Das Buch der Schatten - Flammende Gefahr

von: Cate Tiernan

cbt Jugendbücher, 2012

ISBN: 9783641073619 , 256 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 6,99 EUR

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Das Buch der Schatten - Flammende Gefahr


 

1

Absturz

November 1999

Der Rat hat mich für »nicht schuldig« am Tod von Linden erklärt. Doch das Votum der sieben Älteren der Großen Clans ist nicht einstimmig ausgefallen. Der Vertreter von Vikroth und die von Wyndenkell, die Clanvertreterin meiner Mutter, haben gegen mich gestimmt.

Fast hatte ich gehofft, sie würden mich verurteilen, denn dann wäre mein zukünftiger Lebensweg wenigstens klar gewesen. Und in gewisser Weise war ich ja auch schuld an Lindens Tod, oder? Mit meinem Gerede über Rache habe ich Lindens Kopf gefüllt und ihn auf die Idee gebracht, die dunklen Mächte anzurufen. Wäre mein Bruder nicht durch mich ums Leben gekommen, hätte er auf dem Weg, den ich ihm gewiesen hatte, gewiss irgendwann den Tod gefunden.

Als man mich für unschuldig erklärte, war ich verloren, wusste ich doch, dass ich für den Rest meines Lebens für seinen Tod büßen würde.

– Gìomanach

Schneeflocken und Graupel fegten um meine Wangen. Ich kämpfte mich durch den Schnee und stützte Cal, während meine Füße allmählich zu Eis wurden. Cal stolperte und ich nahm all meine Kraft zusammen. Im Mondschein sah ich sein Gesicht und erschrak, wie bleich er war, wie geschlagen, wie krank. Mühsam stapfte ich mit ihm durch den dunklen Wald und hatte das Gefühl, dass wir für jeden Schritt, der uns von der Klippe fortbrachte, eine Stunde brauchten.

Die Klippe. Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie Hunter mit den Armen wedelnd rücklings über den Rand stürzte. Galle stieg in meiner Kehle auf und ich schluckte krampfhaft. Ja, Cal war in einem schrecklichen Zustand, aber Hunter war wahrscheinlich tot. Tot! Und Cal und ich hatten ihn umgebracht. Cal wankte gegen mich und ich hielt ihn erneut, während ich tief, aber zitternd einatmete.

Zusammen stolperten wir durch den Wald, begleitet nur von dem fiesen Zischen des Graupels auf den schwarzen Ästen um uns herum. Wo genau lag Cals Haus?

»Gehen wir in die richtige Richtung?«, fragte ich ihn. Der eisige Wind riss mir die Worte von den Lippen.

Cal blinzelte. Ein Auge war zugeschwollen und bereits blau geworden. Sein wunderschöner Mund war blutverschmiert, die Unterlippe aufgeplatzt.

»Egal«, sagte ich und schaute nach vorn. »Ich glaube, die Richtung stimmt.«

Als Cals Haus in Sicht kam, waren wir beide nass bis auf die Knochen und halb erfroren. Unruhig hielt ich auf der runden Auffahrt Ausschau nach Selene Belltowers Auto, doch Cals Mutter war noch nicht zu Hause. Nicht gut. Ich brauchte Hilfe.

»Müde«, sagte Cal benommen, als ich ihm die Stufen zur Haustür hochhalf. Irgendwie schafften wir es ins Haus hinein, doch dort wurde mir klar, dass ich ihn unmöglich rauf in sein Dachzimmer schleppen konnte.

»Da.« Cal wies mit der von den Faustschlägen auf Hunter geschwollenen Hand in Richtung Wohnzimmer. Bleischwer vor Müdigkeit taumelte ich durch die Tür und half Cal, sich auf das blaue Sofa fallen zu lassen. Er kippte zur Seite und rollte sich auf den Kissen zusammen, vor Kälte zitternd und mit blassem Gesicht.

»Cal«, sagte ich, »wir müssen die Feuerwehr rufen. Wegen Hunter. Vielleicht finden sie ihn ja. Womöglich ist es noch nicht zu spät.«

Cals Gesicht verzog sich zu einer grotesken, halb lachenden Fratze. Seine aufgerissene Lippe blutete und auf seiner Wange prangten blaue Flecken. »Zu spät«, krächzte er mit klappernden Zähnen. »Da bin ich mir ganz sicher.« Er schloss die Augen und wies mit einem Nicken auf den Kamin. »Feuer.«

War es für Hunter wirklich zu spät? Ein winziger Teil von mir hoffte es beinahe – wenn Hunter tot war, konnten wir ihm nicht mehr helfen und ich musste es erst gar nicht versuchen.

Aber war er wirklich tot? Ein Schluchzen stieg in meiner Kehle auf. War er tot?

Okay, dachte ich und versuchte, mich zu beruhigen. Okay. Analysier die Situation. Mach einen Plan. Ich kniete mich hin und schob mit unbeholfenen Bewegungen Zeitungspapier und Anmachholz auf dem Kaminrost zusammen. Dann wählte ich drei große Scheite aus und legte sie darauf.

Ich sah nirgends Streichhölzer, deshalb schloss ich die Augen und versuchte, im Geiste Feuer herbeizurufen. Doch es war, als hätten meine magischen Kräfte mich verlassen. Ja, allein von dem Versuch, sie herbeizubeschwören, bekam ich stechende Kopfschmerzen. Nachdem ich siebzehn Jahre lang ohne Magie gelebt hatte, war es jetzt mehr als beängstigend, ihrer plötzlich wieder beraubt zu sein. Ich öffnete die Augen und sah mich hektisch um. Schließlich entdeckte ich auf dem Kaminsims ein Stabfeuerzeug, holte es und hielt es in den Kamin.

Das Papier und das Anmachholz fingen rasch Feuer. Ich beugte mich vor, um die heilende Wärme der Flammen zu spüren, dann schaute ich wieder zu Cal. Er sah miserabel aus.

»Cal?« Ich half ihm, sich so weit aufzusetzen, dass ich ihm die Lederjacke ausziehen konnte. Dabei achtete ich darauf, nicht über seine Handgelenke zu schrammen, die dort, wo Hunter versucht hatte, ihn mit einer seltsamen magischen Kette zu fesseln, offen und voller Brandblasen waren. Ich zog ihm auch die nassen Stiefel aus. Dann deckte ich ihn mit einer Patchworkdecke aus Samt zu, die kunstvoll über ein Ende der Couch drapiert war. Er drückte meine Hand und deutete ein Lächeln an.

»Bin gleich wieder da«, sagte ich und eilte in die Küche. Während ich darauf wartete, dass das Wasser kochte, überkam mich eine schreckliche Einsamkeit. Ich lief hinauf in die erste Etage und suchte im ersten Badezimmer, das ich fand, nach Verbänden, dann ging ich wieder runter und goss eine Kanne Kräutertee auf. Ein blasses Gesicht mit anklagenden grünen Augen schien mich aus dem Dampf, der von der Teekanne aufstieg, anzusehen. Hunter. O Gott, Hunter.

Hunter wollte Cal umbringen, ermahnte ich mich. Er hätte womöglich versucht, auch mich zu töten. Trotzdem, es war Hunter, der über den Rand der Klippe in den Hudson River – voll mit Eisklumpen so groß wie sein Kopf – gestürzt war. Es war Hunter, der wahrscheinlich von der Strömung mitgerissen worden war, und es war Hunter, dessen Leiche man am nächsten Tag finden würde. Oder auch nicht. Ich kniff die Lippen zusammen, um nicht aufzuschluchzen, und ging zurück zu Cal.

Langsam flößte ich ihm einen ganzen Becher Hydrastiswurzel-Ingwer-Tee ein. Danach hatte er schon wieder ein bisschen Farbe bekommen. Seine Handgelenke tupfte ich vorsichtig mit einem feuchten Tuch ab, dann verband ich sie mit einer Gazebinde, die ich im Bad gefunden hatte, doch die Haut war voller Bläschen und tat bestimmt höllisch weh.

Dann legte Cal sich wieder hin und schlief. Seine Atemzüge gingen unregelmäßig. Hätte ich ihm Tylenol geben sollen? Sollte ich Hexenmedizin suchen gehen? In der kurzen Zeit, da ich Cal kannte, war er in unserer Beziehung immer der Starke gewesen. Ich konnte mich immer auf ihn verlassen. Jetzt verließ er sich auf mich, und ich wusste nicht, ob ich stark genug war.

Die Kaminuhr über meinem Kopf schlug langsam drei Mal und ich hob den Blick. Drei Uhr! Ich stellte meinen Becher auf den Couchtisch. Ich hätte mich eigentlich bei meinen Eltern melden sollen, wenn ich erst nach Mitternacht nach Hause käme. Und ich hatte nicht mal mein Auto hier – Cal hatte mich abgeholt. Er konnte auf keinen Fall fahren. Und Selene war noch nicht zurück. Verdammt!, sagte ich zu mir selbst. Denk nach, denk nach.

Ich könnte meinen Vater anrufen und ihn bitten, mich abzuholen. Eine alles andere als verlockende Aussicht.

Um in Widow’s Vale ein Taxi zu rufen, war es auch zu spät, denn das Taxiunternehmen bestand im Wesentlichen aus Ed Jinkins, der mit seinem alten Cutlass Supreme am Bahnhof rumhing.

Ich könnte Cals Wagen nehmen.

Fünf Minuten später verließ ich leise das Haus. Cal schlief. Ich hatte den Schlüssel aus seiner Jacke genommen, ihm ein paar Worte zur Erklärung aufgeschrieben und den Zettel in der Hoffnung, dass er mich verstand, auf den Wohnzimmertisch gelegt. Jäh hielt ich inne, als mein Blick auf Hunters grauen Sedan fiel, der wie eine Anklage in der Einfahrt stand. Mist! Was sollte ich mit seinem Auto machen?

Nichts. Hunter hatte die Schlüssel. Und er war fort. Allein konnte ich das Auto unmöglich aus dem Weg schieben, und überhaupt wäre mir das irgendwie sehr … methodisch vorgekommen. So geplant.

Mein Kopf drehte sich. Was sollte ich machen? Wellen der Erschöpfung überkamen mich, die mich an den Rand der Tränen brachten. Aber ich musste akzeptieren, dass ich nichts tun konnte. Um Hunters Wagen mussten Cal oder Selene sich kümmern. Zitternd stieg ich in Cals goldenen Explorer, schaltete das Fernlicht ein und fuhr nach Hause.

Cal hatte heute Nacht magische Sprüche gegen mich gewirkt, Fesselsprüche, sodass ich mich nicht vom Fleck hatte rühren können. Warum? Damit ich mich nicht in seinen Kampf mit Hunter einmischte? Damit mir nichts passierte? Oder weil er mir nicht vertraute? Also, wenn er bisher gedacht hatte, er könnte mir nicht vertrauen, dann war er jetzt eines Besseren belehrt worden. Ein leicht hysterisches Kichern stieg in mir auf und ich biss die Zähne zusammen. Nicht jedes Mädchen würde dem Feind ihres Freundes einen zeremoniellen Wicca-Dolch in den Hals schleudern.

Hunter hatte versucht, Cal zu töten, hatte ihm die Hände mit einer magischen Silberkette zusammengebunden, die Cals Haut verbrannte, sobald sie...