Wächter des Tages - Roman

von: Sergej Lukianenko

Heyne, 2011

ISBN: 9783641065805 , 528 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Wächter des Tages - Roman


 

"Fünf (S. 238-239)

Jeder Mensch hat bisweilen den Eindruck, das, was in dieser Minute, in dieser Sekunde passiert, sei schon einmal geschehen. Dafür gibt es sogar einen Fachbegriff: Déjà-vu. Erinnerungstäuschung. Andere kennen das auch. Der Mitarbeiter der Nachtwache Anton Gorodezki stand vor seiner Wohnungstür und kämpfte mit seinen Erinnerungen. Schon einmal war er genauso vor seiner offenen Wohnungstür von einem Fuß auf den andern getreten und hatte darüber nachgedacht, wer bei ihm eingedrungen sein konnte. Als er dann hineingegangen war, hatte sich der ungebetene Gast als sein eingeschworener Feind herausgestellt. Der Chef der Tagwache, der den Lichten unter dem Namen Sebulon bekannt war. »Ein Déjà-vu«, flüsterte Anton und betrat die Wohnung. Sein Alarmsystem hatte abermals geschwiegen, doch im Zimmer befand sich mit Sicherheit ein Gast. Wer war es diesmal?

Den als Medaillon gearbeiteten Talisman in der Hand, ging er ins Zimmer. Im Sessel saß Sebulon und las die Zeitung Argumente und Fakten. Er trug einen streng geschnittenen schwarzen Anzug, ein hellgraues Hemd und spiegelblank polierte Stiefeletten mit quadratischen Spitzen, wie sie Mafiosi bevorzugen. Er nahm die Brille ab, um den Lichten zu begrüßen: »Hallo, Anton.« »Ein Déjà-vu …«, murmelte Anton. »Äh, hallo.« Merkwürdigerweise jagte Sebulon ihm diesmal überhaupt keine Angst ein. Ob das daran lag, dass Sebulon sich beim letzten Besuch absolut korrekt verhalten hatte? »Du kannst mein Amulett nehmen. Es ist in der Tischschublade, das spüre ich.« Anton ließ den Talisman um den Hals baumeln, zog die Jacke aus und ging gehorsam zum Tisch. Sebulons Amulett versteckte sich zwischen Papieren und anderm Bürokram, der praktisch von selbst mit einer fatalen Zwangsläufigkeit anwuchs.

»Sebulon, du hast keine Macht mehr über mich«, sagte Anton mit fremder Stimme. Der Dunkle Magier nickte zufrieden. »Gut. Ich muss dir ein Kompliment machen: Damals hast du gezittert wie Espenlaub. Aber heute bist du ganz ruhig. Du wächst, Anton.« »Vermutlich sollte ich dir für das Kompliment danken?«, fragte Anton trocken. Sebulon legte den Kopf in den Nacken und brach in lautloses Gelächter aus. »Lassen wir das«, sagte er nach ein paar Sekunden. »Wie ich sehe, kommst du gleich zur Sache. Das ist mir nur recht. Ich bin gekommen, um dir einen Verrat vorzuschlagen, Anton. Einen kleinen, wohl überlegten Verrat, von dem alle nur Vorteile haben, du ebenfalls. Das klingt paradox, nicht wahr?«

»Ja.« Anton blickte Sebulon in die grauen Augen und versuchte zu verstehen, in welche Falle er ihn diesmal locken wollte. Trau einem Menschen zur Hälfte, einem Lichten zu einem Viertel und einem Dunklen überhaupt nicht. Sebulon war der stärkste und folglich der gefährlichste Dunkle Moskaus. Und vermutlich Russlands. »Ich werde es dir erklären.« Sebulon zeigte keine Hast, trödelte jedoch auch nicht. »Von der morgigen Sitzung des Tribunals hast du bereits gehört, oder?« »Ja.« »Geh da nicht hin.« Anton beschloss jetzt endlich, sich zu setzen – auf das Sofa an der Wand. Sebulon befand sich damit rechts von ihm. »Und weshalb nicht?«, wollte Anton wissen. »Wenn du nicht hingehst, bleibst du mit Swetlana zusammen. Wenn du hingehst, verlierst du sie.«

In Antons Brust ballte sich ein heißer Kloß zusammen. Ob er Sebulon glaubte oder nicht – das war jetzt völlig zweitrangig. Denn er wollte ihm glauben. Nur zu gern. Doch er vergaß nicht, dass man einem Dunklen nicht glauben durfte. »Die Führung der Nachtwache plant wieder einmal ein globales gesellschaftliches Experiment. Das weißt du vermutlich. Swetlana soll in diesem Experiment eine ziemlich wichtige Rolle spielen. Es liegt mir fern, dich umzustimmen oder für das Dunkel zu gewinnen – das ist eine absolut aussichtslose Sache. Ich führe dir bloß vor Augen, was ein solches Experiment für Folgen zeitigen könnte. Nämlich die Zerstörung des Gleichgewichts. Eine banale Sache, die jeder Seite hochwillkommen ist, um ihre Position auszubauen. In letzter Zeit ist das Licht stärker geworden, was mir natürlich nicht gefällt. Die Tagwache hat ein Interesse an der Wiederherstellung des Gleichgewichts. Und du bist derjenige, der uns helfen kann.«"