Neuschnee - Thriller

von: Lucy Foley

Penguin Verlag, 2019

ISBN: 9783641253943 , 448 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Neuschnee - Thriller


 

Drei Tage zuvor


30. Dezember


EMMA


Silvester. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten sind alle wieder vereint: Mark und ich, Miranda und Julien, Nick und Bo, Samira und Giles mit ihrem sechs Monate alten Baby Priya. Und Katie.

Vier Tage in der winterlichen Wildnis der Highlands. Das Landgut heißt Loch Corrin, nach dem gleichnamigen See, und es ist äußerst exklusiv. Pro Jahr sind nur vier Besuchergruppen zugelassen, die übrige Zeit dient es als Privatresidenz. Wie man sich vorstellen kann, ist diese Zeit des Jahres die gefragteste. Ich musste schon Anfang Januar buchen, kaum dass es zur Reservierung freigegeben war. Die Frau, mit der ich telefonierte, versicherte mir, dass wir das gesamte Anwesen für uns haben würden, da unsere Gruppe den Großteil der Unterkünfte belegte.

Ich ziehe den Prospekt noch einmal aus meiner Tasche. Dicker, hochwertiger Karton, aufwendig gemacht. Er zeigt den von dunklen Nadelbäumen gesäumten See und dahinter die heideroten Hügelkuppen, die momentan allerdings von Schnee bedeckt sein dürften. Den Fotos nach zu urteilen, handelt es sich bei der Lodge selbst – der »Neuen Lodge«, wie der Jagdsitz im Prospekt genannt wird – um eine große, hypermoderne Glaskonstruktion, entworfen von einem namhaften Architekten, der erst vor Kurzem den Sommerpavillon der Londoner Serpentine Gallery gestaltet hat. Das Konzept besteht darin, dass das Gebäude scheinbar nahtlos mit dem stillen Wasser des Sees verschmilzt, indem es die weite Landschaft und die harsche Silhouette des mächtigen Munro-Gipfels widerspiegelt, der sich dahinter erhebt.

In der Nähe der Neuen Lodge befindet sich ein Grüppchen kleiner Behausungen, die aussehen, als würden sie sich zum Schutz vor der Kälte zusammenkauern. Das sind unsere Hütten. Jedes Paar hat eine eigene, aber zu den Mahlzeiten werden wir uns in der Lodge treffen, dem größten Gebäude in der Mitte. Bis auf das Highland-Dinner am ersten Abend – »eine erlesene Auswahl regionaler und saisonaler Produkte« – werden wir selbst kochen. Die Angestellten haben auf meinen Wunsch hin die Lebensmittel besorgt. Ich habe ihnen vorab eine ausführliche Liste der Zutaten zukommen lassen – frische Trüffel, Foie gras, Austern. Ich plane zu Silvester ein richtig opulentes Festmahl, auf das ich mich schon ungemein freue. Ich liebe Kochen. Freundschaft geht schließlich durch den Magen, nicht wahr?

Dieser Teil der Bahnstrecke ist besonders spektakulär. Auf der einen Seite fährt man am Meer entlang, und das Festland fällt immer wieder so steil ab, dass man das Gefühl hat, eine Unachtsamkeit würde genügen, um uns in den Abgrund rasen zu lassen. Das Wasser ist schiefergrau, aufgepeitscht. Auf einer Weide oberhalb der Klippen drängen sich die Schafe dicht aneinander, als wollten sie sich gegenseitig wärmen. Man kann den Wind hören – wieder und wieder wirft er sich gegen die Fenster, und der Zug erbebt unter seiner Wucht.

Die anderen scheinen eingeschlafen zu sein, selbst die kleine Priya. Giles schnarcht sogar.

Schaut doch!, will ich sagen, schaut doch mal, wie schön es ist!

Ich habe diesen Aufenthalt geplant, daher fühle ich mich für alles zuständig und mache mir ständig Gedanken, dass es den Leuten nicht gefallen und alles schieflaufen könnte. Zugleich empfinde ich einen gewissen Stolz, auf jeden noch so kleinen Erfolg. Wie jetzt angesichts der wilden Schönheit, die sich uns darbietet.

Es wundert mich nicht, dass sie schlafen. Wir sind heute furchtbar früh aufgestanden, um ja den Zug nicht zu verpassen. Miranda sah zu dieser Uhrzeit ganz besonders übellaunig drein. Und natürlich haben sie sich bereits über den Alkohol hergemacht. Auf der Höhe von Doncaster haben Mark, Giles und Julien angefangen, den Getränkekoffer zu plündern, obwohl es gerade mal elf Uhr war. Schon bald waren sie angeheitert und laut, sehr zum Missfallen der Leute in den benachbarten Sitzreihen. Irgendwie scheinen die Jungs ganz mühelos in die unbeschwerte Kame­radschaft längst vergangener Tage verfallen zu können, ganz egal, wie viel Zeit seit ihrem letzten Treffen vergangen ist – erst recht mit der Unterstützung von ein, zwei Bier.

Nick und sein amerikanischer Lebensgefährte Bo sind nicht ganz in diesen Jungsklub integriert, da Nick damals in Oxford nicht Teil der Clique war. Katie hat mal behauptet, dass noch mehr dahinterstecken würde, nämlich eine unterschwellige Homophobie der anderen Jungs. Nick ist in erster Linie Katies Kumpel. Manchmal kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er die anderen nicht sonderlich leiden kann und uns nur Katie zuliebe duldet. Ich meine, schon immer eine gewisse Kühle zwischen Nick und Miranda gespürt zu haben – wahrscheinlich weil sie beide so eigenwillige Persönlichkeiten sind. Und doch wirkten sie heute früh wie die dicksten Freunde, als sie Arm in Arm durch die Bahnhofshalle liefen, um »Pro­viant« für die Fahrt zu besorgen. Dieser entpuppte sich als eine perfekt temperierte Flasche weißer Sancerre, die Nick vor den etwas neidischen Blicken der Bierfraktion aus der Kühltasche zog. »Er wollte uns eigentlich diese Gin Tonics in Dosen besorgen«, erzählte Miranda, »aber ich habe ihn davon abgehalten. Auf diesem Level wollen wir gar nicht erst anfangen.«

Miranda, Nick, Bo und ich nahmen jeder ein wenig von dem Wein. Selbst Samira beschloss im letzten Augenblick, sich ein Gläschen zu genehmigen. »Es gibt doch diese neuen Forschungsergebnisse, die besagen, dass man auch in der Stillzeit Alkohol trinken darf«, behauptete sie.

Katie schüttelte zunächst den Kopf und blieb bei ihrem Mineralwasser. »Ach, komm schon, Katie«, bettelte Miranda mit ihrem einnehmenden Lächeln und streckte ihr ein Glas hin. »Wir sind im Urlaub!« Es ist schwierig, ­Miranda etwas auszuschlagen, wenn sie einen zu etwas überreden möchte, und so ergriff Katie – natürlich – das Glas und nahm einen zögerlichen Schluck.

Der Alkohol half, die Stimmung etwas aufzuheitern. Beim Einsteigen in den Zug hatte es ein Problem mit der Sitzordnung gegeben. Es stellte sich nämlich heraus, dass einer der neun reservierten Sitzplätze sich aus irgendeinem Grund im nächsten Waggon befand, vollkommen isoliert von den anderen. Der Zug war aufgrund der Feiertage gerammelt voll, weshalb es keinen Spielraum gab, um noch umzudisponieren.

»Tja, das wäre dann wohl mein Platz«, sagte Katie. Da sie als Einzige keinen festen Freund oder Ehemann hat, ist sie gewissermaßen das fünfte Rad am Wagen. Man könnte durchaus behaupten, dass sie mittlerweile das Anhängsel in der Gruppe bildet, nicht ich.

»Oh, Katie«, sagte ich. »Es tut mir so leid. Ich habe keine Ahnung, wie das passieren konnte. Ich war mir ganz sicher, dass ich alle Plätze in der Wagenmitte reserviert hatte, damit wir zusammensitzen können. Da muss was im Buchungssystem schiefgelaufen sein. Pass auf, setz du dich hierher, und ich gehe rüber.«

»Nein«, widersprach Katie, während sie ihren Koffer umständlich über die Köpfe der anderen Fahrgäste hievte, die bereits auf ihren Plätzen saßen. »Das kommt gar nicht infrage. Es macht mir nichts aus.«

Doch ihre Stimme ließ das Gegenteil vermuten. Herrgott noch mal, schoss es mir durch den Kopf. Es ist doch nur eine Zugfahrt. Ist es denn wirklich so schlimm?

Die anderen acht Sitze befanden sich an zwei Tischen in der Mitte des Waggons. Direkt dahinter saß eine ältere Dame neben einem gepiercten Teenager – beide Allein­reisende. Mir kam keine Idee, wie wir diesen Schlamassel irgendwie beheben könnten. Doch dann beugte sich ­Miranda über den Gang hinweg zu der älteren Dame hinü­ber und ließ ihren Charme spielen. Es war nicht zu über­sehen, wie entzückt die Dame von ihr war: von ihrem Aussehen, ihrem golden glänzenden Haar und der geschliffenen Aussprache.

»Aber ja«, sagte sie, »selbstverständlich kann ich mich umsetzen. Im nächsten Waggon wird es wohl ohnehin etwas ruhiger zugehen. Ich weiß ja, wie es ist, bei euch jungen Leuten!« Dabei ist keiner von uns sonderlich jung. »Außerdem sitze ich sowieso viel lieber in Fahrtrichtung.«

»Danke, Manda«, sagte Katie mit einem knappen Lä­­cheln, doch sie sah nicht so aus, als wäre sie ihr wirklich dankbar. Katie und Miranda sind schon seit ewigen Zeiten befreundet. Allerdings weiß ich, dass die beiden in letzter Zeit nicht viel voneinander mitbekommen haben – ­Miranda meint, Katie sei bei der Arbeit ziemlich eingespannt. Und da Samira ganz in ihrer Babyblase abgetaucht ist, haben Miranda und ich mehr Zeit miteinander verbracht als je zuvor. Wir waren shoppen, wir sind was trinken gegangen. Wir haben miteinander gequatscht und getratscht. Allmählich habe ich wirklich das Gefühl, dass sie mich als ihre Freundin akzeptiert hat – und nicht nur als Marks Freundin, die nach beinahe einem Jahrzehnt als Letzte zur Clique dazugestoßen ist.

In der Vergangenheit hatte Katie ständig versucht, mich zu verdrängen. Sie und Miranda standen sich immer so nah, fast wie Schwestern. Früher fühlte ich mich ausgeschlossen von dieser Nähe und der gemeinsamen Vergangenheit von Katie und Miranda, denn dadurch hat eine neue Freundschaft kaum Raum, sich zu entfalten. Daher ist ein Teil von mir insgeheim … na ja, ziemlich froh, dass Miranda mehr Zeit für mich hat.

Ich möchte wirklich, dass alle eine schöne Zeit verbringen, dass der Aufenthalt ein voller Erfolg wird. Der Silvesterausflug ist eine große Sache. Die anderen haben ihn bisher jedes Jahr unternommen, und zwar schon lange bevor ich auf der Bildfläche erschien. Die Organisation dieses Trips ist wohl so etwas wie ein kümmerlicher...