleganter gekleidet als in einem vergleichbaren Viertel in Amerika  – abgesehen von den Punkern mit ihren roten und orangefarbenen Haarkämmen, dachte er. Die Architektur war ein Potpourri von Klassizismus bis Mies van der Rohe, aber die meisten Häuser strahlten etwas Solides und Beruhigendes aus. In Washington oder Baltimore wären sie längst durch eine ununterbrochene Reihe seelenloser Gebilde aus Glas und Stahl ersetzt worden. All das fügte sich gut in die tadellosen Umgangsformen der Leute, mit denen er bisher zu tun gehabt hatte. Dies war ein Arbeitsurlaub, und sein erster Eindruck sagte ihm, daß er sehr angenehm verlaufen würde.

Er stellte einige Merkwürdigkeiten fest. Viele Leute hatten einen Regenschirm bei sich. Ryan hatte eigens den Wetterbericht gehört, ehe er seine heutigen Recherchen begann. Man hatte korrekt einen schönen Tag angesagt, sogar einen heißen Tag, obgleich die Temperatur nur knapp zwanzig Grad betrug. Sicher, für diese Jahreszeit war das warm, aber «heiß»? Jack fragte sich, ob sie es hier auch Altweibersommer nannten. Wahrscheinlich nicht. Wozu also die Regenschirme? Hatten die Leute kein Vertrauen zum Wetteramt? Hatte der Konstabler deshalb gewußt, daß er Amerikaner war?

Das andere, mit dem er nicht gerechnet hatte, waren die vielen Rolls-Royce auf den Straßen. Er hatte in seinem ganzen Leben nicht mehr als eine Handvoll gesehen, und hier fuhren sie zwar nicht dicht an dicht, aber es gab doch eine ganze Menge. Er benutzte gewöhnlich seinen fünf Jahre alten VW-Golf. Ryan blieb an einem Zeitungskiosk stehen, kaufte den Economist und hatte einige Sekunden mit dem Wechselgeld zu tun, das der Taxifahrer herausgegeben hatte, so daß der geduldige Händler ihn zweifellos ebenfalls als Yankee identifizierte. Er blätterte im Laufen die Zeitschrift durch, anstatt achtzugeben, wohin er ging, und stellte beim Aufblicken fest, daß er einen halben Häuserblock in die falsche Richtung gelaufen war. Er blieb stehen und führte sich den Stadtplan vor Augen, den er vor dem Verlassen des Hotels konsultiert hatte. Was Jack nicht konnte, war Straßennamen behalten, aber er hatte ein fotografisches Gedächtnis für Stadtpläne. Er ging zum Ende des Blocks, bog nach links, ging zwei Häuserblocks weit, bog nach rechts, und dort war wie erwartet der St. James’s Park. Ryan sah auf die Uhr; eine Viertelstunde zu früh. Er befand sich hinter dem Denkmal irgendeines Herzogs von York, und er überquerte die Straße bei einem langen klassizistischen Gebäude aus weißem Marmor.

Auch das berührte ihn hier sehr angenehm: die vielen Parks und Grünanlagen. Dieser Park wirkte recht groß, und er sah, daß die Rasenflächen außerordentlich gepflegt waren. Der Herbst mußte ungewöhnlich warm gewesen sein, denn an den Bäumen waren noch viele Blätter. Aber er sah kaum Menschen. Na ja, dachte er achselzuckend, es ist Mittwoch, die Kinder sind in der Schule, und es ist ein normaler Arbeitstag. Um so besser. Er war absichtlich nach der Touristensaison herübergekommen. Ryan mochte kein Gedränge. Auch das hatte er von seiner Zeit bei den Marines.

«Daddy!» Sein Kopf fuhr herum, und er sah seine kleine Tochter, die, ohne nach links und rechts zu sehen, über die Straße gerannt kam. Sally prallte wie üblich gegen ihren großgewachsenen Vater, und wie üblich kam Cathy Ryan, die nie so recht mit dem kleinen weißen Wirbelwind Schritt halten konnte, erst eine ganze Weile später. Jacks Frau sah schon von weitem wie eine Touristin aus. Sie hatte ihre «Canon» umgehängt, zusammen mit der Kameratasche, die ihr, wenn sie im Urlaub waren, zugleich als Handtasche diente.

«Wie ist es gegangen, Jack?»

Ryan küßte seine Frau. Vielleicht tun die Briten das in der Öffentlichkeit nicht, dachte er. «Wie Butter, Schatz. Sie haben mich behandelt, als ob der Laden mir gehörte. Ich habe alles geschafft. Und du – hast du etwa nichts bekommen?»

Cathy lachte. «Die Geschäfte hier liefern frei Haus.» Ihr Lächeln sagte ihm, daß sie eine Menge von dem Geld ausgegeben hatte, das sie für Einkäufe eingeplant hatten. «Und wir haben was Entzückendes für Sally gefunden.»

«Oh?» Jack beugte sich nach unten und sah seiner Tochter in die Augen. «Was kann das wohl sein?»

«Es ist eine Überraschung, Daddy.» Die Kleine zierte sich, wie es nur Vierjährige tun können. Sie zeigte auf den Park. «Daddy, da ist ein toller See mit Schwänen und Pekalinen!»

«Pelikanen», verbesserte Jack.

«Sie sind ganz groß und weiß!» Sally liebte Pelikane.

«Hm-hm», machte Ryan. Er sah seine Frau an. «Hast du schöne Aufnahmen gemacht?»

Cathy tätschelte die Kamera. «Klar. London ist bereits auf Zelluloid gebannt, oder wäre es dir lieber, wenn wir nur eingekauft hätten?» Fotografieren war Cathy Ryans einziges Hobby, und sie machte absolut professionelle Aufnahmen.

«Ha!» Ryan blickte die Straße hinunter. Der Verkehr war hier etwas dichter, floß aber rasch. «Was machen wir jetzt? Habt ihr schon Hunger?»

«Wir könnten mit einem Taxi zum Hotel fahren.» Cathy sah auf ihre Uhr. «Oder wir könnten laufen.»

«In unserm Hotel soll man angeblich vorzüglich essen können. Aber es ist noch ziemlich früh. Diese zivilisierten Restaurants lassen einen bis acht Uhr warten.» Er sah wieder einen Rolls-Royce, in Richtung Palast. Er freute sich auf das Restaurant, obgleich Sally ein gewisses Risiko sein würde. Vierjährige und Vier-Sterne-Restaurants passen nicht gut zusammen. Links von ihm kreischten Bremsen. Er fragte sich, ob das Hotel wohl einen Babysitter... WUMM!

Ryan zuckte bei dem Krach einer keine dreißig Meter entfernten Detonation heftig zusammen. Granate, meldete sein Verstand. Er spürte das Zischen von Splittern in der Luft und hörte einen Augenblick darauf das Knattern automatischer Waffen. Er wirbelte herum und sah den Rolls-Royce schräg auf der Straße stehen. Das vordere Ende wirkte niedriger, als es sein sollte, und eine altmodische schwarze Limousine versperrte ihm den Weg. Am vorderen rechten Kotflügel stand ein Mann, der mit einem AK-47 in die Windschutzscheibe feuerte, und ein anderer Mann rannte zum hinteren linken Ende des Wagens.

«Hinlegen!» Ryan packte seine Tochter an den Schultern, drückte sie blitzschnell hinter einem Baum auf die Erde und schubste dann seine Frau unsanft neben sie. Zehn, zwölf Wagen hatten schon hinter dem Rolls angehalten und schirmten Jack und seine Familie von der Schußlinie ab. Der Verkehr aus der anderen Richtung wurde von der schwarzen Limousine blockiert. Der Mann mit dem Kalaschnikoff durchlöcherte den Rolls, als wollte er ihn in Schrott verwandeln.

«Der...