Die Bar-Bolz-Bande, Band 1 - Barfuß auf Sieg!

von: Henry F. Noah, Jan Birck

Baumhaus, 2012

ISBN: 9783838711881 , 208 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 5,99 EUR

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Die Bar-Bolz-Bande, Band 1 - Barfuß auf Sieg!


 

Kicken oder quatschen wir?


Die ganze Luft roch nach Erde. Der Asphaltweg, der zum Jahnstadion führte, war noch nass, aber das Gewitter, das sich heute über die Stadt ergossen hatte wie eine galaktische Wasserbombe, hatte sich längst verzogen. Die Sonnenstrahlen blitzten messerscharf durch die Baumkronen. Licht wie in Zeitlupe, dachte ich.

Hatte Gott nicht manchmal eine seltsame Art, sich mitzuteilen? Mit einer solchen Deutlichkeit, dass einem angst und bange wurde? Ich hatte schon oft überlegt, ob ihm vielleicht ab und zu langweilig war. Oder ob er sich zu wenig beachtet fühlte. So wie ich. Ein schöner harmloser Landregen hätte es an einem 1. Juni doch auch getan.

Mit diesen Gedanken bog ich am Ende des von Schlaglöchern übersäten Weges in den kleinen Trampelpfad ein, den ich in den letzten Wochen höchstpersönlich niedergetrampelt hatte, so oft war ich schon hier gewesen. Er führte direkt hinter das verfallene Clubhaus, und von dort konnte man das gesamte Spielfeld überblicken.

Das Jahnstadion wurde seit Jahren nicht mehr genutzt und hätte eigentlich längst abgerissen werden sollen. Aus irgendeinem Grund geschah das aber nicht. Wahrscheinlich weil die Stadt kein Geld hatte. Oder keine Lust.

So schritt der natürliche Verfall der alten Sportstätte Jahr für Jahr fort und man konnte regelrecht zusehen, wie die Natur sich ihren Lebensraum langsam zurückeroberte. Mir gefiel das. Die steinernen Zuschauerränge waren schon komplett überwuchert, hauptsächlich mit Brombeerbüschen und Efeu. Selbst die vielen „Betreten verboten“-Schilder, für die sich sowieso kein Mensch interessierte oder je interessiert hatte, dienten höchstens noch als Kletterstangen für Schlingpflanzen und Schnecken. Ein geheimnisvoller Ort mitten in einer geheimnislosen Stadt, die zusehends in die Höhe wuchs. Was hier unten passierte, interessierte kaum noch jemanden.

Mich allerdings schon.

Hollywood und die Jungs waren gerade eingetroffen und kickten sich routiniert ein paar Bälle zu. Ich blieb wie immer ganz still, damit sie mich nicht bemerkten. Wie echte Profis sahen sie aus, und wieder einmal musste ich mir eingestehen, dass ich alles dafür gegeben hätte, einer von ihnen zu sein. Aber das war wohl nur Typen wie diesem Derik vorbehalten. Er war neu in der Schule und sprach nur, wenn er gefragt wurde. Außerdem lag sein Notendurchschnitt irgendwo zwischen vier und fünf. Perfekte Voraussetzungen für eine steile Karriere als Fußballer.

Hollywood und seine Clique, die sich als „Team Amerika“ seit dem letzten Jahr einen Namen in der Streetsoccer-Szene gemacht hatten, suchten seit einiger Zeit einen neuen Allrounder für ihre Mannschaft. Einen der schießen, passen und Tore machen konnte. Einen Goalgetter wie man in Fachkreisen sagt, technisch top, blitzschnell und zäh wie Schweinsleder. Kurzum: einen, der alles hatte, was mir niemand zutraute. Sich auf den freien Platz im Team zu bewerben, wäre in meinem Fall so sinnvoll gewesen wie Pudelmützen in der Wüste zu verkaufen. Wirklich gute Talente müssen nicht auf sich aufmerksam machen, sie werden entdeckt. Den Satz hatte ich mal irgendwo gelesen. Und leider brachte er die Wahrheit auf den Punkt.

Es war Viertel nach vier, als Derik sich endlich blicken ließ. Fünfzehn Minuten später als vereinbart und für Hollywood Grund genug, ihm einen Anschiss de Luxe zu verpassen. Das konnte er gut. Zu meinem Erstaunen ließ Derik das allerdings völlig kalt. Nachdem er seinen Rüffel kassiert hatte, schnappte er sich den Ball und legte ihn einfach auf den Anstoßpunkt. „Kicken oder quatschen wir, Holly?“ Das war das Einzige, was er sagte und so verdammt cool, dass ich es mir am liebsten aufgeschrieben hätte. Aber dafür blieb keine Zeit mehr, denn schon eine Sekunde später hatte er sein Feuerwerk gezündet.

Mit einem kurzen Lupfer hob er das Leder auf seine Fußspitze und balancierte es auf dem Spann, während seine blitzschnellen Augen nach einem geeigneten Korridor Ausschau hielten, durch den er seinen Triumphzug antreten konnte. Zwei, drei Mal hüpfte der Ball vom linken auf den rechten Fuß, bevor Derik ihn sich Volley vorlegte und mit einer dreiviertel Körperdrehung die Mitte zwischen Rock the Rock und Santiago suchte – und fand.

„Habt ihr sie noch alle?“, blaffte Hollywood seine Jungs an, die sich gegenseitig elegant abgegrätscht hatten. Dann rannte er, fest entschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, wie ein wutschnaubender Mustang auf Derik zu, der ihn jedoch kurzerhand wie einen blutigen Anfänger tunnelte. Was für eine Klatsche! Hollywood stand da wie am Boden festgetacktert, schaute mit offenem Mund über seine Schulter und musste mit ansehen, wie auch Philadelphias peinlicher Tackling-Versuch auf dem Hosenboden endete. Jetzt stand der Weg zum Tor frei. Weder Santiago noch Rock the Rock, die für ihre Supersprints berüchtigt waren, hätten noch irgendetwas ausrichten können, so viel war klar. Doch anstatt den Ball zu versenken und wohlverdient den Blick in die gedemütigten Mienen seiner Gegner zu genießen, dribbelte Derik kurz vor der Torlinie am Kasten vorbei und ließ ihn über die Seitenauslinie kullern. Für einen kurzen Moment war es mucksmäuschenstill. Selbst die Vögel hatten aufgehört zu singen.

Mein Herz pochte.

Wieso zum Teufel hatte Derik, für den es hier immerhin um einen Stammplatz im Team Amerika ging, das Ding nicht reingemacht? Eine logische Antwort darauf konnte ich jedenfalls nicht finden. Was aber womöglich daran lag, dass ich durch den Brombeerzweig, der sich frecherweise durch den Bund meiner Jeans direkt in meine Unterhose gebohrt hatte, kurzzeitig abgelenkt war.

Im Trudelschritt trabte Derik zurück zum Anstoßpunkt, half Philadelphia wieder auf die Beine und kommentierte seine kleine Showeinlage mit den Worten: „Nichts für ungut, Jungs, kann passieren!“ Hollywood dampfte wütend aus allen Poren, wurde knallrot wie ein Hokkaidokürbis und legte einen Finger auf sein rechtes Nasenloch, um das linke mit Hochdruck frei zu rotzen. (Ich nahm mir fest vor, das bei Gelegenheit mal zu üben.)

Rock the Rock übernahm Anstoß Nummer zwei und begann mit einem Dribbling auf die rechte Seite, bevor er den Ball zu Santiago passte, der ihn gleich an Philadelphia weitergab. Die Jungs wollten es diesmal besonders gut machen, das konnte man sehen, wobei das nachgewiesenermaßen oft dazu führte, dass es total daneben ging.

Eine Traumflanke auf Hollywood gab ihnen neues Selbstbewusstsein. Der Ball lief hin und her, von Hollywood auf Santiago, von Santiago auf Rock. Aber wo war Derik? Er machte nicht die geringsten Anstalten, die Kugel zurückzuerobern. Stattdessen wartete er seelenruhig ab, was passierte.

Bei diesem Probekick kam es nicht darauf an, Tore zu schießen. Die Jungs wollten nur testen, ob Derik das Zeug zum Streetkicker hatte. In fünf Tagen hatten sie ihr nächstes Spiel. Ein Vorrunden-Duell im diesjährigen Streetsoccer-Cup. Dort sollte sich Derik das erste Mal beweisen.

Ein halbhoher Blitzpass auf Philadelphia markierte den nächsten Angriff, um Derik aus der Reserve zu locken. Philly nahm den Ball direkt mit der Brust, ließ ihn abtropfen und kickte ihn auf Rock, der ihn mit der Präzision einer Laserkanone rüber zu Santiago schoss. Der stoppte ihn und wartete, bis Hollywood auf Position war. Plötzlich ging Derik in Lauerstellung. Jetzt wirkte er hochkonzentriert, registrierte jede Bewegung seines Gegenüber und machte den Raum zwischen Rock und Santiago dicht. Der folgende Pass von Hollywood auf Philadelphia war flach und präzise. Bevor Philly sich aber entscheiden konnte, an wen er den Ball weitergeben sollte, überrumpelte Derik ihn mit einem pfeilschnellen Antritt und grätschte ihm zwischen die Beine – ohne ihn dabei zu berühren! Meisterhaft. Flink stand er wieder auf und rannte der Kugel hinterher. Seine Oberschenkelmuskeln fletschten regelrecht die Zähne und jeder auf dem Feld wusste, dass nun wieder ein Feuerwerk explodieren würde, von dem man sich besser fernhielt.

Deriks Dribbling war perfekt. Er ließ den Ball zwischen seinen Füßen hin und her tanzen wie ein glühendes Stück Kohle. „Was ist?“, schrie Hollywood von hinten, „Holt euch das Ding!“ Doch die Jungs wussten, dass allein der Versuch einer Majestätsbeleidigung gleichgekommen wäre. So viel Respekt hatten sie.

Aber auch ich hatte so was noch nicht gesehen. Während Derik sich auf das Tor zu bewegte und den anderen ein Lehrstück in Sachen Ballbeherrschung darbot, spürte ich, wie aus meinen Händen langsam Fäuste wurden und mein Atem immer wieder aussetzte. Ich konnte seinen Abschluss kaum erwarten. Diesmal würde er den Ball doch im Tor versenken, oder? Diesmal hatte er ihn sich schließlich erkämpft. Ich sollte nicht enttäuscht werden.

Als Derik nur noch fünf Meter vom Tor trennten, verlangsamte er seinen Lauf und gab dem Ball noch einen letzten, gefühlvollen Schubser, um ihn in eine perfekte Schussposition zu bringen. Ein kurzer Blick ins linke Kreuzeck ließ seine Absicht erahnen. Dann zog er ab. Der Ball flog direkt zwischen Pfosten und Latte, passgenau durch das sich dort befindliche Loch im Netz und ungebremst auf einen dreizehnjährigen Jungen zu, der wenige Meter dahinter zwischen zwei Brombeerbüschen stand und das herannahende Kometengeschoss auf sich zufliegen sah.

Dieser Junge war ich.

Ich wusste nicht genau, ob es Engelsgesang war, den ich in den folgenden Sekunden hörte. Ich wusste nur, dass mein Kopf hinten tierisch schmerzte und dass mir vorne eine warme Flüssigkeit übers Gesicht lief, die aus meiner Nase abwärts in Richtung Hals rann und im Sekundentakt auf den Boden tropfte. Plitsch. Plitsch. Plitsch. So wie die Regentropfen, die noch immer in den Blättern über mir hingen und in der Sonne glänzten...