Unter samtweichem Himmel

von: Katie Ganshert

Francke-Buch, 2019

ISBN: 9783963629495 , 100 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 12,99 EUR

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Unter samtweichem Himmel


 

Kapitel 1

Vielleicht war es der Winkel oder die Nähe, aber Bethany Quinn war noch nie so versucht gewesen, dem Haarteil von Jeff McKinley einen ordentlichen Schubs zu geben. Oder es wenigstens unauffällig mit dem Ellbogen zu berühren. Es half nicht, dass er einen Donut mit Puderzucker über den Zeichnungen schwenkte, an denen sie in der vergangenen Woche gearbeitet hatte, sodass eine zuckrige Schicht darauf liegen blieb. Sie packte die Rückenlehne seines Stuhls und sah über seine Schulter. »Was gefällt dir denn an meinem Entwurf nicht?«

Er wedelte weiter mit seinem Donut und fuhr mit den freien Fingern über ihre Zeichnung mit der abgehängten Deckenkonstruktion. »Er ist ein bisschen raffiniert.«

Sie ließ seinen Stuhl los und richtete sich auf. »Und?«

»Ich hatte den Eindruck, dass dieser Kunde etwas … Praktischeres wollte.«

»Niemand hat von praktisch gesprochen. Was sie gesagt haben, war billig

»Das ist dasselbe.«

»Es ist kein Lagerhaus, Jeff. Wir renovieren einen von Chicagos beliebtesten Tanzsälen. Eindrucksvoll muss nicht teuer sein.«

»Wenn es gut aussehen soll, schon.« Er legte den Rest des Donuts ab und faltete die Hände hinterm Kopf. Sein Haaransatz rutschte auf der Stirn nach oben. »Wie viel Zeit haben wir noch bis zu dem Treffen?«

Bethanys Gesäßtasche vibrierte. »Wir haben die Besprechung für drei Uhr angesetzt«, sagte sie, während sie ihr Handy herauszog. Der Name ihrer Mutter stand auf dem Display. Sie runzelte die Stirn. Warum in aller Welt rief ihre Mutter sie an einem Montagmorgen um zehn Uhr an? Mom wusste doch, dass sie bei der Arbeit nicht gestört werden wollte. Bethany ließ die Mailbox anspringen, während ihre Gedanken zu ihrem Bruder David rasten.

»Dann überleg mal, was dir bis dahin noch einfällt. Es wäre das Beste, wenn sie aus mehreren Alternativen wählen könnten, meinst du nicht?«

Sie vernahm Jeffs Worte, aber in ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken an ihren Bruder, sodass sie sich unmöglich konzentrieren konnte. David war vor drei Wochen nach Afghanistan aufgebrochen. Und jetzt rief ihre Mutter an.

»Wir können es uns im Moment nicht erlauben, einen Kunden zu verlieren. Bei all dem Gerede von Personalabbau wäre das für uns alle nicht gut.«

Bethany nickte.

»Sag mal, ist alles in Ordnung?«

»Ja. Ich … ich muss nur kurz telefonieren.« Ihre Knie zitterten, als sie die Zeichnungen nahm und den kurzen Weg zu ihrem Schreibtisch zurückging. Sie legte die Blätter auf den Tisch und sah, dass der Anrufbeantworter ihres Bürotelefons rot blinkte. Als auch auf diesem Display die Nummer ihrer Mutter erschien, schloss Bethany die Augen und schickte einen flehentlichen Gedanken ins Weltall.

Bitte mach, dass es nichts mit David zu tun hat …

Sie glaubte nicht an einen liebenden Gott, der Gebete erhörte, aber manchmal ertappte sie sich dabei, wie sie versuchte, mit dem Universum zu handeln – wie eine Art Bestechung, nur dass sie nichts im Gegenzug anbieten konnte. Sie hörte ihre Mailbox ab und wartete, bis die Stimme ihrer Mutter an ihr Ohr drang. »Hier ist deine Mutter, Bethany. Ruf mich bitte an.«

Sie nahm das Handy vom Ohr und starrte darauf. Das war alles? Keine Einzelheiten? Keine Andeutung, weswegen sie angerufen hatte? Kein Hallo, Bethany, mach dir keine Sorgen; ich rufe nicht wegen deines Bruders an?

Unklarer ging es ja wohl nicht! Die Muskeln in Bethanys Schultern verkrampften sich. Weil ihre Mutter so kurz angebunden gewesen war, blieb ihr nichts anderes übrig, als zurückzurufen. Sie nahm das Bürotelefon, wählte Moms Nummer und spielte mit dem Deckel eines halb leeren Starbucksbechers. Der Becher kippte um, sodass lauwarme Flüssigkeit herausschwappte, über den Mahagonischreibtisch lief und ihre Zeichnungen ertränkte.

Sie sog scharf die Luft ein, stellte den Becher wieder auf und nahm dann schnell ihre Entwürfe vom Tisch. Einhändig zerrte sie mehrere Papiertaschentücher aus der Schachtel neben ihrem Computer und tupfte auf den Blättern herum. Es nützte nichts. Der verschüttete Kaffee hatte die makellos weißen Seiten in einen aufgeweichten braunen Haufen verwandelt.

»Bethany? Bist du das?«

Bethany umklammerte den Hörer mit beiden Händen. »Mom? Warum hast du angerufen? Ist was mit David?«

»Bist du bei der Arbeit?«

»Wo sollte ich denn sonst sein?«

»Es ist nur, weil Montag ist, und ich dachte …«

»Mom, sag mir, was los ist. Geht es um David?«

Eine kurze Pause. »Nein, nein. Deinem Bruder geht es gut.«

Bethanys Anspannung löste sich. Sie sank auf ihren Stuhl und rieb sich die Nasenwurzel. Sie hasste dieses Gefühl. Sich Sorgen um ihren Bruder zu machen. Jedes Mal eine panische Angst zu bekommen, wenn ihr Telefon klingelte. Wie sollte sie das ein ganzes Jahr lang aushalten?

»Ich rufe nicht wegen David an. Es geht um Robin.«

Bei der Erwähnung dieses Namens regten sich Erinnerungsfetzen, aufgeschreckt aus einem zehnjährigen Winterschlaf. Warum in aller Welt rief Mom sie wegen Robin bei der Arbeit an?

»Hast du gehört, was ich gesagt habe?«

»Ja, habe ich.«

»Willst du nicht wissen, was los ist?«

Wenn sie doch sagte, würde sie sich die nächste halbe Stunde Moms Hysterie anhören müssen. Sagte sie Nein, würde sie den Eindruck vermitteln, herzlos zu sein. Für Ersteres hatte sie keine Zeit, für Letzteres keine Energie, also nahm sie einen Stift und spielte mit der Pfütze, die sich ihrem Bleistiftköcher näherte, während die kurzlebige Erleichterung, dass David nichts passiert war, einem dumpfen Schmerz hinter der Stirn wich.

In der Leitung dehnte sich die Stille aus.

Sie blickte zu den Blaupausen auf ihrem Zeichenbrett hinüber. Ihr Chef wollte bis vier Uhr Einzelheiten zu dem River-Oaks-Projekt auf seinem Schreibtisch haben, Jeff McKinley mit den falschen Haaren wollte »praktische« Ideen für den Ballsaal der Stadt brainstormen, und Mom würde nicht aufgeben, bis Bethany ihr erlaubte, ihre Neuigkeiten über Robin loszuwerden, wie auch immer die aussehen mochten.

»Sie war deine beste Freundin.«

War. Vergangenheit.

»Jedes Mal, wenn ich sie sehe, fragt sie nach dir. Ob dir Chicago gefällt. Wie es bei der Arbeit läuft. Ob du glücklich bist …«

»Natürlich bin ich glücklich.« Die Worte waren zu schnell gekommen. Klangen beinahe defensiv. Bethany massierte ihre pochenden Schläfen mit kreisförmigen Bewegungen und begleitete die unvermeidliche Frage mit einem lang gezogenen Seufzer. »Was ist mit Robin?«

Hinter ihr ertönte ein lautes Räuspern. Sie fuhr herum und sah ihren Vorgesetzten dort stehen, den Mund missbilligend gespitzt. Sie legte auf und erhob sich, während sie spürte, wie ihre Ohren warm wurden. Moms Neuigkeit würde warten müssen. »Ist alles in Ordnung?«

»Brainstorming für First State Investments um zehn. Hast du das vergessen?«

Ihr drehte sich der Magen um. Moms rätselhafter Anruf hatte sie aus dem Konzept gebracht. »Nein, natürlich nicht. Ich habe nur gerade mit …«, sie befingerte die Blaupausen auf ihrem Zeichentisch, »der Marketingabteilung telefoniert, wegen River Oaks

Martin grunzte und betrachtete das Durcheinander auf ihrem Schreibtisch.

Ein verlegenes Lachen entwich Bethanys Lippen. Sie trat zwischen ihn und die Kaffeepfütze und holte eine Akte aus einer ihrer Schreibtischschubladen. »Ich habe letzte Woche ein paar Ideen durchgespielt«, sagte sie und zeigte in Richtung Flur. »Ich komme gleich mit.«

Als sie den Konferenzraum betrat, strich sie ihren Rock glatt und beschloss, nicht länger an das Telefonat zu denken. Was auch immer Robin für Probleme hatte, sie würde schon allein damit fertigwerden. Bethany wüsste nicht, wie sie da helfen sollte. Robins Sorgen hatten nichts mit ihr zu tun. Nicht mehr.

* * *

Bethanys Hände zitterten, als sie einen Streifen Pfefferminzkaugummi auspackte und sich in den Mund schob. Sie zerknüllte das Papier und lehnte sich an die Motorhaube ihres Audis, während sie über den zweiten Anruf ihrer Mutter nachdachte. Ausnahmsweise hatte Mom nicht übertrieben. Sie atmete tief aus und sah zu, wie ihr gefrorener Atem wie Nebel in den Nachthimmel aufstieg.

Die Kälte stach ihr in den Ohren, während sie mit einem Fuß auf dem Asphalt des Parkplatzes hinter dem Kaufhaus wippte und die Kontur der Beileidskarte betrachtete, die in der kleinen Papiertüte steckte. »Ich denke an dich«, stand in großen geschwungenen Buchstaben vorne drauf. Innen war die Karte weiß und leer. Ein Symbol dafür, was aus ihrer Freundschaft mit Robin geworden war. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, als sie diese Karte gekauft hatte? Was konnte sie schon schreiben, das so viel Raum füllte, wenn es doch nichts zu sagen gab?

Sie zog ihren Schlüssel aus der Handtasche und stieg in ihren Wagen. Vielleicht könnte sie zu Dominic fahren und, wenn er von der Arbeit heimkam, ihre Schuldgefühle rauslassen. Vielleicht könnte sie dadurch die Gedanken, die ihr durch den Kopf spukten, wieder loswerden und ihr inneres Gleichgewicht zurückgewinnen. Sie ließ den Motor an und fuhr auf die Straße, wobei sie sich zwang, dem Nachrichtenmoderator zuzuhören, der im Radio über...