Der Prinz der Schatten - Roman - Der Schattenprinz 1

von: Torsten Fink

Blanvalet, 2012

ISBN: 9783641073657 , 544 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 11,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Der Prinz der Schatten - Roman - Der Schattenprinz 1


 

Mittag

Ela starrte in die Augen des Fremden, und er starrte zurück. Plötzlich wurde sein zorniger Blick weich, dann verwirrt. Er sprang entsetzt auf, die Axt immer noch in der Hand, und rief etwas in einer Sprache, die Ela nicht verstand.

»Ruhig, es ist alles in Ordnung«, stammelte sie.

Ihr Bruder stand wie erstarrt neben dem Bett.

»Was ist das für ein finsterer Ort?«, fragte der Fremde nun, und nur eine leichte, südländische Klangfärbung verriet, dass er nicht aus dieser Gegend war.

»Es ist die Hütte von Meister Grams. Und ich bin seine Tochter«, sagte Ela und lag immer noch auf dem Boden. Ihr Bruder Asgo stand, wie zur Salzsäule erstarrt, ein paar Schritte entfernt und stierte den nackten Fremden mit der Axt ungläubig an. Die Axt! Ela setzte sich auf. Es war die Axt, die sonst über der Tür hing. Wie war sie von dort so schnell in die Hände des Fremden geraten?

»Was wollt ihr von mir? Wie bin ich hierhergekommen?«, fragte der Fremde.

»Unser Vater hat dich mitgebracht. Aus der Stadt vielleicht. Jedenfalls warst du durchnässt, und wir dachten …«

Der Fremde schien erst jetzt zu bemerken, dass er nackt war. Er stieß einen Schrei aus, griff sich mit der Linken den schäbigen Vorhang, der Elas Schlafstatt von der Stube trennte, und riss ihn herunter, um seine Blöße zu bedecken. In der Kammer nebenan schnaufte und stöhnte Heiram Grams. Ela befürchtete, dass er nun wach geworden war. Sie erhob sich vorsichtig. Tatsächlich hustete ihr Vater, und Ela konnte hören, wie er sich stöhnend aufsetzte und nach dem Branntweinkrug suchte. Sie hatte ihn jedoch auf die Fensterbank gestellt, denn sie brauchte ihren Vater nüchtern. Jetzt fragte sie sich, ob das vielleicht ein Fehler gewesen war. Der Fremde hob die Axt. Der Vorhang der Schlafkammer der Männer wurde zur Seite gezogen, und Heiram Grams trat blinzelnd hervor. Er blickte sich schweigend um, entdeckte den Krug, machte einen Schritt und blieb stehen. Er starrte den Fremden an. »Wer ist das, und was macht er deiner Kammer, Ela? Und wieso ist er nackt?«

»Aber Vater, du hast ihn mitgebracht, du musst doch wissen, wer er ist.«

»Ich würde niemals einen nackten Mann mit nach Hause bringen.« Er straffte sich und spannte sein breites Kreuz.

Für einen Augenblick sah Ela den starken Ringer wieder, der er gewesen war, als sie klein gewesen war.

»Tu lieber das Beilchen weg, bevor ich dir wehtun muss, mein Junge«, knurrte er.

Scheinbar erschrocken ließ der Fremde die Axt fallen und wich einige Schritte zurück, bis er an die Wand stieß. Für einen Augenblick bewegte sich niemand, aber Heiram Grams konnte seine drohende Pose nicht lange beibehalten, sein Körper erschlaffte, und aus dem stämmigen Ringer wurde wieder ein untersetzter Köhler. Sein Blick irrte zum Krug auf der Fensterbank. »Ich muss nachdenken«, sagte er und leckte sich über die Lippen.

»Gleich«, meinte Ela und schob sich ihm unauffällig in den Weg. »Wir müssen erst einiges klären, Vater, zum Beispiel, woher du ihn kennst.«

Ihr Vater starrte finster auf die alten Holzdielen, und der Fremde runzelte die Stirn. Ela fand, dass er überhaupt nicht wie ein Trinker aussah. War ihm vielleicht das zum Verhängnis geworden? Hatte er sich mit ihrem Vater auf ein Saufgelage eingelassen? Auf dem schmalen Gesicht machte sich zunehmende Verwirrung breit.

»Weiß nicht«, sagte Meister Grams jetzt, »bin wirklich nicht sicher, dass ich den da mitgebracht habe. Oder warte, vielleicht habe ich ihn unterwegs irgendwo aufgelesen. Weißt du das nicht, mein Junge?«

Aber der Fremde schüttelte den Kopf.

»Im Blauen Ochsen?«, fragte Ela, die die Gewohnheiten ihres Vaters kannte.

»Nein, nicht im Ochsen. Warte, ich weiß es wieder – am Bach. Ich hab ihn aus dem Bach gezogen!«

»Aus dem Bach …«, murmelte der Fremde.

»Da das also geklärt ist«, verkündete der Köhler triumphierend, »ist er jetzt mit Erklärungen dran.« Er schob seine Tochter grob zur Seite und griff sich den Krug. Dann ließ er sich auf einen der wackligen Schemel fallen und nahm einen Schluck, wobei er den Fremden nicht aus den Augen ließ. »Von hier bist du wohl nicht. Also, wer bist du? Und warum hast du dich mir in den Weg gelegt?«

Der Fremde öffnete den Mund, schloss ihn wieder und sagte dann mit einem seltsam leeren Blick: »Ich … weiß es nicht.«

»Du weißt nicht, warum du im Bach gelegen hast?«

»Ja, nein, ich meine, ich … ich weiß nicht … wer ich bin.«

Einen Augenblick blieb es still in der Hütte, dann dröhnte der Köhler: »Das ist wirklich das Dümmste, was ich je gehört habe, mein Junge. Und ich sage dir, wenn du meiner Tochter zu nahe getreten bist, dann …«

»Aber Vater, er ist eben erst erwacht, er hatte doch noch gar keine Gelegenheit …«, begann Ela und verstummte. Ihr Blick wurde von der Axt angezogen. Sie war in den alten Dielen stecken geblieben, als der Fremde sie fallen gelassen hatte. Ela verstand immer noch nicht, wie sie eben noch über der Tür hängen und eine Sekunde später an ihrer Kehle liegen konnte. War sie ohnmächtig gewesen? Das schien ihr mit einem Mal die einzig mögliche Erklärung, aber es war verwirrend, und diese Verwirrung brachte sie dazu, dummes Zeug zu reden. Zum Glück war ihr Vater nicht in der Verfassung, den verfänglichen Sinn ihrer Worte zu verstehen. Er saß schwer auf dem Schemel und hielt den Branntweinkrug fest, eigentlich hielt er sich eher am Krug fest, und plötzlich schämte sie sich für ihn, vielleicht, weil er eben einen Augenblick lang wieder der große, starke Ringer ihrer Kindheit gewesen war und jetzt wieder offensichtlich wurde, wie wenig der Branntwein davon übrig gelassen hatte. Es war kaum zu ertragen.

»Setz dich, mein Junge, setz dich dort hin«, sagte er jetzt. »Mir wird schwindlig, wenn ich zu dir aufsehen muss.«

Der Fremde blickte kurz zu Ela, und in seinen dunklen Augen glaubte sie, eine Bitte um Verzeihung, vielleicht auch um Hilfe zu lesen. Sie fand, es waren außerordentlich schöne dunkelbraune Augen. Sie lächelte schwach und nickte ihm aufmunternd zu, woraufhin der Fremde den Vorhang beinahe würdevoll um die Schultern raffte und sich an den Tisch setzte. Dabei achtete er auf Abstand zum Köhler. Erst jetzt schien er sich die Hütte näher anzusehen. Ela folgte seinem Blick, sah den Riss in der Fensterhaut, den alten Tisch, die zerschlissenen Vorhänge vor den Schlafkammern, die rissigen Dielen, und auf einmal erschien ihr ihr Heim noch ärmlicher und unzulänglicher als sonst. Sie atmete tief durch. Er war ein Fremder, und er behauptete nicht zu wissen, wer er war. Das war vielleicht gelogen. Und wenn man seine Augen einmal beiseiteließ, dann war doch nur eines sicher, nämlich, dass er Ärger bedeutete. Und noch während sie das dachte, klopfte es an die Tür.

Faran Ured zog sein schlichtes Gewand glatt und klopfte noch einmal. Er war das Tal hinabgewandert, und das kleine Wäldchen rund um diesen Hof war ihm schon von weitem aufgefallen. Als er das letzte Mal in dieser Gegend gewesen war, hatte sich noch ein dichter Wald zwischen den Bergen erstreckt. Jetzt war abgesehen von diesem Hain nur das Unterholz übrig geblieben, und die alte Stadt Atgath thronte auf einem kahlen Hügel über dem Tal. Er hatte den See wiederentdeckt und die Fischerhütten, die damals wie heute sein Ufer säumten, und er hatte die Furt gefunden, die ihm der Teller gezeigt hatte, bevor die beiden Räuber ihn gestört hatten. In der Hütte waren eben noch laute Stimmen zu hören gewesen, doch jetzt wurde schnell geflüstert, was Faran sagte, dass er wohl richtig geraten hatte.

An der Furt waren Schleifspuren zu sehen gewesen, die darauf hindeuteten, dass jemand aus dem Bach gezogen worden war, und die Spuren des Karrens waren frisch. Er war ihnen gefolgt und schließlich auf diesen Hof im Wald gestoßen. Das Gehöft war nicht sehr groß: ein Stall, groß genug für eine Handvoll Pferde oder Kühe, und eine Hütte, ärmlich, sogar etwas heruntergekommen. Der Putz war an vielen Stellen abgeplatzt, und das Holzdach sah schadhaft aus, aber der Weg zwischen Haustür und Stall war sorgsam mit Streu ausgelegt. Offenbar wohnte dort jemand, der gegen den Mangel und die Armut ankämpfte. Hinter dem Haus flatterte schwarze Kleidung an einer Wäscheleine. Sie war von guter Qualität, nicht das, was man auf einem so armen Hof erwarten würde. Faran Ured war sehr gespannt, was er im Haus vorfinden würde.

Die Tür öffnete sich einen Spalt, und ein blasses Jungengesicht starrte ihn an.

»Ja?«, fragte der Junge.

»Seid mir gegrüßt, Herr«, rief Ured mit übertriebener Höflichkeit. »Habt Ihr vielleicht einen Schluck Wasser für einen müden Wanderer?«

Drinnen wurde kurz geflüstert, dann sagte der Junge: »Es ist ein Brunnen dort drüben. Da findet Ihr, was Ihr sucht, Herr.« Er wurde rot dabei.

Faran Ured lächelte freundlich. »Der Segen der Götter möge auf dir ruhen, junger Freund. Sei doch so gut und frage jene, die zögern, mich über die Schwelle zu bitten,...