Der Lilith Code - Thriller

von: Martin Calsow

Aufbau Verlag, 2012

ISBN: 9783841204325 , 480 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 8,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Der Lilith Code - Thriller


 

Damaskus, 12. 06., 5.12 Uhr


In der Psychotherapie geht es nicht um Schuld, sondern um ihre bewussten und unbewussten Folgen. Die höchstmögliche Leistung der Psychoanalyse ist, dem Menschen zu helfen, mit seiner Schuld weiterzuleben. Eine Vergebung ist nicht möglich.

Markus Bassler, Psychotherapeut

 

Gläubige dürfen nur einmal in das Paradies einkehren. Der Prophet Mohammed weigerte sich deshalb, jemals nach Damaskus zu kommen. So sagten es die Legende und ein Informationsblatt des Hotels, das neben Jan Kistermann auf dem Nachttisch lag. Er war am frühen Abend in der syrischen Hauptstadt gelandet. Nachdem er lange auf sein Gepäck hatte warten müssen, hatte er sich eines der gelben, nicht besonders sicher wirkenden Taxis südkoreanischer Herkunft herangewinkt und vergeblich versucht, mit dem Fahrer, so wie sein Reiseführer mahnte, den Preis im Voraus zu verhandeln. Resigniert hatte er den Namen des Hotels genannt und sich dann dem Fahrer und dem irrsinnigen orientalischen Straßenverkehr ausgesetzt.

Bauruinen, riesige Werbeplakate und immer wieder überlebensgroße Bilder des Präsidenten rauschten vorbei. Eine Stunde dauerte die Fahrt. Der Airport der syrischen Hauptstadt lag weit außerhalb im Süden. Schwarzverhüllte Frauen überquerten die Fahrbahn, achteten nicht auf den Verkehr, wissend, dass jeder Autofahrer für sie anhalten würde. Auf einer staubigen und mit Plastikflaschen verdreckten Verkehrsinsel lagen zwei junge Nomaden mit ihren Ziegen.

Jan Kistermann war jedoch zu müde, um zu staunen. Das Hotel befand sich gegenüber dem Nationalmuseum, was aber nicht der Grund für seine Wahl war. Er suchte eine Oase des Westens inmitten dieser unbekannten Welt. Etwas, das er kannte. Denn diese Hotelkette hatte es geschafft, selbst in den entlegensten Winkeln der Welt denselben zwar nichtssagenden, aber heimatlichen Einrichtungsstatus zu garantieren. Er hatte sich ein Clubsandwich bestellt, dessen Reste jetzt auf einem kleinen Tisch neben seinem Pass und einem Reiseführer lagen. Kaum ein Laut drang durch die doppeltverglasten Fenster herein. Und trotzdem konnte er nicht schlafen. Gerade einmal vier Stunden hatte er in Träume fliehen können. Ja, Flucht, so musste man es nennen. Die Bilder krochen auch in sein Unbewusstsein. So konnte er auch dort nie sicher sein, vor dem Grauen, das ihn nun schon seit einem Jahr verfolgte. »Lernen Sie zu trauern«, hatte der Geistliche empfohlen, die Anleitung aber nicht mitgeliefert. Als Arzt fiel es Jan ohnehin schwer, Hilfe im Glauben zu finden. Menschen leben, Menschen sterben. Hundertfach hatte er das im Krankenhaus erlebt.

Noch eine Stunde lag er so wach, suhlte sich in Erinnerungen und Vorwürfen, bis jemand vom Servicepersonal anklopfte. Er hatte den Do-not-disturb-Hinweis an der Klinke draußen vergessen. Das hatte Andrea immer erledigt. Er stand auf, duschte kalt, rieb sich mit der teuren Bodylotion des Hotels ein, rubbelte sich den Kopf dann härter als nötig mit dem Handtuch ab und schaute in den Spiegel. Seine nassen, kräftigen Haare standen wirr vom Kopf ab, aber nicht ohne Stolz betrachtete er seinen sehnigen und fast fettfreien Körper.

Ohne Frühstück verließ Jan das Hotel, ignorierte die Taxifahrer in der Hoteleinfahrt, die ihm zuwinkten, ging die steil abfallende Zufahrt hinunter und stand vor der Sharia Shukri Quwwatli, einer der Ausfallstraßen der Hauptstadt Richtung Süden. Ein stetig vorbeirauschender Verkehrsfluss – gefühlt zehnspurig. Nach mehreren vergeblichen Versuchen sprang er zwischen eine kleine Lücke des Verkehrs, stolz, die erste Prüfung des Orients überstanden zu haben. Fast fiel er einem alten Mann in die Arme, der ihn anlächelte und wortreich nach rechts wies – auf eine Fußgängerbrücke, knapp fünfzig Meter weit entfernt. Beschämt nickte Jan dem Alten zu.

Er ließ sich treiben, stand plötzlich vor wirren Bettlern mit weißen Augäpfeln ohne Iris, roch sich förmlich in die Stadt und ihre Menschen ein und gewöhnte sich an den dauerhaften Klang der Hupen, des Kommunikationsmittels des modernen Orients schlechthin, das wie eine immerwährende Symphonie über der Stadt lag. Über die Sharia Nasr lief er Richtung Osten auf die Altstadt zu. Er kämpfte sich an Händlern vorbei, die den Bürgersteig bevölkerten, und sah Schreiber, die nicht Schreibkundigen das Verfassen von Briefen und Formularen anboten. Ständig hupte es um ihn herum. Bald schon begann ihn dieses Chaos zu stressen. Erstaunt nahm er eine Rolltreppe wahr, die ihn aus einer Unterführung zum Eingang des Souks führte. Wie das riesige Maul eines Monsters schluckte dieser seine Besucher. Er wich einer seltsam geschmückten islamischen Reisegruppe aus dem Iran aus. Die Frauen hatten ihre Köpfe mit Blumenornamenten geschmückt, die Männer trugen das leinene Pilgerweiß. Sie besuchten den Schrein, in dem der Kopf des Hussein Ibn Ali aufbewahrt wurde, des Enkels des Propheten Mohammed und zugleich des wichtigsten Märtyrers der Schiiten. Jan roch die Damaszener Seife, die in großen Bastkörben lag und einen intensiven Rosenölduft ausströmte, dann die danebenliegenden Datteln und Pistazien, die ihm die Verkäufer zum Probieren anboten. Und als der Souk ihn wieder ausspuckte, fand er sich auf einem Platz wieder, der vor einem großen Tor lag. Aus seinem Reiseführer erfuhr er, dass es der Osteingang der Umayyaden-Moschee war, einer der heiligsten Plätze der sunnitischen Muslime, aber auch die Schiiten hatten hier einen Wallfahrtsort.

Ein Wächter versperrte ihm den Weg und deutete auf die andere Seite der Moschee. Dort sei der Touristeneingang. Jan zog einen dreckigen, zerknüllten Hundert-Pfund-Schein aus seiner Tasche, lächelte den Wärter an und betrat dann, mit seinen Schuhen in der Hand, den Innenhof der Moschee. Er setzte sich auf die blankpolierten Steine und genoss die würdevolle, aber nicht einschüchternde Schönheit des islamischen Bauwerks. Er blickte auf die vielfarbigen und vergoldeten Mosaike an den Wänden und Decken. Er las, dass Moscheen – anders als Kirchen – nicht nur Gebetsstätten, sondern auch Ruhe- und Begegnungsraum seien.

Vor ihm rannte ein Junge seiner älteren Schwester lauthals schreiend hinterher, fiel und weinte. Ihre Mutter saß, verhüllt, aber barfuß, wenige Meter entfernt und plauschte mit anderen Frauen – undenkbar in deutschen Kirchen.

Jan wandte den Kopf und sah eine deutsche Reisegruppe, die sich lärmend über die »komischen Moslems« lustig machte. Offenbar Rentner aus Schwaben, die alle olivfarbene Multifunktionswesten mit unzähligen Taschen trugen und auch ihre Schuhe nicht ausgezogen hatten.

»Meinen Sie nicht, dass Sie nicht auch die Schuhe ausziehen sollten?«, fragte Jan den Ersten der Gruppe unfreundlich.

Ein feistes Gesicht schaute ihn feindselig an. »Was haben Sie denn damit zu tun?«, kam es in vorwurfsvollem Schwäbisch zurück.

Jan begriff, dass er hier mit Respekt und Höflichkeit nicht weiterkam. »Pass auf, du Pfeife, zieh die Schuhe aus, sonst werden sie dir abgehackt. Glaub’s mir, ich kenne mich hier aus.«

»Das will ich …« Der Mann wurde von seiner Frau angewispert. »Hans, das musst du halt hier machen«, sagte sie leise, aber bestimmt und zog ihre Schuhe dabei aus.

Die Gruppe folgte widerwillig. Ein Gefühl des stillen und warmen Triumphes durchströmte Jan. Er drehte sich langsam um und sah in das Gesicht eines blonden Mannes, der seinen Blick mit einem spöttischen Ausdruck erwiderte: »Na, fühlt sich gut an, was? Hast die Einheimischen echt vor deinen doofen Leuten beschützt.«

Der Mann klatschte aufreizend laut und langsam in die Hände. Er war kleiner als Jan, wirkte dennoch sehr sportlich, brauner Teint, eine lange Hose, aber unter dem T-Shirt wölbten sich starke Arme, vom Typ her ein in die Jahre gekommener Surfer.

»Was willst du?«, fragte Jan und reckte seinen Kopf.

»Mach dich mal locker, Alter.«

Wie Jan diese Sprüche hasste. »Nerv mich nicht und quatsch andere an, okay?«

Der Blonde setzte sich, hielt seine Hände hoch. »Ich wollte dich nicht anmachen, aber deine Art war etwas sehr aggressiv.«

Jan hörte einen ausländischen Tonfall aus den Worten heraus, konnte ihn aber nicht sofort einordnen. »Deinem Aussehen nach kommst du nicht aus Syrien.«

»Nein, aus den Niederlanden. Ein Problem?«

»Nein.« Doch. Jan mochte keine Holländer. Er war an der Grenze zu Holland aufgewachsen und hatte die Ablehnung der Nachbarn an jedem zweiten Wochenende, wenn seine Eltern zu »Frikandel und Koffie« rübergefahren waren, zu spüren bekommen. Moffenkind, das Schimpfwort der Holländer für sie, den großen Feind aus dem Osten. Man mochte sich nicht.

»Ich bin Ed van Rey. Dag.« Der Holländer reichte ihm die Hand. »Guten Tag, Jan Kistermann«, gab Jan unterkühlt zurück.

»Lass uns was essen gehen, Jan.« Der Holländer stupste ihn an. »Ich kenne den besten Schoarma-Laden hier in der Nähe.«

Jan musste grinsen. Der Typ hatte gerade wirklich die Stimme von Rudi Carrell imitiert. Er lächelte.

Also lief er neben dem um einen Kopf kleineren Holländer aus dem Innenhof. Sie bogen nach links, bahnten sich den Weg durch die Menschenmenge aus Händlern, Touristen und Bettlern, ehe sie vor einem Laden mit kleinen Stühlen und Bänken innehielten. Hatte Ed oder Eduard, wie er richtig hieß, noch brav im Showmaster-Dialekt mit ihm über Damaskus geplaudert, wechselte er jetzt in ein zumindest für Jan blütenreines Arabisch, er bestellte Schoarma, die arabische Entsprechung zum deutsch-türkischen Döner. Dazu kamen warme Bohnen, Käse, frischer Thymian und Sater-Saitun, wie Ed erklärte, eine Gewürzmischung, die mit Olivenöl auf Brot gegessen wurde. Er scherzte mit der Bedienung,...