Was sie nicht wusste

von: Nicci French

C. Bertelsmann, 2019

ISBN: 9783641241162 , 448 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Was sie nicht wusste


 

2

DIE GEBURTSTAGSFEIER


Während Neve den letzten Teller in den Geschirrspüler räumte, der schon derart voll war, dass er wahrscheinlich gar nicht mehr richtig spülen würde, hielt sie kurz inne und wusste plötzlich – nur einen Moment – nicht mehr, wo sie sich befand. Sie hatte nach dem Aufstehen geduscht, sich angezogen, ein paar Worte mit Fletcher gewechselt, den Ablauf des Frühstücks überwacht, die Pausenbrote für die Jungen fertig gemacht und die beiden schließlich zur Tür begleitet. Irgendwie war das alles in einer Art Trance geschehen, während ihre Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt waren.

Blinzelnd blickte sie sich um. Fletcher saß mit seinem Kaffee am Tisch und las in einer Zeitschrift. Mabel hatte sich noch nicht blicken lassen.

Neve musste die ganze Zeit an den Armreif denken. Wenn sie die Augen schloss, sah sie ihn vor sich, und wenn sie sie wieder öffnete, sah sie ihn immer noch. Sie spürte seine Abwesenheit an ihrem Handgelenk. Egal, ob sie unter der Dusche stand, Butterbrote schmierte oder die Jungs nach ihrem Tagesprogramm fragte, sie sah ihn vor ihrem geistigen Auge neben dem Spülbecken liegen. Fletcher sagte etwas über einen Artikel, den er gerade las, doch er hätte genauso gut in einer ihr unbekannten Fremdsprache reden können.

Sie musste hier raus, ertrug es keine Sekunde länger.

»Ich muss gleich los, zur Arbeit«, erklärte sie. »Ich fange heute früher an.«

Fletcher schaute zu ihr hoch. »Du denkst an die Party?«

Party? Das hatte sie vollkommen vergessen. Jetzt fiel es ihr wieder ein: Renata hatte gestern angerufen, aber sie hatte sie nicht zurückgerufen. Die Geburtstagsfeier. Mist.

»Ja, klar.«

»Haben wir was für sie?«, fragte Fletcher.

»Könntest du das übernehmen? Eine Kleinigkeit für sie besorgen, vielleicht ein Buch? Falls du heute nichts anderes vorhast.«

»Du bist in solchen Sachen viel besser als ich.«

»Ich habe heute ziemlich viel zu tun.«

»Sie ist doch eigentlich mehr deine Freundin. Du weißt, was sie mag.«

An jedem anderen Tag hätte das der Beginn eines Streits sein können. An diesem Tag nicht.

»Ich versuche etwas aufzutreiben«, sagte sie.

»Wenn du es nicht schaffst, dann melde dich.«

»Mach ich.«

Fletcher hatte recht. Geschenke aussuchen war wirklich nicht seine Stärke. Er besaß die seltsame Begabung, immer etwas zu finden, das die zu beschenkende Person entweder schon besaß oder beim besten Willen nicht brauchen konnte. Dazwischen gab es nichts.

Sie machte sich draußen in der Diele bereit zum Aufbruch, griff nach ihrem Rucksack und suchte in seinen Tiefen nach ihrer Geldbörse. Ihre Finger stießen auf den üblichen Kleinkram, bis sie plötzlich, ganz weit unten in einem der vielen, völlig unnötigen seitlichen Innenfächer, etwas Ungewohntes streiften. War das möglich? Sie zog es heraus. Auf ihrer Handfläche lag der Schlüssel zu Sauls Wohnung.

Während sie ein paarmal tief durchatmete, übermannten sie mehrere Gefühle gleichzeitig. Zum einen empfand sie ein so tiefes Gefühl von Dankbarkeit wie in ihrem ganzen Leben noch nie. Sie dankte allen erdenklichen Mächten: dem Schicksal, dem Universum und auch Gott, obwohl ihr sogar in dem Moment schon klar war, dass es sich um eine seltsame Art von Gottheit handeln musste, wenn sie sich um Leute kümmerte, die einen Tatort manipulierten, an dem ein Mord geschehen war.

Gleichzeitig überkam sie ein Gefühl von Beunruhigung. Sie musste an jene Tage denken, wenn sie auf ihrem Fahrrad saß und anfing, Fehler zu machen; wenn sie beispielsweise nicht mitbekam, dass der Wagen vor ihr im Begriff war, links abzubiegen, oder wenn sie in ein Schlagloch krachte, weil sie den Blick nicht auf die Straße gerichtet hatte. An solchen Tagen wusste sie immer, dass irgendetwas nicht stimmte. Es handelte sich meistens um nichts Weltbewegendes, vielleicht war sie nur zu spät ins Bett gegangen oder abgelenkt, weil ihr eines der Kinder Sorgen bereitete. Doch wenn es passierte, ermahnte sie sich stets, dass an einem solchen Tag womöglich ein schlimmer Unfall geschehen könnte und sie sich besonders gut konzentrieren musste, um ihn zu vermeiden.

In diesem Fall aber lag es nicht nur daran, dass sie schlecht geschlafen hatte. Sie hatte die Leiche ihres Geliebten gefunden. Auch wenn es ihr vielleicht so vorkam, als würde sie einigermaßen funktionieren, war dem nicht so. Bestimmt stand sie unter Schock. Sie hatte versucht, in der Wohnung jede Spur von sich zu eliminieren, und trotzdem ihren Armreif liegen lassen wie eine Visitenkarte. Sie hatte den Schlüssel nicht gefunden, obwohl er sich die ganze Zeit in ihrem Rucksack befunden hatte. Dabei war sie der festen Überzeugung gewesen, jedes einzelne Fach gründlich durchsucht zu haben. Nicht aufregen, ermahnte sie sich selbst. Immer mit der Ruhe.

»Was sagst du?«, drang Fletchers Stimme aus der Küche an ihr Ohr.

Ihr war nicht klar gewesen, dass sie die Worte laut ausgesprochen hatte. Das war noch so ein Zeichen von Wahnsinn: mit sich selbst zu sprechen.

»Nichts. Ich muss los. Bis später.«

Sie trat in die Pedale wie eine Irre. In der Dalston Lane fuhr sie bei Rot über eine Kreuzung und wäre beinahe mit einem Lieferwagen kollidiert. Mit quietschenden Reifen kam der Wagen zum Stehen, und Neve fand sich knapp vor seiner Stoßstange wieder, während ein wütendes Gesicht sie durch die Windschutzscheibe beschimpfte. Sie machte eine entschuldigende Geste und setzte dann ihre Fahrt fort, wobei sie sich bemühte, langsamer und vorsichtiger zu fahren.

Es war zum Verrücktwerden. Jede Ampel zwischen Hackney und Holborn schien auf Rot zu schalten, sobald sie sich näherte. Neve versuchte vergeblich, sich nicht mit Fragen zu quälen. Was, wenn die Leiche bereits entdeckt worden war? Was, wenn jemand sie aus der Wohnung kommen sah? Ihr Vorsatz, sich diese Fragen nicht zu stellen, hatte zur Folge, während der ganzen Fahrt an nichts anderes denken zu können.

Ein weiteres Mal ließ sie ihr Rad um die Ecke stehen. Es hatte keinen Sinn, sich auf der Straße herumzudrücken, um sich zu vergewissern, dass die Luft rein war, denn was sollte das bringen? Wenn sie draußen herumhing und sich nervös umsah, würde man sich erst recht an sie erinnern. Also marschierte sie schnurstracks auf die Eingangstür zu, hielt dabei allerdings den Kopf gesenkt, für den Fall, dass eine unsichtbare Kamera sie im Visier hatte. Sie tippte den Code ein, eilte die Treppe hoch, ohne jemandem zu begegnen, und sperrte die Wohnung auf.

Sie hatte sich vorgenommen, keinen weiteren Blick auf die Leiche zu werfen. Sie würde nur schnell in die Küche eilen, sich den Armreif schnappen und wieder verschwinden. Trotzdem verspürte sie den schrecklichen Drang, ins Wohnzimmer zu gehen und nachzusehen, ob sie das alles nicht nur geträumt hatte. Sie gab diesem Drang nicht nach, sondern marschierte geradewegs in die Küche.

Der Armreif war nicht da.

Sie konnte es nicht glauben. Seine Abwesenheit kam ihr vor wie ein Loch in der Realität. Sie war sich so sicher gewesen. Beim Betreten der Küche hatte sie schon mehr oder weniger die Hand ausgestreckt, um danach zu greifen. Benommen schloss sie die Augen. Sie konnte sich so klar daran erinnern, den Armreif abgestreift zu haben, dass sie regelrecht spürte, wie er über ihre Hand glitt. War es möglich, dass sie das im Badezimmer getan hatte statt in der Küche? Sie lief ein paar Schritte, bis ihr bewusst wurde, wie laut ihre Absätze über den Boden klackten. Wenn in der Wohnung darunter jemand zu Hause war, dann wussten die Betreffenden jetzt, dass sich jemand in der Wohnung befand. So leise wie möglich setzte sie ihren Weg ins Badezimmer fort. Nein, da lag er auch nicht.

Sie zwang sich nachzudenken. Womöglich hatte sie den Armreif eingeschoben. Reflexartig tastete sie ihre Jacke ab. Natürlich war er nicht dort, das wusste sie schon vorher. Die Jeans, die sie angehabt hatte, lag zu Hause. Später würde sie in den Hosentaschen nachsehen. Aber das hatte sie ja längst getan, außerdem saß die Hose viel zu eng, da war kein Platz für einen Armreif.

Oder hatte sie ihn von der Arbeitsplatte genommen und irgendwo anders in der Wohnung wieder abgelegt? Aber wo? Sie war in allen Räumen gewesen, hatte in jeden Schrank und jede Schublade geschaut.

Ein weiteres Mal überprüfte sie sämtliche Oberflächen in Bad und Küche. Sie warf noch einmal einen Blick ins Schlafzimmer, auf die beiden Nachttische und unter das Bett. Sie fing sogar an, Schubläden herauszuziehen, bis ihr bewusst wurde, wie lächerlich das war. Sie ging hinaus in den Flur, kontrollierte die Fenstersimse und trat dann ins Wohnzimmer. Und da war er.

Obwohl er noch genauso dalag, sah er anders aus. Seine Augen wirkten inzwischen trüb, sein Gesicht war verfärbt, fleckig und aufgedunsen. Er sah aus, als wäre er verprügelt worden, aber Neve wusste, dass das alles mit dem zu tun hatte, was gerade in seinem toten Körper geschah. Es roch auch irgendwie anders, ganz leicht süßlich, auf eine ungute Art. Sie zwang sich, nur durch den Mund zu atmen und nicht mehr hinzuschauen, während sie sich um ihn herum bewegte. Schließlich kehrte sie ins Bad zurück, um sicherzustellen, dass sie den Reif beim ersten Mal nicht doch übersehen hatte. Nein, er war tatsächlich nicht da. Vielleicht hatte sie ihn in die Mülltüte geworfen. Dann bräuchte sie sich keine Sorgen zu machen, denn in diesem Fall würde er mit dem Rest des Mülls verschwinden.

Eine weitere Möglichkeit war, dass sie ihn mit nach Hause genommen hatte, ohne sich dessen bewusst zu sein. Das wäre auch in Ordnung....