Sühne - Thriller

von: Steffen Jacobsen

Heyne, 2020

ISBN: 9783641253899 , 416 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 11,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Sühne - Thriller


 

Das malerische alte Haus, von einem königlichen Baubeamten für einen königlichen Kammersänger entworfen, lag vornehm in der diplomatischen Enklave des Ryvangsviertels und erzählte von Bewohnern, die ihr Leben in vollen Zügen genossen. Die Einrichtung war vollkommen anders als in Michaels Zuhause, in dem sich das Treibgut aus Lenes und seinem früheren Leben zufällig mischte. Die hohen Räume hier waren stilsicher von weiblicher Hand in einer geschmackvollen Mischung aus futuristischen italienischen Designermöbeln und dänischen Klassikern arrangiert. An der grellen, bewusst provokanten Farbgestaltung der Räumlichkeiten schieden sich die Geister. Es gab aber durchaus auch ein paar stillere, meditative Bereiche in beruhigenden Sand- und Erdtönen. Das Haus eignete sich sowohl für hedonistische Künstlerfeste als auch für akademische, geistige Vertiefung.

Es gehörte dem erfolgreichen Kunstmaler Flemming Brandt, ein Mann mittleren Alters und Mitglied im Staatlichen Kunstfonds und im Neuen Carlsberg-Fonds. Er war Professor an der Kunstakademie und gehörte zum Inner Circle jener Clique, die sich untereinander Kunstfördergelder, Stipendien und internationale Einladungen zuschoben.

Brandt war zum vierten Mal verheiratet. Die Frucht seiner Lenden in Gestalt von neun Kindern war gleichmäßig zwischen seinen Exfrauen und seiner derzeitigen jungen Ehefrau – einst Fotomodel, jetzt Koch- und Gartenbuchautorin – verteilt.

Michael befand sich in Brandts Atelier. Fotos von seinen Kindern, in Altersklassen vom Säugling bis zu jungen Erwachsenen in den Zwanzigern, standen auf den diversen Arbeitstischen. Alle waren sie mit der charakteristischen Hakennase ihres Vaters gesegnet.

Der Kunstmaler selbst wirkte auf Michael überraschend konventionell für einen Bohemien. Wobei er nicht genau hätte sagen können, was er eigentlich erwartet hatte. Der Maler trug weite Kaki-Chinos, ein ausgewaschenes Tanktop, aus dessen Ausschnitt die ergraute Brustbehaarung wucherte, rote, jugendliche Converse Sneakers ohne Socken. Dazu ein gepflegter Vollbart, Ohrringe, Architektenbrille in grauem Titan und dunkle Augen unter buschigen Augenbrauen.

Diese Augen betrachteten ihre Umgebung jetzt aus einem ungewöhnlichen Winkel. Die Kakihose des Akademieprofessors war vom Schritt bis zu den Aufschlägen nass, und das Atelier roch nach Urin. Die unnatürliche Neigung des Halses war dem Nylonstrick geschuldet, den Michael in einer sich selbst zuschnürenden Schlinge um den Hals des Malers gelegt hatte. Der Strick führte von Brandts Hals zu einem freiliegenden Dachbalken. Der Künstler balancierte auf Zehenspitzen auf einem kippeligen Schreibtischstuhl mit frisch geschmierten Rädern.

Zwischen dem Sockel des Stuhls und Michaels rechter Hand war eine dünne Leine gespannt.

Für den Augenblick hing sie noch in einem lockeren Bogen über dem Boden, aber ein kurzer Ruck würde den sicheren Tod des Professors bedeuten.

Brandt starrte den ihm unbekannten Mann an, der mit übergeschlagenen Beinen in dem grünen Gästesessel saß, der normalerweise ausländischen Käufern und Galeristen vorbehalten war. Der Fremde war wie ein Bestatter gekleidet, schwarze Lackschuhe, schwarzer Anzug und weißes Hemd. Er sprach langsam, aber deutlich, und sein Gesicht war unter einer Skimaske verborgen. Brandt testete erneut die weichen, aber unnachgiebigen Neoprenmanschetten hinter seinem Rücken. Er ging davon aus, dass das Material bewusst gewählt worden war, damit es keine Striemen oder Abdrücke hinterließ, wenn er …

O Gott!

Er hatte den Fremden nicht hereinkommen hören. Aus den Lautsprechern der Bose-Anlage hatte in voller Lautstärke Tosca gedröhnt, während er an einem neuen Bild mit dem Arbeitstitel Blaue Vulva arbeitete, eine Auftragsarbeit des Staatlichen Museums für Kunst, das von einer alten Freundin geleitet wurde.

Michael empfand sich selbst als recht geschickt in diesen Schock-Verhören, deren Ziel es war, das ahnungslose Opfer innerhalb kürzester Zeit aus einer vermeintlichen Sicherheit in einen Zustand surrealer Angst zu versetzen.

Er befand sich in dem imposanten Wohnsitz im Auftrag von Pinkie Pixie, ein Deckname für eine Person oder eine Gruppe Personen, die sich weltweit uneingeschränkt Zugang zu den sensibelsten und privatesten Informationen verschaffte, unter der Voraussetzung, dass die betreffende Person einen Computer benutzte. Pinkie Pixie war Aladins frei durchs Cyberspace schwebender Flaschengeist, allwissend und allmächtig, und dieses anonyme Geisterwesen hatte nach ausgiebiger und delikater Werbung Michael als Schergen gewonnen, die Distributoren, Produzenten und Nutzer gewaltsamer Pädophilie zu richten.

Michael hatte keine Ahnung von Pinkie Pixies wahrer Identität, vermutete allerdings, dass es sich um einen untergeordneten, aber hochtalentierten IT-Techniker handelte, der sich selbst zum Richter und Schöffen ernannt hatte. Pinkie Pixies Informationen waren äußerst präzise, und obgleich die Exkursionen Michael auf die finstersten Höllenpfade führten, trainierten sie seine Fertigkeiten und hielten sein Gehirn auf Trab, nachdem Lene ihm außer den Elternabenden im Kindergarten alle anderen riskanten Unternehmungen untersagt hatte.

Davon abgesehen sympathisierte er stark mit der Sache. Es ging hier nicht um konventionelle Kinderpornografie, die in obskuren Chatrooms auf TOR von älteren Männern in Unterhosen geteilt wurde. Diese Hintermänner finanzierten, konzipierten und choreografierten Filme von ausgesuchter Qualität, gedreht an fernen Orten wie Thailand, Indonesien oder auf den Philippinen. Sie bezahlten die Familienmitglieder der Opfer oder den westlichen Abschaum dafür, die oftmals unter Zehnjährigen zu vergewaltigen, zu verstümmeln und bisweilen sogar zu töten.

Viele von ihnen waren in Marias Alter.

Die Filme wurden an wohlhabende Aficionados in den USA, Russland, China und Europa verkauft. Pro Kunde wurde nur ein einziges Exemplar produziert und zu Preisen einer Ming-Vase bei Sotheby’s gehandelt.

Snuff-Filme waren Flemming Brandts Haupteinnahmequelle. Die Nachfrage nach seinen filmischen Werken war noch größer als nach seinen Gemälden.

Pinkie Pixie hatte ihn aufgespürt.

Michael nahm ein silbergerahmtes Foto von der Arbeitsplatte, auf dem ein lächelndes Mädchen mit Pferdeschwanz, Reithelm und Milchzahnlücken zu sehen war. Sie stand vor einer Reitbahn voller Mädchen und Ponys und niedrigen, weißen Hindernissen.

»Wie heißt sie, und wie alt ist sie?«, fragte er.

Die Venen am Hals des Künstlers traten deutlich hervor. Seine Lippen waren rot und feucht, die Stimme kiekste hungrig nach Luft.

»Ich weiß nicht, wer Sie sind oder was Sie vorhaben … Ich kann nur sagen, dass Sie sich irren. Sie verwechseln mich …«

»Beantworten Sie meine Frage.«

Michael zog an der um den Bürostuhl geknoteten Leine, und Flemming Brandt musste seitwärts ausweichen, um den Kontakt zu der übel riechenden Sitzfläche zu bewahren. Er wimmerte laut, und seine Arme wackelten wie Takelage.

»Rosa … Rosa Victoria Nirvana.«

»War Elton John Taufpate, oder was?«

Der Maler blinzelte sich den Schweiß und Tränen aus den Augen.

»Sie ist acht Jahre … gerade mal acht … Gott im Himmel … Warum?«

Michael unterbrach ihn.

»Angelica Torres war acht Jahre alt, als sie starb. Sie starb, weil ihr jemand die Kehle durchgeschnitten hat. Flemming? Kommen Sie, das ist noch keine drei Monate her. Daran müssen Sie sich doch erinnern?«

Brandt stierte Michael entgeistert an. Das war unmöglich. Das hier geschah nicht wirklich. Niemand wusste etwas von Angelica Torres.

Brandt sah die langsame, über mehrere Stunden in die Länge gezogene Verstümmelung des Mädchens als sein filmisches Meisterwerk an, genau wie der polnische Kameramann und der geradezu ekstatische norwegische Tonmeister. Brandt hatte auf dekadente Barockmöbel für die Szenografie in einem Winkel der Lagerhalle bestanden, auf einen Hintergrund aus dickem, blauem Samt und einen mit cremefarbenem Leder bezogenen Operationstisch. Das Mädchen war als Kia Hentai zurechtgemacht, ein populärer Pornomanga.

Der Kunde war ein chinesischer Milliardär aus der Provinz Yunnan, der Rohware an die hippen Streetfood-Imbisse exportierte, die gerade in den westlichen Kreativgettos wie Pilze aus dem Boden schossen.

Ohne Brandt eines Blickes zu würdigen, fasste Michael leidenschaftslos das Schicksal des Mädchens zusammen.

»Angelica Torres wurde an einem Nachmittag vor drei Monaten auf dem Heimweg von der Schule in der Nähe ihres Zuhauses in einem Slumviertel bei Quezon City auf den Philippinen entführt. Drei Tage später wurde ihre in einen Plastiksack verpackte Leiche auf einer Mülldeponie entdeckt. Dort gab es Ratten.

Sie sind am 22. Juni mit Singapore Airlines in Manila gelandet und am 24. Juni zurückgeflogen. Laut Ladungs- und Zollmanifest hatten Sie eine wertvolle Filmausrüstung in gepolsterten Aluminiumkoffern dabei. Ist das korrekt? Die Ausrüstung war von Vista Productions geleast. Dort sind Sie Stammkunde, stehen auf ihrer Weihnachtskartenliste.«

Alle natürliche Farbe war aus dem Gesicht des Künstlers gewichen. Michael ruckte noch einmal an der Leine. Brandts rote Sneaker balancierten nun auf dem äußeren Rand des rotierenden Sitzes. Seine Beine zitterten.

»Klingelt immer noch nichts, Professor?«, fragte Michael.

»Doch.«

Michael legte eine Hand hinters Ohr.

»Entschuldigung?«

»DOCH! Herrgott noch mal. Aber was soll ich...