Die Frau des Seiltänzers - Historischer Roman

von: Philipp Vandenberg

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2011

ISBN: 9783838710174 , 461 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Die Frau des Seiltänzers - Historischer Roman


 

2. KAPITEL


Nach sieben Tagen, die bei ihr den Eindruck hinterließen, als sei sie mehrmals im Kreis gelaufen, trat Magdalena aus dem triefenden Buchenwald. Vor ihr lag ein weites Tal. Tief dahinjagende, dunkle Wolken hingen über den Wiesen. Und dort, auf halber Strecke, wo das Tal wieder zu einer Höhe anstieg, lag das mächtige Anwesen, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte. Während der vier Jahre im Kloster Seligenpforten war ihr dieser Anblick stets im Gedächtnis geblieben: das stolze Herrenhaus mit den Wirtschaftsgebäuden zu beiden Seiten.

Magdalena raffte ihre vom Regen schwer gewordenen Röcke mit beiden Händen und begann bergab zu laufen, wie sie es als Kind oft getan hatte. Mit einem Sprung setzte sie über den Bach, der das Tal in zwei ungleiche Hälften teilte. Dann hielt sie keuchend inne. Wie würden ihr Vater und Bruder reagieren, wenn sie so unerwartet auftauchte?

In Gedanken versunken, erreichte Magdalena den Hof. Die Eingangstüre war verschlossen. Magdalena klopfte einmal und noch einmal. Schließlich wurde die Türe geöffnet, und ein unbekanntes Gesicht blickte misstrauisch aus dem Türspalt.

»Ich bin Magdalena. Ist mein Vater zu Hause?«

Die Frau im Türspalt gaffte sie wortlos an. Sie war etwa im selben Alter wie Magdalena.

»Deinen Vater haben sie vor zwei Jahren zu Grabe getragen«, antwortete die Unbekannte barsch.

»Tot?« Magdalena schluckte.

»Die beiden wurden von einer umstürzenden Buche erschlagen.«

»Die beiden?«

»Vater und Sohn – Gebhard, mein Mann. Ich bin Gebhards Witwe.«

»Die Frau meines Bruders Gebhard«, murmelte Magdalena tonlos vor sich hin. Zu plötzlich stürzte die Nachricht auf sie ein. Sie fand nicht einmal Gelegenheit zu trauern.

»Ich weiß«, fuhr die fremde Frau fort, und ihre Stimme klang verhärmt, »euer Verhältnis war nicht das beste. Aber schlecht geredet hat Gebhard nie über dich. Ich dachte, du bist eine Nonne geworden und verbringst deine Tage im Kloster?«

»War ich auch bis vor wenigen Tagen. Ich bin fortgelaufen …«

»Ach, und jetzt glaubst du, bei mir Unterschlupf zu finden? Oh nein.«

»Nur für ein paar Tage, bis sich das Wetter bessert und mir klar wird, wo ich eigentlich hin will. Gott soll es dir lohnen!«

»Hör auf mit dem dummen Gerede von Gott! Wo war er denn, als mein Ehemann und mein Schwiegervater ums Leben kamen? Welch unverzeihliche Sünde habe ich begangen, dass mir das widerfahren ist? – Und jetzt verschwinde!« Krachend fiel die Haustüre ins Schloss, und Magdalena vernahm, wie der Riegel vorgeschoben wurde.

Eine Weile stand sie wie gelähmt, unfähig, das Gehörte zu begreifen. Doch dann überkam sie eine ungeheuere Traurigkeit, und ihr war, als stürzte sie in einen Abgrund. Schließlich drehte sie sich um und begann zu laufen, nur fort von hier, fort von dem Ort ihrer Kindheit, die sie in so guter Erinnerung hatte.

Magdalena überquerte den Bach und hetzte bergan, als sei eine Hundemeute hinter ihr her. Erschöpft lehnte sie sich oben am Waldrand an den glatten Stamm einer Buche und ließ sich auf die feuchte Erde gleiten. Mit angezogenen Beinen vergrub sie ihr Gesicht in beiden Armen. So ließ sie ihren Tränen freien Lauf.

Sie wusste nicht, wie lange sie in dieser Haltung und in trüben Gedanken verharrt hatte. Das Knacken von Ästen holte sie in die Gegenwart zurück. Als Magdalena aufblickte, stand eine hochgewachsene Erscheinung vor ihr, ein hünenhafter Mann mit einer Holztrage auf dem Rücken, beladen mit dürren Ästen. Magdalena rappelte sich hoch und wich ängstlich zurück. Der Holzsammler schüttelte heftig den Kopf und hob beide Hände, als wollte er sagen: Ich tue dir nichts.

Magdalena zögerte, hielt inne und nahm den Unbekannten näher in Augenschein. Schließlich trat sie auf den Mann zu und fragte zögernd:

»Bist du nicht Melchior, der Knecht?«

Der Hüne nickte stürmisch, und dabei erhellte sich sein finsteres Gesicht zu einem überschwänglichen Lachen. Die Last der hoch aufgetürmten Äste brachte seine Holztrage ins Wanken und den baumlangen Mann aus dem Gleichgewicht. Er stürzte rücklings ins Gras. Und als er so dalag, hilflos wie eine Schildkröte auf dem Rücken und glucksend vor Vergnügen, da musste auch Magdalena lachen. Sie lachte laut und herzlich. Unvermittelt kam ihr der Gedanke, dass es Jahre her war, seit sie zum letzten Mal so ausgelassen gelacht hatte.

Von einem Augenblick auf den anderen hatte sie die Erinnerung an früher eingeholt, als sie mit dem taubstummen Knecht auf den Wiesen herumtollte, mit Stöcken und Netzen bewaffnet Wiesel und Kaninchen jagte und dabei meist erfolglos blieb.

»Melchior, lieber Melchior«, rief Magdalena und half dem Holzknecht auf die Beine.

Als er wieder Boden unter den Füßen hatte, faltete er theatralisch die Hände wie zum Gebet und deutete mit dem rechten Zeigefinger gen Westen.

Magdalena verstand sofort, was er sagen wollte. »Du meinst, warum ich nicht im Kloster Seligenpforten bin?«

Melchior nickte.

»Ich habe es nicht mehr ausgehalten und bin einfach fortgelaufen. Dabei hatte ich gehofft, ein paar Tage bei meinem Vater und meinem Bruder unterzukommen. Jetzt musste ich erfahren, dass beide nicht mehr am Leben sind. Und meines Bruders Witwe hat mich vom Hof gejagt.«

Magdalena unterstrich ihre Worte mit gespreizten Daumen und Zeigefingern. Ein paar wenige Begriffe der Stummensprache waren ihr im Gedächtnis geblieben.

Schließlich zupfte Melchior an Magdalenas durchnässtem Kleid, und mit wenigen Handbewegungen deutete er an, sie könne sich in dem nassen Gewand den Tod holen, sie solle ihm folgen.

»Aber die Witwe hat mich abgewiesen!«, wandte Magdalena ein.

Der Knecht machte eine wegwerfende Handbewegung, als wollte er sagen: Lass mich nur machen! Und mit einem weiteren Zeichen fügte er hinzu: Komm!

Magdalena verdrängte ihre anfänglichen Bedenken und folgte dem stummen Knecht auf die andere Seite des Baches. Es dämmerte bereits, und die Stille über dem weiten Tal veranlasste Magdalena zum Schweigen.

Vorsichtig näherten sich Melchior und Magdalena der rechter Hand vom Haupthaus gelegenen Scheune. Bevor der Knecht das hohe Holztor mit einem kräftigen Fußtritt aufstieß, gab er Magdalena ein Zeichen, sie solle draußen warten und sich ruhig verhalten. Dann verschwand er im Innern des Gebäudes.

Durch den Türspalt drang ein Schwall warmer Luft ins Freie. Er roch süßsauer wie Heu nach einem Gewitterregen. Magdalena spürte das dringende Bedürfnis, wenigstens eine Nacht im Trockenen zu verbringen. Sie fröstelte in ihrem durchnässten Gewand. Nach endlosem Warten – jedenfalls schien es ihr so – steckte Melchior den Kopf durch den Türspalt, legte den Zeigefinger auf die Lippen und gab ihr ein Zeichen, ihm zu folgen.

Der Mittelgang der Scheune, gerade so breit wie das zweiflügelige Tor, war, soweit man das in der Dunkelheit erkennen konnte, mit mehreren hochrädrigen Leiterwagen und allerlei hölzernen Gerätschaften wie Eggen und Pflügen zugestellt. Es gab kaum ein Durchkommen. Mächtige Stützbalken zu beiden Seiten trugen das Dachgebälk. Vor einem der Balken machte Melchior halt. Wie die Äste einer wohlgeratenen Tanne ragten links und rechts daumendicke Pflöcke aus dem Balken und bildeten so eine Art Sprossenleiter.

Melchior kletterte voran. Etwa in halber Höhe hielt er inne und blickte nach unten. Dabei gab er einen gurgelnden Laut von sich. Magdalena wusste sofort, was er sagen wollte: Komm! Machs mir nach!

Als Kind war ihr kein Baum zu hoch, kein Bach zu breit und kein Teich zu tief gewesen. Angst kannte sie nicht. Aber das war lange her. Jetzt saßen ihr Schrecken und Müdigkeit von sieben Tagesmärschen in den Knochen. Einen Augenblick zögerte sie, trug sich mit dem Gedanken fortzulaufen. Aber dann kam ihr die klamme Kälte in den Sinn und das feuchte Moos, das sie in der Nacht im Freien erwartete, und sie setzte den Fuß auf die erste Sprosse. Aus Kindertagen wusste sie, dass man beim Äpfelpflücken nie nach unten blicken darf, und so hangelte sie sich, bedächtig dem Holzknecht folgend, bis zum oberen Heuboden hinauf, wo Melchior ihr die Hand entgegenstreckte.

Der Platz unter dem Dachgebälk war mit Heu ausgelegt und vermittelte den Eindruck, als hätte er schon häufiger als Nachtlager gedient. Aus einer hinteren Ecke wehte bestialischer Gestank herüber. Durch die Ritzen zwischen den Dachziegeln fiel spärliches Dämmerlicht. Melchior nickte zufrieden, dann kletterte er flink wie eine Katze nach unten und verschwand wieder.

Vom Hof her hörte man das Jaulen eines Hundes, und aus dem Stallgebäude gegenüber schallte das Muhen hungriger Kühe. Magdalena schloss die Augen. Zum ersten Mal seit ihrer Flucht aus Seligenpforten fühlte sie sich in Sicherheit. Sie musste nicht auf jedes Geräusch achten. Und während sie vor sich hindöste, wurden Erinnerungen an ihre Kindheit wach, als sie mutterseelenallein die umliegenden Wälder durchstreifte und Pilze, Beeren und Kräuter sammelte, giftige wie solche von köstlichem Duft und Geschmack. Melchior war es, der damals Gutes von Schlechtem getrennt und ihr das Wissen um die Ernte vermittelt hatte, die der Wald hergab.

Eines Tages im Spätherbst hatte plötzlich ein bärtiger Mann im heruntergekommenen Ordenskleid vor ihr gestanden, mit einem rauen Sack über der Schulter, und sie freundlich angelächelt. Sie wollte fortlaufen, aber der Blick des Mannes hatte eine lähmende Wirkung. Sie stand wie versteinert, als der Mönch ihr stumm zu...