Die Henkerin - Historischer Roman

von: Sabine Martin

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2012

ISBN: 9783838710945 , 560 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 8,99 EUR

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Die Henkerin - Historischer Roman


 

DER HINTERHALT


JUNI 1325

De Bruce tätschelte Diabolos Hals. Der Rappe schnaubte leise und scharrte mit den Hufen.

»Immer mit der Ruhe, mein Guter. Es wird nicht mehr lange dauern. Bald wirst du ein Schauspiel erleben, das seinesgleichen sucht. Allerdings darfst du nicht mitspielen. Du bist mir zu wertvoll, als dass ich es zulassen könnte, dass du im Kampf verletzt wirst. Das musst du verstehen.«

Das Pferd legte die Ohren nach hinten und schüttelte die Mähne. De Bruce nickte Adam, seinem neuen Knappen, zu, der ein wenig abseits stand und die Schlucht hinunterspähte. »Diabolo versteht mich immer noch am besten von allen, ist es nicht so?«

Adam neigte den Kopf. »Wie immer habt Ihr recht, Herr.«

De Bruce hob eine Augenbraue. »Du hängst dein Fähnchen nach dem Wind, pass auf, dass nicht eines Tages ein Sturm das Fetzchen Stoff in Stücke reißt.«

Der Knappe lächelte verschmitzt. »Wenn der Sturm kommt, wird die Fahne eingerollt. Meine zumindest. Nur wer versucht, dem Sturm zu trotzen, wird davongeweht.«

De Bruce lachte. Auch zusammengerollte Fähnchen trat er mühelos in den Staub, das würde dieser vorwitzige Bursche noch früh genug begreifen. Er fischte eine Mohrrübe aus einem Leinenbeutel am Sattel und hielt sie dem Pferd vor die Nase. Vorsichtig pickte es die Möhre aus de Bruce’ metallbewehrter Faust.

De Bruce streckte sich und seufzte zufrieden. Er wandte sich Adam zu, der mit zusammengekniffenen Augen den Wald absuchte. »Ja, schau nur. Du wirst nichts sehen. Sie werden es erst merken, wenn sie in der Falle sitzen. Der Sturm wird so schnell über sie hinwegfegen, dass sie keine Zeit haben werden, ihre Fähnchen in Sicherheit zu bringen. Nichts wird von ihnen bleiben. Wie gut, dass die Menschen so einfältig sind, nicht wahr? Und jetzt mach schon, hilf mir hoch.«

Adam stellte einen kleinen Holzschemel vor das Pferd, führte seinen Herrn an die richtige Stelle, hob erst das eine, dann das andere Bein auf den Schemel.

De Bruce griff mit einer Hand an den Sattelknauf, mit der anderen fasste er den Sattel. Mit einem Ruck und Adams tatkräftiger Hilfe schob er sich auf das Pferd, das einen kleinen Schritt zur Seite machen musste, um das Gewicht abzufangen. Reiter und Rüstung wogen an die zweihundertfünfzig Pfund, und das war auch für ein geborenes Schlachtross wie Diabolo keine Kleinigkeit.

»Das machst du gut, mein Bester.« Liebevoll tätschelte de Bruce seinem Pferd den Hals. Er beabsichtigte zwar nicht, sich am Kampf zu beteiligen, war aber dennoch mit der Rüstung auf Nummer sicher gegangen. Ein verirrter Armbrustbolzen, eine Axt, die ihr Ziel verfehlte, oder ein Speer, der irgendwo abprallte, waren jederzeit gefährlich. Außerdem konnte immer noch das Unmögliche geschehen, dass er doch eingreifen musste, und dann brauchte er so viel Metall um sich herum wie möglich. Auf jeden Fall würde er dann das Pferd wechseln. Diabolo durfte keiner Gefahr ausgesetzt werden.

Adam prüfte den Sitz der Beinschienen und die Festigkeit des Sattelgurtes, zog den Schweifgurt strammer, damit der Sattel nicht nach vorne wegrutschen konnte. Die Schlucht war steil, ein Sturz vom Pferd mit großer Wahrscheinlichkeit tödlich.

»Ich danke dir, Adam«, sagte de Bruce. »Wie immer machst du gute Arbeit. Eines Tages wirst du hier oben sitzen, und ein Knappe wird dir dienen. Da bin ich mir sicher.« Vorausgesetzt, du bleibst nicht so ein verweichlichter Geck, der blass wird, wenn man einem Mann die Zunge herausreißt, fügte er in Gedanken hinzu. So einen wie Adam hätte er sich niemals ausgesucht, aber er hatte keine Wahl gehabt. Graf Eberhard I., sein Lehnsherr, hatte ihn gebeten, Adam unter seine Fittiche zu nehmen, ihn jedoch nicht allzu hart anzufassen. Und die Bitte des Grafen kam einem Befehl gleich. Nun war Eberhard tot, und Adam stand unter dem Schutz seines Sohnes, des Grafen Ulrich III., was bedeutete, dass er in fünf Jahren, wenn er einundzwanzig wurde, zum Ritter geschlagen würde, auch wenn er sich im Kampf nicht bewährte.

De Bruce verzog das Gesicht. Schweiß sammelte sich auf seiner Haut, auf dem Rücken, unter den Achseln und am Kopf. Sogar seine Hände begannen zu schwitzen. Der Tag war noch nicht weit fortgeschritten, doch die Luft flimmerte bereits vor Hitze, und die Polsterungen machten aus der Rüstung einen Backofen. Zum Glück würde die Schlacht ohnehin nicht lange dauern.

»Gut.« De Bruce straffte die Schultern. »Lass uns etwas Unglaubliches vollbringen.«

Als er sah, dass Adam sich bekreuzigte, lachte er schallend. »Mein lieber Freund, wenn Gott keinen Gefallen an mir hätte, dann wäre ich schon lange tot. Auf jetzt, unsere Beute wartet!«

Melisande rutschte unruhig auf dem harten Holz hin und her. Anfangs hatte sie versucht, sich dem Rhythmus der Ochsen anzupassen, die den Karren zogen, aber das hatte sie schnell aufgegeben. Der Weg strotzte von Unebenheiten und Löchern, sodass sie sich festhalten musste, um nicht von der Kleidertruhe zu fallen. Immer wenn eins der mühlsteingroßen Räder in den Untergrund einsackte, hob sich das andere in die Luft.

Konrad, Melisandes Vater, hatte darauf bestanden, die Familie in diesem unbequemen Gefährt nach Hause zu bringen. Und Beata, Melisandes Mutter, hatte dafür gesorgt, dass sie ein hässliches Leinenkleid anzog. Wie ein Sack hing der grobe Stoff an ihr herunter, sie sah damit aus wie ein Bauernjunge, der etwas zu schmal geraten war. Die rindsledernen Schuhe hatte Melisande ausgezogen, um sich ein wenig Kühlung zu verschaffen. Ihre langen feuerroten Haare hatte sie mit einer silbernen Spange hochgesteckt, das einzige Schmuckstück, das sie als Tochter der reichen Kaufmannsfamilie Wilhelmis auswies.

Es kam Melisande vor, als seien sie schon seit Tagen unterwegs. Dabei waren sie erst am Morgen aufgebrochen, und es war nicht mehr weit bis Esslingen, wo sie ein großes Haus am Marktplatz bewohnten. Trotzdem fragte sie ihre Mutter wohl zum hundertsten Mal, wann sie denn endlich da sein würden.

»Wenn die Sonne untergeht, sind wir zu Hause«, sagte Beata geduldig und streichelte Gertrud, die in ihren Armen schlief, über den Kopf.

Melisande verzog das Gesicht. Ihre kleine Schwester konnte immer und überall schlafen. Selbst wenn Blitz und Donner alle in Angst und Schrecken versetzten, lag sie zusammengerollt auf ihrem Lager und wachte nicht auf. Sie selbst sehnte sich nach irgendeiner Beschäftigung. Wenn sie wenigstens sticken könnte. Oder lesen. Aber das ging bei dem Gerumpel nicht. Bevor sie auch nur einen Stich in den Stoff gemacht hätte, hätte sie sich zehnmal mit der Nadel in den Finger gestochen. Und die Buchstaben, die von den Abenteuern der edlen Ritter Parzival und Gawan erzählten, würden so wild vor ihren Augen herumtanzen, dass ihr übel würde.

Schreiben war erst recht unmöglich. Sonst hätte sie den Psalm übersetzen können, den ihr der Magister aufgegeben hatte. Psalmen, wie furchtbar! Melisande las lieber Geschichten von Rittern und Drachen. Gawan, das war ein Held nach ihrem Geschmack. Wie tapfer er war! Und wie gewandt. Wenn sie doch nur im wirklichen Leben einmal einem solchen Ritter begegnen würde! Stattdessen musste sie die Bücher Moses abschreiben und Psalmen auswendig lernen.

Immerhin, Vater und Mutter waren stolz auf sie. Und weil sie so gut war in Latein, Rechnen und Lesen, durfte sie manchmal mit Pfeil und Bogen üben. Den anderen Mädchen war das nicht erlaubt, und Vater und Mutter hatten ihr eingeschärft, es niemandem zu erzählen.

Das Gefährt bäumte sich wieder auf, Melisande krallte sich am Karrenrand fest und spürte einen harten Stoß im Steißbein. Wenn das so weiterging, würde sie eine Woche lang nicht sitzen können. Sie rutschte von der Truhe und schlug die Plane beiseite, die Vater gespannt hatte, um Mutter vor der Sonne zu schützen. Beata sah ulkig aus mit ihrem dicken Bauch und den großen Brüsten. Und ihr Gesicht war auch ganz rund. Alles an ihr war rund, seit das neue Geschwisterchen in ihr wuchs. Vater hatte gesagt, es würde bestimmt ein Junge werden, aber Mutter hatte nur stumm gelächelt.

Melisande blinzelte in die Sonne. Direkt vor ihr klapperte eine Rüstung. Vielfach spiegelte sich die Sonne in dem polierten Metall. Melisande kannte den Mann nicht. Er machte den Eindruck, jeden Gegner in den Staub treten zu können. Sein Ross war mächtig wie ein Zuchtbulle, schnaubte wie ein Drache und schien ständig nach irgendetwas Ausschau zu halten, das es angreifen konnte. In der Rechten hielt der Mann eine Lanze, an der linken Seite hing eine Armbrust und auf dem Rücken ein Bihänder, mit dem man mit einem einzigen Streich einen Mann von oben bis unten in zwei Teile spalten konnte. Sofern man die Kraft besaß, die schwere Waffe zu heben.

Einmal hatte Melisande ein solches Schwert anfassen dürfen. Mit Müh und Not hatte sie es vom Boden hochbekommen. Einen Hieb hatte sie damit nicht führen können. Der Onkel hatte es ihr vorgeführt: Wie einen Strohhalm hatte er die Waffe geschwungen und ein totes Schwein von oben bis unten gespalten. Mutter war puterrot geworden vor Wut und hatte dem Gatten ihrer Schwester alle Höllenqualen angedroht, wenn er solch einen Unfug noch einmal machen würde, aber Vater war ruhig geblieben. Er hatte Mutter auf die Seite genommen, gelächelt und leise mit ihr gesprochen. Sie hatte sich wohl durchgesetzt, denn Vater und Onkel waren danach einige Tage mürrisch und wortkarg durch die Gegend gelaufen. Vor zwei Jahren war das gewesen, und seitdem hatte sie nie wieder eine solche Waffe anfassen dürfen.

»Wenn ich dich mit einem Schwert erwische, dann stecke ich dich ins Kloster! Haben wir uns verstanden?«, hatte Mutter ihr mit dem Zeigefinger vor der Nase prophezeit.

Melisande hatte verstanden. Und...