Ein Winter auf Mallorca

von: George Sand

btb, 2009

ISBN: 9783641032265 , 224 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 10,99 EUR

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Ein Winter auf Mallorca


 

II
Mallorca, das Monsieur Laurens nach den Römern als Balearis Major bezeichnet und das nach Auskunft des Königs der mallorquinischen Geschichtsschreiber, Doktor Juan Dameto, früher Clumba oder Columba genannt wurde, heißt heute nur durch Sprachverderb Mallorca, und die Hauptstadt hieß nie, wie einige unserer Geographen gerne behaupten, Majorque, sondern Palma.
Die Insel ist die größte und fruchtbarste im Inselmeer der Balearen, Überrest eines Kontinents, dessen Tiefebene das Mittelmeer einst erobert haben muß, da sie ohne Zweifel einst Spanien mit Afrika verband und so am Klima und an der Vegetation von beiden teilhat. Sie liegt 25 Seemeilen südwestlich von Barcelona, 45 vom äußersten Punkt der afrikanischen Küste entfernt und, ich glaube, 95 oder 100 von der Reede von Toulon. Ihre Oberfläche hat 1234 Quadrat meilen2, ihr Umfang beträgt 143, ihre größte Ausdehnung 54, ihre kleinste 28 Meilen. Ihre Bevölkerung, die im Jahre 1787 136000 Einwohner zählte, bemißt sich heute auf etwa 160000. Die Stadt Palma besitzt heute 36000 Einwohner gegenüber 32 000 damals.
II
Die Temperaturen schwanken beträchtlich zwischen den unterschiedlichen Höhenlagen. Der Sommer ist in der ganzen Ebene brennend heiß; aber die Bergkette, die sich vom Nordosten zum Südwesten hin erstreckt (und deren Richtung ihre Zugehörigkeit zu den entsprechenden Gegenden Afrikas und Spaniens beweist, da die jeweils nächstliegenden Punkte ihre Neigung bestimmen und ihren hervorragenden Höhenzügen entsprechen), beeinflußt die Wintertemperatur sehr stark. So berichtet Miguel de Vargas, daß in der Reede von Palma das Thermometer während des schrecklichen Winters von 1784 nur ein einziges Mal an einem Januartag unter sechs Grad unter Null fiel; daß es an anderen Tagen bis auf 16 Grad über Null anstieg und daß es sich meist um 11 Grad hielt. Allerdings war dies in etwa die Temperatur, die wir während des recht durchschnittlichen Winters in den Bergen von Valldemosa hatten, die bekanntermaßen zu den kältesten Gegenden der Insel zählen. In den strengsten Nächten, als zwei Daumenbreit Schnee lag, hielt sich das Thermometer auf sechs oder sieben Grad. Um acht Uhr morgens war es auf neun oder zehn Grad gestiegen, und um die Mittagszeit zeigte es 12 oder 14 Grad. Normalerweise sank das Thermometer gegen drei Uhr, wenn also die Sonne hinter den uns umgebenden Bergspitzen untergegangen war, plötzlich auf neun oder sogar acht Grad.
Oft toben hier die Nordwinde, und in manchen Jahren gibt es im Winter so andauernde und ergiebige Niederschläge, wie wir es uns in Frankreich kaum vorstellen können. Im ganzen südlichen Teil, der nach Afrika hin abfällt und durch die mittleren Kordilleren und den steilen Abhang der nördlichen Küsten vor diesen wütenden Windstößen geschützt wird, ist das Klima im allgemeinen gesund und fruchtbar. Der Grundriß der Insel besteht also aus einer von Nordwesten nach Südosten geneigten Ebene, und die Schiffahrt, die im Norden aufgrund der Einschnitte und Steilhänge an der Küste fast unmöglich ist, »escarpada y horrososa, sin abrigo ni resquardo« (Abrupt und entsetzlich, ohne Schutz und Zuflucht, Miguel de Vargas), gestaltet sich im Süden einfach und sicher.
 
 
Trotz seiner Orkane und seiner Rauheit ist das früher mit gutem Recht als goldene Insel bezeichnete Mallorca sehr fruchtbar, und seine Produkte sind von erlesener Qualität. Der Weizen ist so rein und schön, daß die Einwohner ihn exportieren und man ihn in Barcelona ausschließlich zur Herstellung von weißem und leichtem Gebäck, dem sogenannten pan de Mallorca, benutzt. Aus Galizien und aus der Biskaya führen die Mallorquiner für ihren eigenen Gebrauch gröberen Weizen zu niedrigeren Preisen ein, was zur Folge hat, daß man in einem Land, das so reich an ausgezeichnetem Weizen ist, ein abscheuliches Brot ißt. Ich weiß nicht, ob dieses Tauschgeschäft für die Einwohner sehr von Vorteil ist.
In den Provinzen Mittelfrankreichs, wo die Landwirtschaft am weitesten zurückgeblieben ist, zeichnet sich die Arbeitsweise der Bauern allein durch Starrsinn und Unwissenheit aus. Um wieviel mehr muß dies also auf Mallorca zutreffen, wo die Landwirtschaft zwar penibel betrieben wird, aber noch in den Kinderschuhen steckt. Nirgendwo habe ich eine solch geduldige und zugleich unzulängliche Bearbeitung des Bodens beobachtet. Die einfachsten Maschinen sind unbekannt; die Arme eines Mannes, zudem recht mager und kraftlos im Vergleich zu unseren, müssen für alles genügen, und man arbeitet mit einer ungeheuren Langsamkeit. Man braucht einen halben Tag, um weniger Erde umzugraben als bei uns in zwei Stunden, und man braucht fünf oder sechs der robustesten Männer, um eine Last zu bewegen, die der schwächste unserer Lastenträger fröhlich auf seine Schultern laden würde.
Trotz dieses Gleichmuts wird jedes Stück Land auf Mallorca bestellt und scheinbar gut bestellt. Die Inselbewohner, so heißt es, kennen kein Elend; nichtsdestotrotz ist ihr Leben inmitten dieser Schätze der Natur und unter dem schönsten Himmel viel rauher und durch eine traurigere Nüchternheit gekennzeichnet als das unserer Bauern.
Die Reisenden halten in der Regel schöne Reden über das Glück dieser südlichen Landbewohner, deren Erscheinung und deren malerische Kleidung sie sonntags im Sonnenschein beobachten und deren Einfallslosigkeit und mangelnde Voraussicht sie für eine vorbildliche Zufriedenheit des Landlebens halten. Dies ist ein Irrtum, dem ich selbst oft erlegen bin, von dem ich aber, vor allem seit ich Mallorca gesehen habe, abgekommen bin.
Es gibt nichts Traurigeres und Ärmeres als diesen Bauern, der nichts kennt außer beten, singen und arbeiten und der nie denkt. Sein Gebet ist eine dumme Formel, die für seinen Geist keinen Sinn ergibt; seine Arbeit ist eine Muskeltätigkeit, zu deren Vereinfachung er seine Intelligenz nicht anstrengt, und sein Gesang ist Ausdruck einer düsteren Melancholie, die ihn wider Willen weiter niederdrückt und deren Poesie uns verblüfft, ohne sich ihm selbst zu offenbaren. Wäre da nicht die Eitelkeit, die ihn von Zeit zu Zeit aus seiner Erstarrung weckt und ihn zum Tanzen treibt, würde er seine Feiertage ganz dem Schlaf widmen.
Aber schon weiche ich von dem Rahmen ab, den ich mir gesetzt habe. Ich vergesse, daß ein geographischer Artikel im strengen Sinne vor allem Wirtschaft und Handel erwähnen sollte und sich erst in letzter Hinsicht, nach Getreiden und Vieh, mit der Spezies Mensch beschäftigen darf.
In allen von mir zu Rate gezogenen geographischen Beschreibungen fand ich unter dem Artikel Baléares diesen kurzen Hinweis, den ich hier zunächst bestätige, nicht ohne später noch einmal auf diese Überlegungen zurückzukommen, um ihren Wahrheitsgehalt etwas einzuschränken: »Diese Inselbewohner sind sehr freundlich (man weiß, daß sich die menschliche Rasse auf allen Inseln in zwei Kategorien aufteilt: auf der einen Seite die Menschenfresser und auf der anderen die sehr freundlichen Menschen). Sie sind sanft und gastfreundlich; sie begehen selten Verbrechen, und der Diebstahl ist unter ihnen fast unbekannt.« Auf diese Aussage werde ich in der Tat später zurückkommen.
Aber sprechen wir vor allem von den Erzeugnissen des Landes; denn ich glaube, vor kurzem wurden in der Kammer einige (zumindest unbedachte) Sätze über eine mögliche Besetzung Mallorcas durch die Franzosen ausgesprochen. Wenn also diese Schrift in die Hände eines unserer Abgeordneten fiele, dann, so nehme ich an, würde er sich sehr viel eher für den Teil über Handelswaren interessieren als für meine philosophischen Reflexionen über die geistige Situation der Mallorquiner.
 
Der Boden von Mallorca ist also, wie gesagt, bewundernswert fruchtbar, und ein aktiverer und sachkundigerer Anbau könnte seine Erzeugnisse leicht verzehnfachen. Der wichtigste Außenhandel wird mit Mandeln, Orangen und Schweinen betrieben. Oh, schöne Hesperidenpflanzen, die ihr von diesen unreinen Drachen gehütet werdet, es ist nicht meine Schuld, wenn ich dazu gezwungen bin, euer Gedenken mit dem der gemeinen Schweine zu verbinden, auf die der Mallorquiner mehr hält und stolzer ist als auf eure duftenden Blüten und eure Goldäpfel! Aber dieser Mallorquiner, der euch anbaut, ist um nichts poetischer als der Abgeordnete, der mich liest.
Ich kehre also zurück zu meinen Schweinen. Diese Tiere, lieber Leser, sind die schönsten der Erde, und Doktor Miguel Vargas zeichnet voll naiver Bewunderung das Porträt eines jungen Schweins, das im zarten Alter von eineinhalb Jahren vierundzwanzig arrobes, das heißt sechshundert Pfund wog. Zu dieser Zeit stand die Schweinezucht auf Mallorca noch nicht in der Blüte, die sie heutzutage erreicht hat. Der Viehhandel wurde durch die Habgier der assentistes, der Lieferanten, behindert, denen die spanische Regierung die Vorratshaltung anvertraute oder, besser gesagt, verkaufte. Dank ihrer Machtfülle stemmten sich diese Spekulanten gegen jeden Viehexport und behielten sich selbst das Recht eines unbeschränkten Imports...