Die Naschmarkt-Morde - Historischer Kriminalroman

von: Gerhard Loibelsberger

Gmeiner-Verlag, 2009

ISBN: 9783839233801 , 278 Seiten

13. Auflage

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: DRM

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Preis: 13,99 EUR

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Die Naschmarkt-Morde - Historischer Kriminalroman


 

III/2. Kapitel


»Staaarrrrni! Staaarrrrni? Staaarrrrni!«

Träge hob Stanislaus Gotthelf das rechte Augenlid. Sonnenlicht sickerte in den Raum. Wieder und wieder erklang: »Staaarrrrni!« Die gekreischte Verunstaltung seines Namens schmerzte ihn heute noch mehr als sonst. Er hatte einen dröhnenden Schädel, der sich groß und hohl wie ein Briefkasten anfühlte. Und in diesem Hohlraum dröhnte in einem fort: »Staaarrrrni!«

Mit Mühe zog er den Kopfpolster unter seinem Briefkastenhaupt hervor und schleuderte ihn auf den Schreihals. Dieser quittierte die Attacke mit heftigem Flügelgeflatter, irrem Gezeter sowie einem »Geh scheißen, Staaarrrrni!«.

Damit kehrte endlich Ruhe ein, und Gotthelf versank für eine weitere Stunde in einen unruhigen Schlaf. Er träumte von seiner Mutter. Eine Fratschlerin, die berühmt-berüchtigt für ihr ordinäres Mundwerk war. Berühmt vor allem deshalb, weil sie als kräftige und energische Frau durchaus imstande war, ihren Mann zu stehen. Die Naschmarkt-Sopherl war wahrscheinlich nur einmal in ihrem Leben schwach geworden, und als Folge dieses Ausrutschers hatte sie ein Kind bekommen. Dieses Kind – sie nannte es den Pamperletsch – wuchs mehr schlecht als recht auf. Von Kleinkindesalter an hieß es früh aufstehen und beim Einkaufen der Ware sowie bei der Arbeit am Markt helfen. Denn der Pamperletsch war viele Jahre lang das beste Verkaufsargument seiner Mutter.

»Ist er nicht lieb, der Kleine? Und hungrig ist er … Ich sag Ihnen, der frisst mir noch die Haare vom Schädel. Gnädige Frau, kaufen Sie mir doch ein Suppengrün und den herrlichen Schnittlauch ab! Das kostet nicht viel und hilft mir, den Pamperletsch zu füttern …«

Diese Lüge störte den kleinen Stani nicht weiter. Schlimm war aber, dass er ständig Lumpen anziehen musste, die bei den miesesten Altkleiderhändlern der Stadt erstanden worden waren. Diese Schäbigkeit diente dazu, Mitleid bei den Köchinnen und gnädigen Frauen, die am Markt einkaufen gingen, zu erregen. Das Mitleidheischen führte unter anderem dazu, dass manche der Damen ihm einen Heller zusteckten, damit er sich eine Zuckerstange kaufen konnte. Diese Zuwendung liebte der Stani. Denn nichts beflügelte seine Fantasie mehr als die Düfte der Damen, die er gierig einatmete, wenn sie sich flüchtig zu ihm herabbeugten. Solche wunderbar duftenden Wahrnehmungen waren für ihn ein Eintauchen in eine andere, schönere Welt. Eine Welt der Weiblichkeit, der Wollust und des Wohlstands.

Seine Mutter nahm ihm übrigens jeden Heller sofort ab, sobald die Wohltäterin außer Sichtweite war. Dies hatte er sich mit zunehmendem Alter immer unwilliger gefallen lassen. Als knapp Zehnjähriger machte er dann um zwei Heller eine eiserne Faust, und als seine Mutter nach einer kurzen Rauferei die Faust geöffnet hatte, biss er sie voll Wut in die Hand. Die Naschmarkt-Sopherl machte einen Schmerzensschrei, ließ darauf alle ihre am Körper hängenden Körbe mit Gemüse fallen und packte ihn mit der unverletzten Hand am Schlafittchen. Dann zog sie dem um sich tretenden und wie ein Ferkel quietschenden Pamperletsch vor allen Leuten die Hose herunter und versohlte seinen Hintern, bis dieser so glühend rot war wie die Bisswunde an ihrer Hand.

Ab diesem Zeitpunkt durfte er die milden Gaben der schönen Frauen zwar behalten, zu seinem Bedauern versiegten sie jedoch in zunehmendem Maße, da er allmählich kein kleines Kind mehr war, sondern sich zu einem langen Lulatsch******** auswuchs. Nun musste er bei seiner Mutter noch härter arbeiten, ihr schwere Sachen schleppen helfen sowie zahlreiche Besorgungsgänge machen. Schließlich wurden für ihn Tragkörbe angeschafft, mit denen auch er Gemüse verkaufte. Für die Schule blieb während all dieser Jahre keine Zeit. Gotthelf schaffte es trotzdem, das Lesen einigermaßen zu erlernen, seine Schreibkünste beschränkten sich allerdings auf das Schreiben des eigenen Namens. Als einmal ein Schulinspector höchstpersönlich zu seiner Mutter kam, legte sie dermaßen mit üblen Beschimpfungen los, dass es dem Mann die Sprache verschlug. Unverrichteter Dinge zog er aus der feuchten Wohnung im zweiten Hof links hinter der Handschuhmanufaktur wieder ab. Und der Stani musste weiterhin nicht die Schulbank drücken.

Ein Brennen im Magen weckte Gotthelf. Sein Mund war trocken, die Zunge pelzig. Wasser, war sein einziger Gedanke. Trotzdem blieb er regungslos liegen, sein Körper war schwer wie Blei. Er brachte nicht genug Willenskraft auf, sich einen Ruck zu geben und aufzustehen. Das Gegenteil war der Fall: Je länger er in diesem halbwachen, von Durst gepeinigten Zustand verharrte, desto unmöglicher erschien es ihm, aufzustehen und den ersehnten Schluck Wasser zu trinken. Nach einiger Zeit mobilisierte er schließlich all seine Willenskraft, spannte die Muskeln an und setzte sich ruckartig auf. Dies hatte zur Folge, dass sein in Mitleidenschaft gezogener Kreislauf aussetzte und ihm schwarz vor Augen wurde. Glücklicherweise konnte er sich am Betthaupt festhalten. Zutiefst bereute er, dass er gestern Abend, nach dem neuerlichen Nichterscheinen seiner Geliebten, mit der Oprschalek geschnaxelt******** und sich danach dem Suff hingegeben hatte.

Als er eine Stunde später bleich und übel riechend in die Specerei und Consumwaren Handlung der Lotte Landerl taumelte, rief die Greislerin voll Entsetzen: »Jessasmarandjosef! Wie siehst denn du aus, Stani?«

Gotthelf suchte Halt an dem Bedienungspult, überbrückte ein kurzes Kreislauftief und tastete sich dann an dem Pult entlang zum Durchgang in das private Hinterzimmer des Ladens. Dort ließ er sich mit einem Seufzer der Erleichterung auf das Kanapee des Hausherrn fallen, wohl wissend, dass dieser wieder beim Branntweiner weilte. Toni, der Papagei, hatte sich die ganze Zeit über tapfer an der Schulter seines Herren festgekrallt. Als dieser sich fallen ließ, schrie er kreischend auf und flatterte auf die Lehne des Kanapees. Die Greislerin trat besorgt an Gotthelfs Seite, legte ihm die Hand auf die Stirne und seufzte: »Mein Gott, Stani … Was ist dir denn über die Leber gelaufen, dass du dich so angesoffen hast? Du siehst ja heute gerade so aus, wie mein Alter alle Tage ausschaut.«

Der Stani genoss die liebevolle Zuwendung und ant­wortete vorerst nicht. Schließlich raunzte er mit gebrochener Stimme: »Weißt du, Lotte, das Leben ist ein Hund. Und weil es so hundsmiserabel ist, das Leben, muss man manchmal den Aggregatzustand wechseln. Von fest auf flüssig …«

»Zum Kuckuck, Stani! Mir scheint, dass du dich gestern um deinen Verstand gesoffen hast. Was hat so ein Mensch wie du sich in einem Agrarzustand zu befinden? Und den dann auch noch zu wechseln?«

»Aggregatzustand, Lotte! Das ist, ob man fest, flüssig oder gasförmig ist … Das hab ich im Konversationslexikon, das was im Café Sperl aufliegt, gelesen. Und gestern hab ich mich mittels Zufuhr ungeheurer Mengen Alkohols verflüssigen wollen … vor lauter Kummer. Verstehst?«

»Und am nächsten Morgen geht es dir dann noch schlechter. Du bist mir ein schöner Depp …«

»Tu nicht schimpfen, Lotte«, stöhnte er, nahm ihre Hand und küsste sie.

»Weißt du, da du mich so selten erhörst, weil du ja im Grunde deiner Seele trotz allem deinen Alten lieb hast, muss ich mich halt auch anderweitig orientieren …«

Die Greislerin entzog ihm die Hand mit einem Ruck.

»Und weil die betreffende Dame zum Rendezvous einfach nicht erschienen ist, hab ich mich ansaufen müssen.«

»Ihr Männer seid alle Gauner!«, stellte die Landerl fest. Sie ging zu dem kleinen Gasrechaud im Zimmer und kochte dem Stani einen Kaffee. Dabei räsonierte sie: »Wir Weiber sind immer die Dummen. Wir werden belogen, betrogen, geprügelt, verraten, versetzt und am Ende vielleicht auch noch umgebracht …«

»Was redest du denn da zusammen? Ich kenne keinen Mann, der eine Frau umbringen täte. Und dein Alter schon gar nicht. Der ist nur oft besoffen, aber sonst ist er ein ganz lieber Mensch.«

»Von dem rede ich nicht. Ich rede von dem Wahnsinnigen, der gestern Nacht ein Mädel am Naschmarkt erwürgt hat.«

»Was?«

»Na, ein Mädel ist stranguliert worden …«

»Um Gottes willen! Hoffentlich war das nicht die Minerl!«

Nach dem ersten Schreck begann Gotthelf laut zu überlegen: »Andererseits ist die Minerl ja kein Mädel. Die ist eine gnädige Frau, eine Hochwohlgeborene. Also kann sie nicht das bedauernswerte Opfer sein.«

»Ah, da schau her! Der Herr Gotthelf hat sich eine Dame aus den besseren Kreisen angelacht. Eine Hochwohlgeborene, eine Adelige. Anscheinend ist eine einfache Frau wie ich ihm nicht mehr gut genug. Na wenn das so ist, dann braucht der Herr Gotthelf ja auch nicht mehr den Kaffee von der Greislerin trinken. Dann kann er ja seinen Kater woanders auskurieren.«

Mit diesen Worten drehte sie den Rechaud ab, zerrte Gotthelf vom Kanapee und setzte ihn an die frische Luft. Diese schoss kräftig in seinen Körper ein, Sauerstoff belebte die Gehirnzellen. Nüchternheit stellte sich ein, und mit ihr die Erkenntnis, dass er gerade einen Riesenblödsinn begangen hatte. Noch einmal wurde die Tür der Greislerei aufgerissen. Die Landerl hatte Toni auf der Hand, der vor Aufregung kreischte und wild flatterte. Mit einem energischen Ruck warf sie den Papagei in die Luft, machte auf dem Absatz kehrt und schlug die Tür hinter sich zu. Flügelschlagend steuerte Toni auf seinen Herren zu, der ihn, so gut es...