Die Passion des stillen Rächers - Commissario Montalbano stößt an seine Grenzen

von: Andrea Camilleri

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2011

ISBN: 9783838712536 , 256 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Die Passion des stillen Rächers - Commissario Montalbano stößt an seine Grenzen


 

Zwei


Durch das weit geöffnete Fenster dringt eiskalte Luft herein. So ist das im Krankenhaus: Sie nehmen dir den Blinddarm raus und lassen dich an Lungenentzündung krepieren. Montalbano sitzt auf einem Stuhl, noch zwei Tage, dann darf er endlich nach Hause. Aber seit sechs Uhr morgens sind ganze Kolonnen von Putzfrauen unterwegs, die alles sauber machen, Flure, Zimmer, Abstellkammern, und alles auf Hochglanz bringen, Fenster, Türgriffe, Betten, Stühle. Nichts entgeht dem Putzwahn, Betten werden frisch bezogen, das Bad ist so blendend sauber, dass man es nur mit Sonnenbrille betreten kann.

»Was ist eigentlich los?«, fragt er eine Krankenschwester, die ihm wieder ins Bett hilft.

»Es kommt ein hohes Tier.«

»Wer denn?«

»Keine Ahnung.«

»Kann ich nicht auf dem Stuhl sitzen bleiben?«

»Nein.«

Nach einer Weile taucht Strazzera auf, er ist enttäuscht, dass er Livia nicht antrifft.

»Vielleicht schaut sie später mal vorbei«, beruhigt Montalbano ihn.

Doch er hat aus purer Gemeinheit »vielleicht« gesagt, um den Doktor zappeln zu lassen. Livia hat fest versprochen zu kommen, aber erst ein bisschen später.

»Wer wird denn erwartet?«

»Petrotto. Der Staatssekretär.«

»Und was will er hier?«

»Ihnen gratulieren.«

Scheiße! Das hat ihm gerade noch gefehlt! Der Abgeordnete Gianfranco Petrotto, Rechtsanwalt und jetzt Staatssekretär im Innenministerium, aber auch schon verurteilt wegen Korruption, ein andermal wegen Erpressung im Amt, ein drittes Mal war die Tat verjährt. Exkommunist, Exsozialist und dann mit triumphalem Erfolg für die Mehrheitspartei ins Parlament gewählt.

»Könnten Sie mir nicht eine Spritze geben, die mich für drei Stunden bewusstlos macht?«, fleht er Strazzera an.

Der breitet die Arme aus und geht.

Bevor der Abgeordnete und Anwalt Gianfranco Petrotto bei Montalbano erscheint, dröhnt tosender Applaus durch den Flur. Doch Petrotto nimmt nur den Präfekten, den Polizeipräsidenten, den Chefarzt und einen Abgeordneten aus seinem Gefolge mit ins Zimmer.

»Die anderen warten draußen!«, brüllt er.

Dann beginnt er zu reden, klappt den Mund auf und zu. Er redet und redet und redet. Er weiß nicht, dass Montalbano sich die Ohren mit Watte voll gestopft hat. Und den Mist, den der Kerl verzapft, nicht hören kann.

Seit einer Weile hört er den Fensterladen nicht mehr jaulen. Er sieht gerade noch, dass es Viertel vor fünf ist, dann schläft er endlich ein.

Im Schlaf drang das unaufhörliche Klingeln des Telefons sehr gedämpft an sein Ohr.

Er öffnete ein Auge und sah auf die Uhr. Es war sechs. Er hatte erst eineinviertel Stunden geschlafen. Hastig stand er auf, um das Klingeln zu stoppen, bevor es Livia aus dem Tiefschlaf holte.

»Dottori, hab ich Sie vielleicht geweckt?«

»Catarè, es ist Punkt sechs!«

»Auf meiner Uhr ist es aber drei nach sechs.«

»Dann geht deine Uhr eben ein bisschen vor.«

»Echt, Dottori?«

»Ganz echt.«

»Dann stell ich sie drei Minuten zurück. Danke, Dottori.« »Bitte.«

Beide legten auf, und Montalbano wollte ins Schlafzimmer zurück. Nach ein paar Schritten blieb er fluchend stehen. Was war denn das für ein bescheuertes Gespräch? Rief Catarella in aller Herrgottsfrühe an, um festzustellen, ob seine Uhr richtig ging? Da läutete es wieder, der Commissario machte kehrt und nahm noch beim ersten Klingeln ab.

»Dottori, bitte verzeihen Sie, aber bei der Uhrzeit hab ich vergessen, dass ich ja angerufen hab, weil ich Sie wegen was anrufen wollte.«

»Worum geht’s denn?«

»Einem Mädchen sein Motorroller ist weg.«

»Wie weg – abgenommen oder geklaut?«

»Ich weiß nicht, Dottori, abgenommen, glaub ich.«

Montalbano wurde wütend. Er hätte Catarella am liebsten angeschrien, riss sich aber zusammen. »Und du weckst mich um sechs Uhr morgens, um mir zu sagen, dass die Steuerfahnder oder die Carabinieri einen Roller konfisziert haben? Ausgerechnet mir erzählst du das? Mir ist das scheißegal, wenn du erlaubst.«

»Dottori, Sie brauchen doch von mir keine Erlaubnis, dass Ihnen was scheißegal ist«, sagte Catarella respektvoll.

»Außerdem bin ich noch nicht wieder im Dienst, ich bin krankgeschrieben!«

»Ich weiß, Dottori, aber ich glaub, das mit dem Roller war nicht die Finanzpolizei und die Carrabbinera.«

»Die heißen Carabinieri, Catarella. Wer war es dann?«

»Das ist ja der Haken, Dottori. Das weiß keiner, den kennt keiner. Und deshalb sollte ich ja bei Ihnen ganz persönlich selber anrufen.«

»Sag mal, ist Fazio da?«

»Nein, der ist dort.«

»Und Dottor Augello?«

»Der auch.«

»Und wer ist im Kommissariat?«

»Ich pass proffisorisch auf. Der Dottori Augello hat gesagt, ich tu ihn vertreten.«

Matre santa! Das war riskant und musste sofort geändert werden, Catarella brachte es fertig, nach dem Diebstahl einer Handtasche einen Atomkrieg auszulösen. Hatten sich Fazio und Augello tatsächlich auf den Weg gemacht, nur um einen Motorroller sicherzustellen? Und warum ließen sie bei ihm anrufen?

»Hör zu, du rufst jetzt Fazio an und sagst ihm, er soll sich sofort bei mir in Marinella melden.«

Er legte auf.

»Hier geht’s ja zu wie auf dem Marktplatz!«, sagte eine Stimme hinter ihm.

Er drehte sich um. Es war Livia, und ihre Augen glitzerten vor Wut. Sie hatte nicht den Morgenmantel angezogen, sondern war in sein Hemd vom Vortag geschlüpft. Als Montalbano sie so sah, spürte er ein großes Verlangen, sie zu umarmen. Doch er beherrschte sich, Fazio konnte jeden Moment anrufen.

»Livia, bitte, meine Arbeit …«

»Deine Arbeit solltest du im Kommissariat erledigen. Und nur, wenn du im Dienst bist.«

»Du hat ja Recht, Livia. Bitte, geh wieder ins Bett.«

»Was soll ich denn im Bett! Ich bin längst wach! Ich mache jetzt Kaffee«, sagte Livia.

Das Telefon klingelte.

»Fazio, hättest du die Güte, mir zu erklären, was diese Scheiße soll?«, fragte Montalbano laut. Er brauchte keine Rücksicht mehr zu nehmen, schließlich war Livia nicht nur aufgewacht, sondern sowieso schon sauer.

»Sei bitte nicht so ordinär!«, rief Livia prompt aus der Küche.

»Hat Catarella Ihnen nichts gesagt?«

»Catarella hat mir einen Scheiß gesagt …«

»Würdest du bitte aufhören?«, rief Livia.

»… er hat was von einem konfiszierten Roller gefaselt, mit dem aber weder die Finanzpolizei noch die Carabinieri zu tun haben. Und warum, verdammt noch mal …«

»Hör auf, habe ich gesagt!«

»… belämmert ihr mich damit? Vielleicht war es ja die Verkehrspolizei!«

»Nein, Dottore. Es geht nicht um einen konfiszierten Roller, sondern um die entführte Halterin dieses Rollers.«

»Wie bitte?«

»Es geht um Freiheitsberaubung, Dottore.«

Um Freiheitsberaubung?! In Vigàta?!

»Wo seid ihr denn? Ich komme sofort«, sagte er, ohne nachzudenken.

»Der Weg ist ziemlich kompliziert. Wenn es Ihnen recht ist, lasse ich Sie in spätestens einer Stunde abholen. Dann brauchen Sie nicht selbst zu fahren.«

»In Ordnung.«

Er ging in die Küche. Livia hatte die Kaffeemaschine aufs Gas gestellt. Und jetzt breitete sie eine Tischdecke über den Küchentisch. Als sie sich vorbeugte, um sie glatt zu streichen, rutschte ihr das Hemd hoch.

Das war zu viel für Montalbano. Er trat zwei Schritte auf sie zu und schlang von hinten die Arme um sie.

»Spinnst du?«, sagte Livia. »Lass mich los! Was willst du denn?«

»Rate mal.«

»Aber du tust dir …«

Der Kaffee stieg hoch. Niemand drehte die Flamme ab. Der Kaffee gurgelte. Die Flamme brannte weiter. Der Kaffee fing an zu kochen. Niemand kümmerte sich darum. Der Kaffee lief über und löschte die Flamme. Das Gas strömte weiter aus.

»Riecht es nicht irgendwie komisch nach Gas?«, fragte Livia nach einer Weile matt und löste sich aus Montalbanos Umarmung.

»Ich rieche nichts«, sagte er, denn er nahm nur den Duft ihrer Haut wahr.

»Oh Gott!«, rief Livia und drehte rasch das Gas ab.

Montalbano blieben knapp zwanzig Minuten zum Duschen und Rasieren. Den frisch zubereiteten Kaffee trank er im Stehen, denn es klingelte bereits an der Tür. Livia fragte nicht mal, warum und wohin er ginge. Sie hatte das Fenster geöffnet und räkelte sich mit erhobenen Armen in einem Sonnenstrahl.

Unterwegs berichtete Gallo, was er von der Geschichte wusste. Die entführte junge Frau – denn an einer Entführung schien kein Zweifel mehr zu bestehen – hieß Susanna Mistretta, war sehr hübsch, studierte in Palermo und stand kurz vor ihrer ersten Prüfung. Sie lebte mit ihren Eltern fünf Kilometer außerhalb der Stadt in einer Villa. Dorthin fuhren sie jetzt. Susanna bereitete sich seit etwa einem Monat zusammen mit einer Freundin in Vigàta auf ihre Prüfung vor, und gegen acht...