Menu surprise - Der elfte Fall für Bruno, Chef de police

von: Martin Walker

Diogenes, 2019

ISBN: 9783257609561 , 432 Seiten

2. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 10,99 EUR

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Menu surprise - Der elfte Fall für Bruno, Chef de police


 

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Bruno ließ sein Handy auch außerhalb der Arbeitszeiten eingeschaltet, um in Notfällen erreichbar zu sein. So auch an diesem kühlen, regnerischen Sonntagnachmittag im Frühjahr, der dichte Wolken vom hundert Kilometer entfernten Atlantik mit sich brachte. Bruno hatte frei und feuerte die Damenmannschaft seines Rugbyvereins beim Endspiel der regionalen Meisterschaft an.

Er coachte die Spielerinnen, die zwischen sechzehn und neunzehn waren, seit über zehn Jahren, was zwar nicht zu seinem Aufgabenbereich als erster und einziger Polizist von Saint-Denis gehörte, ihm aber viel Freude bereitete. Er engagierte sich gern für die Jugend der Stadt und war sehr stolz auf das Team. Frauenrugby war in Frankreich ein relativ neuer Sport, und es gab viele, nicht zuletzt in der städtischen Herrenmannschaft, die meinten, das Spiel sei für das zarte Geschlecht zu rauh. Aber nur wenige konnten an diesem Vorurteil festhalten, wenn sie die Mädchen erst einmal hatten spielen sehen. Ihre Tacklings waren so entschlossen wie die der Männer; sie liefen mehr und schlugen häufiger Pässe, spielten schneller und eleganter und traten den Ball ebenso gekonnt, wenn nicht mit größerer Finesse. Andererseits kam es bei ihnen seltener zum wüsten Gerangel im Paket, das für Herrenmannschaften so typisch war. Wollte Bruno ihren Stil mit einem einzigen Wort zusammenfassen, würde er sagen, dass sie anmutiger spielten.

So sah es an diesem Nachmittag auf dem Feld allerdings nicht aus. Der Ball war regennass und die meisten Spielerinnen so verdreckt, dass man die Teams an ihren Trikots kaum noch voneinander unterscheiden konnte. Es stand unentschieden, zwölf zu zwölf. Die Gegnerinnen kamen aus der sehr viel größeren Stadt Mussidan und waren als Vorjahresmeister hoch favorisiert. Nur wenige, zu denen auch Bruno zählte, gaben den Mädchen von Saint-Denis eine Chance.

Plötzlich fing sein Handy am Gürtel zu vibrieren an. Er achtete nicht weiter darauf. Es waren noch zehn Minuten zu spielen, und das Team von Saint-Denis drängte nach vorn, nur noch rund fünfzehn Meter von der gegnerischen Torlinie entfernt. Der Ball war in einem Gedränge verlorengegangen, und zwei Spielerinnen kämpften miteinander um seinen Besitz. Mit den Teamgefährtinnen im Rücken schaffte es das Mädchen aus Saint-Denis, den Ball an sich zu reißen und der linken Flügelstürmerin zuzuwerfen. Bruno stöhnte, als dieser ein regelwidriger Pass nach vorn unterlief. Der Schiedsrichter pfiff ab und ließ die Mädchen zum Gedränge antreten. Bruno nahm die Gelegenheit wahr, um einen Blick auf sein Handy zu werfen. Pamela, seine frühere Geliebte, mit der er nunmehr eng befreundet war, versuchte, ihn zu erreichen. Er hielt es für besser, ihren Anruf entgegenzunehmen.

»Bruno, mein Lieber, ich brauche deine Hilfe«, meldete sich die vertraute Stimme. »Eine Teilnehmerin an meinem Kochkurs war nicht wie verabredet am Bahnhof, als ich sie abholen wollte. Und sie antwortet nicht auf ihrem Handy. Ich habe mich am Flughafen von Bordeaux erkundigt, ob sie im Flieger war, aber das will man mir aus Datenschutzgründen nicht sagen. Ich habe ein Foto von ihr. Sie hat es mir geschickt, damit ich sie am Bahnhof erkenne. Könntest du mir helfen?«

Auf dem Feld nahmen von beiden Mannschaften jeweils acht Spielerinnen Aufstellung, was aussah, als gerieten Amazonen aus grauer Vorzeit aneinander. Die ersten drei aus beiden Gruppen legten einander die Arme um die Schultern und stemmten sich mit eingezogenen Köpfen in die gegnerische Reihe. Von hinten drängte das Pack nach, flankiert von den Flügelstürmerinnen in Lauerstellung. Bruno richtete seinen Blick auf eine der beiden: Paulette. Die gerade neunzehn Jahre alt gewordene Tochter des Floristen aus Saint-Denis war ein wahres Naturtalent, die beste Spielerin, die er je betreut hatte. Bruno wusste, dass einer der Scouts für die Nationalmannschaft irgendwo auf der Tribüne saß und nach vielversprechenden jungen Spielerinnen Ausschau hielt, wie immer bei Endspielen der regionalen Meisterschaft. Paulette war die einzige seiner Spielerinnen, die das Zeug für die erste französische Liga hatte.

»Ich komme gerade nicht weg, werde mich aber später am Nachmittag darum kümmern«, versprach Bruno, ohne den Blick vom Gedränge zu nehmen. »Schick mir eine SMS mit ihrem Namen und den Flugdaten. Und das Foto per E-Mail.« Kurz und knapp, aber nicht unfreundlich verabschiedete er sich und steckte das Handy wieder weg.

Mit vollem Körpereinsatz verlieh Paulette ihren Mitspielerinnen zusätzlichen Schub, als sich beide Gruppen gegeneinanderstemmten und um den seitlich vom Gedrängehalb eingeworfenen Ball kämpften. Als Paulette, den Kopf tief geduckt, sah, dass er mit einem Hackentritt von der eigenen Mannschaft weg nach hinten befördert wurde, löste sie sich aus dem Gedränge und rückte, den Weg des Balles antizipierend, in den Freiraum.

Es ging darum, die Lage richtig einzuschätzen. Geriete sie vor den Ball, würde sie einen Straftritt verschenken. Käme sie zu spät, hätte die Nummer 9 genug Zeit, den Ball an eine Mitspielerin zurückzupassen, die dann den Ball ins Seitenaus würde dreschen können. Ein getretener Ball war unmöglich zu erlaufen. Der Abstand zur gegnerischen Anspielpartnerin aber war relativ gering. Paulette würde dem Rückpass folgen und den Ball zu ergattern versuchen, ehe ihn der Verbindungshalb unter Kontrolle gebracht hätte.

Paulettes Timing war perfekt. Als die Nummer 9 den Ball aus dem Gedränge zog und sich umdrehte, um ihn zurückzupassen, rannte sie los. Ihre Beschleunigung war nur unwesentlich geringer als die des Balls, und sie traf auf das angespielte Mädchen, bevor es den Ball sichern konnte. Paulette riss ihn an sich, schlug einen Haken und rannte auf die Torlinie zu, wo sie nur noch die Schlussfrau auszutricksen hatte. Sie ließ den Ball auf den Fuß fallen, lupfte ihn über deren Kopf hinweg, fing den Ball in vollem Lauf wieder auf und konnte sich jetzt Zeit lassen, den Ball hinter die Linie zu legen und eine Erhöhung klarzumachen. Bis auf den Trainer des Teams aus Mussidan sprangen alle Zuschauer begeistert auf und jubelten.

»Gut gespielt, Saint-Denis!«, rief Bruno und ignorierte das Signal einer eingegangenen Nachricht auf seinem Handy, als Paulette den Ball für einen Kick über die Querstange zurechtlegte. Er nahm an, dass ihm Pamela wie versprochen Einzelheiten über die vermisste Frau zugeschickt hatte. Paulette nahm ein paar Schritte Anlauf, konzentrierte sich auf den Ball und trat ihn mit Leichtigkeit durchs Tor.

»Nicht nachlassen!«, rief Bruno. »Legt noch einen drauf!«

»Mon Dieu, das Mädchen ist ein Juwel«, schwärmte Lespinasse, der Kfz-Schlosser von Saint-Denis und diesjährige Vorsitzende des Rugbyclubs. »Wer hätte das gedacht? Demnächst wird sie für Frankreich spielen, darauf kannst du wetten.«

Bruno nickte, abgelenkt vom Anblick Paulettes, die sich würgend vornüberbeugte und niederkniete. Er rannte über das Feld auf sie zu, drückte ihr einen feuchten Schwamm in den Nacken und gab ihr zu trinken. Paulette nahm einen Schluck aus der Flasche, stand wieder auf und joggte zurück zu ihren Mitspielerinnen.

Das Spiel wurde fortgesetzt. Mussidan versuchte es mit einem kurzen Kick, worauf alle Stürmerinnen zusammenliefen. Die Mädchen von Saint-Denis warfen sich ihnen entgegen, konnten aber nicht verhindern, dass deren Verbindungshalb den Ball eroberte und um das Paket herumzuflitzen versuchte. Paulette war jedoch auf dem Posten und holte die Nummer 10 von den Beinen. Fast gleichzeitig ertönte der Schlusspfiff. Die Mädchen von Saint-Denis hatten mit einer überzeugenden Leistung und neunzehn zu zwölf Punkten ihre erste Meisterschaft gewonnen. Bruno tanzte vor Freude an der Torlinie, als die beiden Mannschaften aneinander vorbeidefilierten und sich höflich abklatschten.

Strahlend vor Stolz und die Gesichter noch gerötet vom Spiel, standen sie an, um Bruno mit ihren verdreckten Trikots stürmisch zu umarmen. Der hatte feuchte Augen, als er allen auf die Schultern klopfte, ihr Spiel lobte und ihnen versicherte, dass sie den Pokal vollauf verdient hatten.

Schließlich kamen auch Eltern und Familienangehörige herbeigelaufen, um ihre Töchter hochleben zu lassen. Ihnen folgte Bürgermeister Mangin, der Bruno eine Flasche Cognac in die Hand drückte, nachdem er selbst zur Feier des Tages einen guten Schluck daraus genommen hatte. Philippe Delaron, der für die Sud Ouest arbeitende Stadtfotograf, versuchte, die Mädchen für ein Mannschaftsfoto zu gruppieren; die aber sprangen so ausgelassen umher, dass er scheiterte. Erst als Bruno ordnend eingriff, konnte er ein paar Fotos schießen. Als alter Fuchs im politischen Geschäft schaffte es der Bürgermeister, sich in deren Mitte zu positionieren. Jubelnd wurde der Pokal in die Höhe gehoben und Bruno für ein letztes Foto mit ins Bild gebracht. Als die Mädchen auseinanderschwärmten, fiel ihm auf, dass Paulette ungewöhnlich bleich aussah.

»Alles okay mit dir?«, fragte er und schaute ihr prüfend in die Augen. »Hast du dich bei diesem Tackle verletzt?«

»Nein«, antwortete sie und wich seinem Blick aus. »Hab mir nur den Magen verdorben. Ist nicht weiter schlimm.« Sie umarmte Bruno, begrüßte dann ihre Eltern und gab Philippe einen Korb, der noch ein letztes Foto von ihr machen wollte, bevor sie sich dem Rest der Mannschaft anschloss, um zu duschen.

Bruno ließ den Blick über die Zuschauer schweifen, die dem Stadionausgang zuströmten, und hoffte, den Scout der Nationalmannschaft ausfindig zu machen. Auf der Tribüne saß noch ein einzelner Mann, der auf ein Tablet auf...