Der Tote vom Großen Meer. Ostfrieslandkrimi

von: Alfred Bekker

Klarant, 2020

ISBN: 9783965861237 , 200 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 3,99 EUR

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Der Tote vom Großen Meer. Ostfrieslandkrimi


 

Kapitel 5


 

Als Steen und Ulfert ihr Ziel erreichten, hatte sich bereits ein Stau in beide Richtungen der Brücke gebildet, an der das Geschehen stattgefunden hatte. Einige Fahrzeuge versuchten zu drehen, was auch sicher das Beste war.

Steen fuhr so nah wie möglich an die Brücke heran, aber obwohl die anderen Fahrzeuge eine Gasse bildeten, war irgendwann Schluss.

Steen und Ulfert stiegen aus. Ulfert nahm seinen Einsatz­koffer mit, in dem er verschiedene Utensilien zur Spuren­sicherung mitführte.

Altje kam ihnen schon entgegen.

»Es sind sogar drei Tote, nicht nur zwei«, sagte sie und wirkte dabei noch blasser, als es ihrem natürlichen, sehr hellen Ostfriesen-Teint entsprach. Auch Steen war auf den ersten Blick klar: Was sich hier ereignet hatte, war ungewöhnlich. Zumindest für die eher beschaulichen Verhältnisse dieses Landstrichs.

Ein toter Mann mit Bart lag neben der Fahrertür eines Wohnmobils. Kopfschuss. Ein Bauer war vom Bock seines Treckers förmlich heruntergeschossen worden. Und Altje berichtete jetzt noch von einer dritten Leiche, auf die sie im Inneren des Wohnmobils gestoßen waren. Ebenfalls mit Schuss­verletzungen.

»Sowas habe ich noch nie gesehen«, meinte Altje. »Im Wohnmobil muss vorher auch eine Schießerei stattgefunden haben. Es gibt Einschüsse in den Möbeln.«

Ulfert hatte sich unterdessen über den toten Mann mit dem langen blonden Bart gebeugt. Er deutete auf die Jacke. An manchen Stellen war die äußere Gewebeschicht zerstört. Darunter kam das graue Innenmaterial zum Vorschein. Ein Material, das Ulfert als Polizist natürlich nur allzu vertraut war. »Die Jacke ist mit kugelsicherem Kevlar gefüttert«, stellte er fest.

»Das hat man nicht alle Tage«, sagte Steen.

»Ich wünschte, wir hätten sowas zur Verfügung«, meinte Ulfert. »Diese Jacke dürfte auf jeden Fall sehr viel sicherer sein als die Schutzwesten, die bei uns im Einsatz sind.«

»Das glaube ich sofort«, nickte Steen.

Ulfert deutete auf die Waffe, um deren Griff sich die Hand des Bärtigen immer noch krampfte, so als wollte er selbst im Tode diese Waffe um keinen Preis loslassen.

»Was könnte passiert sein?«, murmelte er vor sich hin.

»Ich frag mich vor allem, warum er den Bauern auf dem Trecker erschossen hat«, meinte Altje. »Das ist der Hinnerk Arnoldus. Den kenn ich noch aus der Landjugend! Ein feiner Kerl. Der hat nie einer Fliege was zuleide getan.«

Deshalb geht ihr das so nahe, ging es Steen durch den Kopf.

»Na, auf jeden Fall dürfte die Frage entscheidend gewesen sein, wer hier Vorfahrt hat«, meinte Ulfert. »Oder sehe ich das falsch?«

»Altje, du kennst den Hinnerk Arnoldus besser: War das einer, der zur Rechthaberei neigte?«, fragte Steen.

»Naja, nur so im ganz normalen Rahmen, würde ich sagen. Er war nicht sturer als andere Leute auch. Zum Beispiel ich. Jedenfalls kann ich nicht glauben, dass er stur genug war, sich abschießen zu lassen, um eine Vorfahrt zu erzwingen.«

»Man hört immer wieder die seltsamsten Sachen«, meinte Ulfert dazu.

»Und wenn Hinnerk Arnoldus von demjenigen erschossen wurde, der auch den Mann mit Bart auf dem Gewissen hat?«, meinte Steen. »Vielleicht ergibt das mehr Sinn.«

»Du meinst, weil der Hinnerk Arnoldus ein unliebsamer Zeuge war, als Mister Unbekannt den hier tötete?«, vergewisserte sich Ulfert und deutete dabei auf den Mann mit Bart.

»Genau.«

»Und wer bitteschön soll das gewesen sein?«, fragte Altje. »Der ist dann wohl weg oder was?«

»Ja«, nickte Steen. »Warum hätte er auch bleiben sollen?«

»Wohl ganz bestimmt nicht, um sich von uns festnehmen zu lassen.«

»Eben«, sagte Steen.

»Und der Typ im Wohnmobil? Den hat dann der Rauschebart umgebracht?« Altje atmete tief durch. »Verwirrend.«

»Ein komplexer Fall«, sagte Steen.

»Kriegen wir spätestens dann alles raus, wenn die Kugeln beim Ballistiker waren«, versicherte Ulfert. »Vorausgesetzt natürlich, wir finden die Projektile wieder.« Steen bemerkte, dass Ihno Purwin sich mit einem Mann unterhielt und sich dabei eifrig Notizen machte.

Der Mann gestikulierte mit ausholenden Armbewegungen. Er trug einen Jogginganzug mit dem Schriftzug ›Turnverein Südbrookmerland‹. Wichtigtuer oder wichtiger Zeuge, das konnte man im Vorhinein nie wissen. Aber Steen nahm sich vor, diese Frage vorerst Ihno Purwin entscheiden zu lassen und sich erstmal der Leiche im Wohnmobil zuzuwenden. Er umrundete das Gefährt, während Ulfert seinen erkennungs­dienstlichen Einsatzkoffer absetzte, um ein paar Utensilien auszupacken und sich anschließend an die Arbeit zu machen. Spuren wurden schließlich im Allgemeinen nicht besser, wenn man länger mit der Auswertung wartete. Bis das gerichts­medizinische Team aus Oldenburg eintraf, konnte es wohl noch eine Weile dauern. Aber das hieß ja nicht, dass sie jetzt und hier untätig sein mussten.

Steen erreichte die Tür des Wohnmobils, öffnete sie und trat ein. Er hatte sich inzwischen ein Paar Latexhandschuhe übergestreift. Schließlich wollte er vermeiden, irgendwo aus Versehen eigene Spuren zu hinterlassen.

Er sah sich um und fand den Toten im Kapuzen-Shirt.

Die Pistole mit Schalldämpfer fiel ihm sofort auf.

Die Waffe eines professionellen Killers, dachte er. Dass im Innenraum des Wohnmobils eine Schießerei stattgefunden hatte, war unverkennbar. Die Kugel, die den Kapuzen-Shirt-Mann getötet hatte, war an dessen Hinterkopf ausgetreten und dann in der Einrichtung des Wohnmobils stecken geblieben. Die Wunde auf der Stirn war nur klein, sodass man ihn zweifellos anhand seines Gesichtes identifizieren konnte – falls er Papiere hatte oder irgendwo mit einem Foto registriert war. Wenn die Kugel hinten eingetreten wäre, hätte das anders aussehen können, dachte Steen.

In seinen Gedanken bildeten sich Bruchstücke einer Geschichte, die zu dem passen mochte, was er hier vorgefunden hatte.

Der Kapuzen-Shirt-Mann hatte mutmaßlich am Tisch gesessen.

Er hatte gewartet.

Der Bärtige war hereingekommen, es war zur Schießerei gekommen, bei der der Bärtige die besseren Karten gehabt hatte, weil er eine Kevlar-Jacke trug. Das war eine mögliche Erklärung, die nahelegte, dass dem Bärtigen das Wohnmobil gehörte. In dem Fall fragt man sich natürlich, wie der Kapuzenmann in den Wagen hineingekommen ist, überlegte Steen. Hatte er einen Schlüssel? Waren die beiden zusammen unterwegs?

Es konnte auch alles ganz anders sein …

Steen begab sich in die Fahrerkabine.

Im Handschuhfach fand er die Fahrzeugpapiere.

Daraus ging hervor, dass es sich um einen Leihwagen handelte. Das war nicht weiter verwunderlich. Schließlich waren Wohnmobile teuer, sowohl in der Anschaffung als auch im Unterhalt. Und da wurden sie von vielen eben einfach nur ausgeliehen. Die Leihfirma hatte ihren Sitz in Leer.

Vielleicht wissen die etwas mehr, überlegte Steen.

Den Führerschein des Bärtigen fand er auch. Demnach hieß er Jörn Brönkemeyer. Na immerhin, das ist doch schon mal ein Anfang, dachte Steen.

Also war davon auszugehen, dass Jörn Brönkemeyer, der Mann mit dem langen blonden Bart, das Wohnmobil ausge­liehen hatte.

»Steen?«, hörte der Kommissar jetzt die Stimme von Ihno Purwin. »Bist du da drin?«

»Bin ich«, bestätigte Steen.

»Wir haben da was.«

»Was denn?«

»Besser gesagt jemanden. Hör dir die Aussage mal an.«

»Komme«, kündigte Steen an. Er ließ nochmal den Blick schweifen. Und dann machte er von dem toten Mann im Kapuzenshirt noch ein Handyfoto. Und außerdem machte er ein Foto von dem Führerschein des bärtigen Jörn Brönkemeyer.

Auf dem dazugehörigen Foto war der Bart noch nicht ganz so lang gewesen.

Aber man konnte ihn gut erkennen.

Erinnere dich selbst daran, dass du von Brönkemeyers Leiche auch noch ein Gesichtsfoto machst!, ging es Steen durch den Kopf. Und von dem toten Bauern!

Dann ging Steen hinaus ins Freie.

Ihno Purwin stand da mit einem vollschlanken Mittvierziger.

»Hei, ich bin der Harald«, sagte der Mann.

Das T-Shirt hatte eine Aufschrift. ›Dieser Bauch gehört mir‹, stand da. Als ob ihm den jemand wegnehmen will!, dachte Steen. Aber so war das manchmal. Dinge, die sowieso niemand haben wollte, wurden hart und präventiv verteidigt.

»Ich bin Kommissar Steen«, sagte der Ermittler. Er schob sich die Prinz-Heinrich-Mütze ein Stück in den Nacken, weil er angefangen hatte zu schwitzen. »Was ist los?«

»Ich kenn den Typ, der das Wohnmobil gefahren hat. Der hatte eine Pistole. Und dann ist er wie ein Irrer vom Campingplatz gerast. Wie ein Bekloppter! Von der Tarantel gestochen sagt man ja auch. Ich glaube, sowas muss das wohl gewesen sein.«

»Jetzt mal der Reihe nach, dass ich das...