Adrenalin - Psychothriller

von: Michael Robotham

Goldmann, 2011

ISBN: 9783641063054 , 448 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Adrenalin - Psychothriller


 

1


Wenn man von dem schrägen Schieferdach des Royal Marsden Hospital zwischen Schornsteinen und Fernsehantennen hindurchblickt, sieht man noch mehr Schornsteine und Fernsehantennen. Es ist wie die Szene aus Mary Poppins, in der all die Schornsteinfeger mit wirbelnden Besen über die Dächer tanzen.

Von hier oben kann ich gerade noch die Kuppel der Royal Albert Hall ausmachen. An einem klaren Tag könnte ich wahrscheinlich bis Hampstead Heath gucken, obwohl ich bezweifle, dass die Luft in London je so klar wird.

»Schöner Ausblick«, sage ich und blicke zu dem Teenager, der gut drei Meter rechts neben mir kauert. Sein Name ist Malcolm und er wird heute siebzehn. Er ist groß und dünn, mit dunklen Augen, die unruhig hin- und herflackern, wenn er mich ansieht. Seine Haut ist weiß wie glänzendes Papier. Er trägt einen Schlafanzug und eine Wollmütze, um seinen kahlen Kopf zu verbergen. Chemotherapie ist ein brutaler Frisör.

Es ist drei Grad über Null, aber der eisige Wind drückt die Temperatur unter den Gefrierpunkt. Meine Finger sind schon taub, und ich kann meine Zehen in den Socken und Schuhen kaum noch spüren. Malcolms Füße sind nackt.

Ich kann ihn nicht erreichen, wenn er springt oder fällt. Selbst wenn ich mich strecke und auf die Regenrinne stütze, fehlen mir immer noch zwei Meter, um ihn aufzufangen. Das weiß er. Er hat alles genau berechnet. Sein Onkologe sagt, Malcolm hat einen überdurchschnittlichen IQ. Er spielt Geige und spricht fünf Sprachen – aber in keiner mit mir.

Seit einer Stunde stelle ich ihm Fragen und erzähle ihm Geschichten. Ich weiß, dass er mich hört, aber meine Stimme ist nur ein Geräusch im Hintergrund. Er konzentriert sich auf seinen eigenen inneren Dialog und debattiert die Frage, ob er leben oder sterben soll. Ich würde gern an der Debatte teilnehmen, aber dazu brauche ich eine Einladung.

Der National Health Service hat eine ganze Latte von Richtlinien für den Umgang mit Geiselnahmen und angedrohten Selbstmorden. Ein Krisenstab ist gebildet worden, bestehend aus leitenden Ärzten des Krankenhauses, Polizisten und einem Psychologen – mir. Zunächst haben wir uns bemüht, alles über Malcolm in Erfahrung zu bringen, was uns dabei helfen könnte zu verstehen, was ihn zu diesem Punkt getrieben hat. Ärzte, Schwestern und Patienten sowie Freunde und Verwandte werden befragt.

Der erste Verhandlungskontakt ist der entscheidende Punkt des Einsatzes. Alles hängt an mir. Deswegen bin ich hier draußen und friere mir Hände und Füße ab, während die anderen drinnen Kaffee trinken, das Personal befragen und Flipcharts betrachten.

Was weiß ich über Malcolm? Er hat einen primären Hirntumor im rechten posterioren Schläfenbereich, gefährlich nahe an seinem Hirnstamm, der zu einer teilweisen linksseitigen Lähmung und Taubheit auf dem linken Ohr geführt hat. Er ist in der zweiten Woche seines zweiten Zyklus der Chemotherapie.

Heute Morgen haben ihn seine Eltern besucht. Der Onkologe hatte gute Nachrichten. Malcolms Tumor schien zu schrumpfen. Eine Stunde später schrieb er eine aus drei Wörtern bestehende Nachricht: »Tut mir Leid.« Er verließ sein Zimmer und krabbelte durch ein Gaubenfenster im vierten Stock auf das Dach. Irgendjemand musste vergessen haben, es abzuschließen, oder Malcolm hatte einen Weg gefunden, es zu öffnen.

Das ist es – die Summe meines Wissens über einen Jugendlichen, der sehr viel mehr zu bieten hat als die meisten Kinder seines Alters. Ich weiß nicht, ob er eine Freundin hat, einen Lieblingsfußballverein oder einen Leinwandhelden. Ich weiß mehr über seine Krankheit als über ihn. Deswegen hänge ich in der Luft.

 

Der Sicherheitsgurt unter meinem Pullover ist unbequem. Er sieht aus wie die Dinger, die Eltern ihren Kleinkindern anschnallen, damit sie nicht weglaufen. In diesem Fall soll er mich retten, falls ich abstürze, sofern jemand daran gedacht hat, das andere Ende irgendwo zu befestigen. Es klingt vielleicht lächerlich, aber solche Details werden in einer Krisensituation manchmal vergessen. Vielleicht sollte ich zum Fenster zurückkriechen und jemanden bitten nachzusehen. Wäre das unprofessionell? Ja. Vernünftig? Noch mal ja.

Das Dach ist mit Taubenkot gesprenkelt, und die Schieferziegel sind mit Flechten und Moos bedeckt. Es sieht aus wie versteinerte Pflanzen, doch es ist glatt und tückisch.

»Das ist wahrscheinlich egal, Malcolm, aber ich glaube, ich kann mir ein bisschen vorstellen, wie du dich fühlst«, sage ich in einem weiteren Versuch, ihn zu erreichen. »Ich habe auch eine Krankheit. Ich behaupte nicht, dass es Krebs wäre. Das ist es nicht. Und solche Vergleiche sind so, als würde man Äpfel und Birnen durcheinander schmeißen, aber es ist immerhin beides Obst, oder?«

Der Empfänger in meinem rechten Ohr fängt an zu knacken. »Was in Gottes Namen machen Sie da?«, fragt eine Stimme. »Hören Sie auf über Obstsalat zu quatschen, und holen Sie ihn rein!«

Ich nehme den Ohrhörer heraus und lasse ihn über meine Schulter baumeln.

»Die Leute sagen immer: ›Es wird gut. Es kommt schon alles wieder in Ordnung‹, du kennst das ja. Das sagen sie, weil ihnen nichts Besseres einfällt. Ich weiß auch nicht, was ich sagen soll, Malcolm. Ich weiß nicht mal, welche Fragen ich stellen soll.

Die meisten Menschen wissen nicht, wie sie mit der Krankheit eines anderen umgehen sollen. Leider gibt es kein Benimmbuch oder eine Liste von Dingen, die man tun und lassen soll. Entweder kriegt man diesen wässrigen ›Ich ertrag das nicht, ich fang gleich an zu heulen‹-Blick oder krampfhafte Fröhlichkeit und Kopf-hoch-Reden. Die andere Möglichkeit ist komplette Verdrängung.«

Malcolm hat nicht geantwortet. Er starrt über die Dächer, als würde er aus einem winzigen Fenster hoch oben im grauen Himmel schauen. Sein Pyjama ist dünn und weiß mit einer gestickten blauen Borte an Kragen und Ärmeln.

Zwischen meinen Knien sehe ich drei Feuerwehrautos und ein halbes Dutzend Streifenwagen. Eines der Feuerwehrautos hat eine ausfahrbare Leiter auf einer Drehscheibe. Ich habe sie bis jetzt nicht groß beachtet, aber nun sehe ich, wie sie sich langsam dreht und nach oben ausgefahren wird. Warum tun sie das? Im selben Moment strafft Malcolm die Schulter gegen das Schrägdach und erhebt sich. Er hockt auf der Dachkante, die Zehen über der Regenrinne, wie ein Vogel auf einem Zweig.

Ich höre jemanden schreien und merke, dass ich es selber bin. Wild gestikulierend bedeute ich ihnen, die Leiter herunterzufahren. Ich sehe aus wie der Selbstmordspringer, während Malcolm vollkommen ruhig wirkt.

Ich taste nach meinem Ohrhörer und höre das Getöse drinnen. Der Krisenstab brüllt den leitenden Feuerwehrmann an, der seinen Stellvertreter anbrüllt, der irgendjemand anderen anbrüllt.

»Tu’s nicht, Malcom! Warte!« Ich klinge verzweifelt. »Siehst du die Leiter? Sie wird heruntergefahren. Siehst du? Sie wird heruntergefahren.« In meinen Ohren rauscht das Blut. Er bleibt am Rand des Daches hocken, krallt seine Zehen fest und entspannt sie wieder. Im Profil erkenne ich, wie seine langen dunklen Wimpern langsam blinzeln. In seiner schmalen Brust pocht sein Herz wie das eines Vogels.

»Siehst du den Feuerwehrmann mit dem roten Helm?«, frage ich, um in seine Gedanken zu dringen. »Den mit all den Messingknöpfen auf den Schultern. Was meinst du, wie stehen meine Chancen, ihm von hier aus auf den Helm zu spucken?«

Für den Bruchteil einer Sekunde blickt Malcolm nach unten. Es ist das erste Mal, dass er irgendetwas zur Kenntnis nimmt, was ich gesagt oder getan habe. Die Tür ist einen Spalt weit aufgegangen.

»Manche Leute spucken gern Kirsch- oder Wassermelonenkerne. In Afrika spucken sie mit Dung, was ziemlich eklig ist. Ich habe irgendwo gelesen, dass der Weltrekord in Kudu-Dung-Spucken bei etwa zehn Meter liegt. Ich glaube, Kudus sind eine Antilopenart, aber die Hand ins Feuer legen würde ich dafür nicht. Mir ist gute altmodische Spucke lieber, und es geht nicht um Weite, sondern um Zielgenauigkeit.«

Er sieht mich jetzt an. Mit einem Zucken meines Kopfes schicke ich einen schaumigen weißen Knubbel im hohen Bogen auf den Weg nach unten. Er wird vom Wind erfasst, nach rechts abgetrieben und landet auf der Windschutzscheibe eines Streifenwagens. Schweigend sehe ich ihm nach und frage mich, was ich falsch gemacht habe.

»Sie haben den Wind nicht einkalkuliert«, sagt Malcolm.

Ich nicke weise und beachte ihn kaum, aber dort, wo ich noch nicht erfroren bin, spüre ich ein warmes Glühen in mir. »Stimmt. Zwischen diesen Gebäuden entsteht ein ziemlicher Windkanal.«

»Billige Ausreden.«

»Na, du hast es bisher ja noch gar nicht versucht.«

Er blickt nach unten und denkt darüber nach. Er schlingt seine Arme um die Knie, als wollte er sich warm halten. Das ist ein gutes Zeichen.

Einen Moment später segelt ein Spuckekügelchen in einem weiten Bogen nach unten. Gemeinsam sehen wir ihm nach, als wollten wir es mit schierer Willenskraft zwingen, auf Kurs zu bleiben. Es trifft einen Fernsehreporter direkt zwischen die Augen, und Malcolm und ich stöhnen harmonisch auf.

Mein nächster Schuss landet harmlos auf der Treppe vor dem Gebäude. Malcolm fragt, ob er das Ziel ändern kann. Er will noch mal den Fernsehreporter treffen.

»Schade, dass wir keine Wasserbomben haben«, sagt er und stützt das Kinn auf ein Knie.

»Wenn du auf irgendwen auf der Welt eine Wasserbombe werfen könntest, wer wäre das?«

»Meine Eltern.«

»Warum?«

»Ich will nicht noch mal Chemo kriegen. Mir reicht’s.« Er führt das nicht weiter aus, und das ist auch nicht nötig. Es gibt nicht viele Behandlungen mit schlimmeren...