Transzendenz - Roman

von: Stephen Baxter, Angela Kuepper

Heyne, 2012

ISBN: 9783641087685 , 704 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 7,99 EUR

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Transzendenz - Roman


 

2


Das Mädchen aus der Zukunft hieß Alia.

Sie war auf einem Sternenschiff geboren, fünfzehntausend Lichtjahre von der Erde entfernt. Sie lebte eine halbe Million Jahre nach Michael Pooles Tod. Und dennoch wuchs sie praktisch mit Michael und all seinen Angehörigen auf.

Sie hatte sein Leben beobachtet, fast seit ihre Mutter und ihr Vater sie aus den Geburtsbehältern heimgebracht hatten, als ihre Hände und Füße noch nichts anderes hatten greifen können als das Fell auf der Brust ihrer Mutter und die Welt ein undifferenzierter Ort aus hellen, leuchtenden Formen und lächelnden Gesichtern gewesen war. Michael Poole war schon damals für sie da gewesen, von Anfang an.

Doch nun war sie fünfunddreißig, fast alt genug, um als Erwachsene zu gelten. Michael Poole war ein Relikt aus der Kindheit, sein kleines Leben wie eine Lieblingsgeschichte, die sie sich wieder und wieder anhörte. Immer, wenn sie Trost suchte, wandte sie sich ihm zu. Aber er war ein kleiner, sentimentaler Teil ihrer Welt; seine Geschichte lag im Beobachtungstank versteckt und blieb manchmal tagelang unbeachtet.

Alias derzeitige Lieblingsbeschäftigung war das Skimmen.

 

Sie traf ihre Schwester im Maschinenraum, in den tiefsten Eingeweiden der Nord, wo ungeschlachte, anonyme Maschinen in stahlgrauem Licht aufragten. Die Schwestern standen sich gegenüber und lachten in freudiger Erwartung dessen, was gleich passieren würde.

Drea war nackt, ebenso wie Alia; so konnte man am besten skimmen. Dreas von goldenen Haaren bedeckter Körper war hübsch proportioniert; ihre Arme waren nicht viel kürzer als ihre Beine, und mit ihren nicht ganz fingerlangen Zehen konnte sie Dinge greifen und manipulieren. Es war natürlich ein Körper, der für die Schwerelosigkeit und das Hochvakuum geschaffen war, die natürliche Umgebung der Menschheit, aber man glaubte, dass dieser Körperbau weitgehend dem der ursprünglichen Menschen auf der alten Erde glich. Drea war zehn Jahre älter als Alia. Die Schwestern sahen sich sehr ähnlich, aber Drea wirkte gesetzter und Alia ein wenig lockerer. Während sich das Licht änderte, glitten Mehrfachlider über Dreas Augen.

Drea beugte sich vor, und Alia roch ihren frischen Atem. »Fertig?«

»Fertig.«

Drea fasste Alia an den Händen. »Drei, zwei, eins …«

Plötzlich befanden sie sich im Landwirtschaftsdeck der Nord.

Dies war eine hohe, dunstige Halle, durch deren Decke sich riesige Rohre und Leitungen herabschlängelten. Lampen warfen einen kühlen blauen Lichtschein, und grüne Pflanzen wuchsen in Hydrokulturtanks mit durchsichtigen Wänden. Die Nord war ein Sternenschiff, eine geschlossene Ökologie. Die großen Rohre beförderten Abwasser und verbrauchte Luft von den Wohndecks oben hierher und transportierten Nahrung, Luft und sauberes Wasser zurück.

Alia atmete tief ein und aus. Nach der kalten, statischen Kargheit des Maschinenraums war sie auf einmal von der lebensprühenden Wärme der »Farm« umgeben, wie sie diesen Raum nannten, und die gewaltigen Mengen an Flüssigkeit und Luft, die herein- und hinausgepumpt wurden, ließen die Bodenplatten dumpf vibrieren. Selbst die Schwerkraft fühlte sich hier auf subtile Weise anders an. Alia hatte nichts vom Skimmen gespürt: Während eines Skims verging keine Zeit, deshalb gab es auch keine Zeit für Sinneswahrnehmungen. Aber der Übergang selbst war sehr angenehm, ein Schwall neuer Empfindungen, als spränge man aus kalter Luft in ein Becken mit warmem Wasser.

Und das war erst der Anfang.

Dreas Augen glänzten. »Diesmal mit Sprung. Drei, zwei, eins …« Die Schwestern streckten die langen Zehen und segelten in die Luft hinauf, und am Scheitelpunkt ihres koordinierten Sprungs verschwanden sie abrupt.

Weiter eilten die Schwestern, zu all den vielen Decks der Nord; sie materialisierten flimmernd in Parks, Schulen, Museen, Sporthallen und Theatern. Überall blieben sie nur ein paar Sekunden, gerade lange genug, um sich in die Augen zu schauen, sich über ihre nächste Aktion zu verständigen und diese mit einem Sprung, einer Pirouette oder einem Purzelbaum einzuleiten. Es war tatsächlich eine Art Tanz; die Herausforderung bestand darin, die Genauigkeit jedes Skims und die spiegelbildliche Präzision ihrer Positionen und Bewegungen bei jedem Auftauchen zu kontrollieren.

Skimmen – willensgesteuerte Teleportation – war so leicht, dass kleine Kinder es lange vor dem Laufen lernten. Alias Körper bestand aus Atomen, die in Molekülen gebunden waren, aus elektrischen und Quantenunschärfe-Feldern. Alias Körper war sie. Aber ein Kohlenstoffatom war beispielsweise identisch mit einem anderen – absolut identisch in seiner Quantenbeschreibung – und konnte darum ausgetauscht werden, ohne dass sie etwas davon bemerkte. Sie war nur ein Ausdruck einer zeitweiligen Ansammlung von Materie und Energie, so wie Musik ein Ausdruck ihrer Partitur ist, ungeachtet des Mediums, in dem diese geschrieben ist. Für Alia spielte das allerdings überhaupt keine Rolle.

Und wenn man es einmal begriffen hatte, war leicht einzusehen, dass sie, Alia, ebenso gut von einem Haufen Atome dort drüben wie hier herüben ausgedrückt werden konnte. Es war im Grunde nur eine Frage des Willens, der bewussten Entscheidung, mit freundlicher Unterstützung der Nanomaschinen in ihren Knochen und ihrem Blut. Und nur sehr wenig, was Alia wollte, wurde ihr verweigert.

Die meisten Kinder skimmten, sobald sie herausfanden, dass sie es konnten. Erwachsenen fiel es schwerer, oder sie gaben es auf, wie sie das Laufen und Klettern aufgaben. Aber nur wenige gleich welcher Altersstufe skimmten so geschickt wie Alia und Drea. Überall, wo die Schwestern erschienen und erschrockene Vögel aufscheuchten, bedachten die Jüngeren sie mit neidischen Blicken, und die Älteren lächelten nachsichtig und versuchten ihr Bedauern zu verbergen, dass sie nie wieder so anmutig würden tanzen können.

Und jedes Mal hingen unmittelbar nach dem Verschwinden der Mädchen zwei silbrige Staubwolken, die noch immer die Umrisse der beiden Schwestern zeigten, bleich und durchsichtig in der Luft. Doch in den künstlichen Brisen des Schiffes lösten sich diese Chimären von unbewohnter Materie rasch auf.

 

In einem letzten, großen Skim sprangen die Mädchen ganz aus der Nord heraus.

Alia spürte die Spannung des Vakuums in ihrer Brust; die harte Strahlung brannte so herrlich in ihrem Gesicht wie eine Eiswasserdusche auf bloßer Haut. Da ihre Lungen fest verschlossen waren und der Dunst aus Biomolekülen und Nanomaschinen, der ihren Körper erfüllte, eifrig nach Schäden suchte, bestand keine Gefahr für sie.

Überall um die Schwestern herum waren Sterne, über ihnen, unter ihnen, zu allen Seiten; sie hingen im dreidimensionalen Raum. In einer Richtung bahnte sich ein grelleres, kräftigeres Licht seinen Weg durch den dicken Sternenschleier. Das war der Kern, das Zentrum der Galaxis. Die Nord war rund fünfzehntausend Lichtjahre vom Zentrum entfernt, ungefähr halb so weit wie Sol, die Sonne der Erde. Nur ausgefranste Staub- und Gaswolken lagen vor dieser aufgeblähten Lichtmasse, und wenn man genau hinsah, konnte man Schatten von tausend Lichtjahren Länge erkennen.

Alia schaute auf die Nord hinunter, ihre Heimat.

Das Schiff unter ihr war eine komplexe Skulptur aus Eis, Metall und Keramik, die sich langsam im fahlen Licht der Galaxis drehte. Man konnte die ursprüngliche Form des Raumfahrzeugs noch andeutungsweise erkennen, einen dicken Torus mit einem Durchmesser von ungefähr einem Kilometer. Aber diese Grundstruktur war überbaut, ausgehöhlt und erweitert worden, bis ihre Konturen unter einem Wald aus Parabolantennen, Manipulatorarmen und Sensorkapseln verschwunden waren. Eine Wolke grün und blau leuchtender, halbautonomer Behausungen schwamm träge ums Schiff: Es waren die Heimstätten der Reichen und Mächtigen, die der Nord wie ein Fischschwarm folgten.

Mit ineinander verschränkten Händen drehten sich die Schwestern langsam umeinander; ihr Restschwung drückte sich in einer langsamen Kreisbahn aus. Komplexes Sternenlicht spielte über Dreas lächelndes Gesicht, aber ihre Augen waren hinter den multiplen Membranen verborgen, die schützend über die feuchten Oberflächen glitten. Alia genoss den Augenblick. In jüngeren Jahren waren die Schwestern füreinander die wichtigsten Menschen an Bord der Nord gewesen. Doch nun wurde Alia allmählich erwachsen. Dies war ein Wendepunkt in ihrem Leben, eine Zeit der Veränderung – und der Gedanke, dass es vielleicht nicht mehr allzu viele solche Momente geben könnte, machte ihn umso schöner.

Doch Alia wurde von einer leisen Stimme abgelenkt, einem Flüstern in ihrem Ohr.

Ihre Mutter rief sie. Komm nach Hause. Du hast Besuch …

Besuch? Alia runzelte die Stirn. Wer von den Leuten, die sie besuchen würden, konnte so wichtig sein, dass ihre Mutter sie rief? Niemand von ihren Freundinnen und Freunden; die konnten alle warten. Aber ihre Mutter hatte irgendwie ernst geklungen. Etwas hatte sich während ihres Tanzes durch die Nord verändert, dachte Alia. Drea hielt ihre Hände fest; ihre Miene war komplex, besorgt. Sie wusste etwas, erkannte Alia und verspürte eine Aufwallung von Liebe zu ihrer Schwester, der Gefährtin ihrer Kindheit. Doch auf einmal gab es eine kaum wahrnehmbare Barriere zwischen ihnen.

Sie trieben aufeinander zu und skimmten ein letztes Mal. Wie ein Beckenschlag gingen ihre Körper ineinander über, die Atome und Elektronen, Felder und Quantenunschärfen verschmolzen. Natürlich wurde diese...