Angst in der Fächerstadt - Kriminalroman

von: Helen Kampen

Gmeiner-Verlag, 2019

ISBN: 9783839258866 , 312 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 6,99 EUR

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Angst in der Fächerstadt - Kriminalroman


 

Kapitel 1


Als Kriminalhauptkommissar Georg König über den Platz der Menschenrechte eilte, erhellte der Vollmond die Klangskulpturen aus schwarz lackiertem Stahl und zeigte ihm den Weg zum Eingang. Eine Gruppe grölender Studenten kam gerade aus der Atlantic Bar direkt neben dem Filmpalast, jeder mit einer halb leeren Bierflasche in der Hand und grenzenlosem Enthusiasmus in den Augen. Ausgestattet mit einer Lust, die Nacht zu erobern und gegen die Müdigkeit so lange wie möglich anzukämpfen. Gleich würden sie in den Nightlinerbus Nummer zwei einsteigen und einen Abstecher in einen der Karlsruher Clubs in der Innenstadt machen. Oder sie würden zum Alten Schlachthof fahren und im Substage, im Tollhaus, der Fettschmelze oder in der Alten Hackerei tanzen gehen. Einen kurzen Augenblick beneidete der Kriminalhauptkommissar die Leichtigkeit, mit der sie die Nacht durchfeiern, das Leben genießen konnten. Ohne sich Gedanken über das Morgen zu machen.

Er machte sich Gedanken über das Morgen. Immer schon. Er wusste, dass die nächsten Tage nicht wie normale Arbeitstage ablaufen würden, an denen er von morgens um 7.30 Uhr bis nachmittags um 16.30 Uhr arbeitete. Zumindest so lange, bis dieser Fall geklärt wäre. Was er nicht wusste, war, was ihn gleich erwartete, wenn er das ZKM betrat. Seine Kollegin hatte ihn um kurz vor 1.00 Uhr angerufen. Mit neutraler Stimme, wie ferngesteuert. Viola Weisenhaupt hatte ihn lediglich darüber informiert, dass es einen unbekannten Toten gäbe. Und dass die Rechtsmedizin längst auf dem Weg war. Wegen der eindeutigen Tatsache, dass es sich hier um einen Mord handelte. Selbstverständlich hatte sie die Kollegen von der Kriminaltechnik bereits in der Nacht ins Bild gesetzt und damit die ersten Schritte der Ermittlungsarbeit zum Laufen gebracht. Mehr hatte sie ihm nicht mitgeteilt. Georg hatte einige Zeit gebraucht, um zu realisieren, was Viola gesagt hatte, denn seine Frau Amadea war erst eine Stunde zuvor von einer Ausstellungseröffnung im ZKM gekommen, und sie hatten beide die Nacht noch mit einem Absacker beendet. Er hatte das Handy zurück auf den Nachttisch gelegt und seinen Kopf auf das Kissen. Zumindest kurz wollte er die unterschiedlichen Möglichkeiten abwägen. Doch er hatte keine Wahl. Er konnte nicht warten. Die Kollegen konnten nicht warten. Seine Präsenz am Tatort war zwingend. Als er erkannte, dass es überhaupt keine Alternativen gab, war er hellwach.

Nun ging er als Einziger an dem gläsernen Kubus des Zentrums für Kunst und Medientechnologie entlang, dem bedeutendsten Kunsthaus Deutschlands. War sein früheres Leben wirklich weniger anstrengend oder kam ihm das nur so vor, weil in der Zwischenzeit zu viel Druck auf ihm lastete? Oder machte sich sein fortschreitendes Alter allmählich bemerkbar? Das war jetzt nebensächlich. Er musste sich zusammenreißen. Das hatte er sich versprochen. Seiner Frau. Seinem Vorgesetzten. Jetzt würde er beweisen müssen, wie stark er in Wirklichkeit war. Vor ihm lag jedoch wieder eine Aufgabe, die ihn fast in die Knie zwang. Denn obwohl ihn die Häufigkeit, mit der er in der Vergangenheit mit dem Tod in seinen unterschiedlichsten Facetten konfrontiert worden war, zu einem routinierten Polizisten hatte werden lassen, war er vor einer Tatortbegehung jedes Mal seltsam berührt. Er wusste nicht, was ihn erwartete. Ein Toter, der ihn mit leeren Augen anstarrte, als wolle er ihm sagen, dass er seinen Mörder schnappen sollte, weil er drei Kinder als Halbwaisen zurückließ? Oder die Leiche von jemandem, für den der Tod eine Erlösung darstellte? Doch in welchem Zustand der Mensch war, den er gleich zu Gesicht bekäme, oder um wen es sich dabei handelte, wusste er nicht. Noch nicht. Ob jung oder alt, männlich oder weiblich, all das spielte zudem keine Rolle. Es war völlig egal. Wichtig war nur, die Hintergründe des Todes aufzuklären. Nichts anderes zählte jetzt. Nichts anderes zählte in den nächsten Stunden. Georg musste sich fokussieren. Auf das Verbrechen. Auf den Täter. Nicht nur, um den Angehörigen die notwendige Erklärung zu liefern, um das Geschehene zu verstehen und bestenfalls zu verarbeiten. Sondern auch, um sich selbst zu retten. Sich aus der quälenden Lethargie zu befreien, der er sich nur allzu gern wieder hingeben würde. Die ihre Arme ausbreitete wie eine verlassene Mutter bei der Rückkehr ihres Kindes. Doch er würde ihr nicht nachgeben. Nie mehr.

Dann straffte er die Schultern und griff nach der Klinke der fast vier Meter hohen Glastür, die ins Foyer eines der weltweit renommiertesten Kunstmuseen führte. Der Eintritt in eine andere Welt. Das ZKM, das es in einem internationalen Ranking auf den vierten Platz geschafft hatte, stand nicht mitten in der Innenstadt, sondern hatte sich in der Südweststadt angesiedelt. In einer ehemaligen Munitionsfabrik, die während des Zweiten Weltkriegs weder gefunden noch zerstört wurde. In dem denkmalgeschützten Industriebau bekamen unterschiedliche Künstler auf über 15.000 Quadratmetern Raum für verschiedene Ausstellungen aus allen Bereichen der Kunst. Ob Malerei, Fotografie oder Medienkunst, im ZKM wurden klassische Kunstwerke ins digitale Zeitalter fortgeschrieben. In der Scheibe spiegelte er sich. Mit dem rostbraunen Pferdeschwanz und dem Fünftagebart hätte Georg mittlerweile besser in eine Punkrock-Band gepasst als zum Kriminalkommissariat. Er sah müde aus. Müde und hilflos. Wie erwartet ließ sich die Tür nur mit großer Kraftaufwendung öffnen, denn um diese Uhrzeit war der automatische Türöffner abgeschaltet. Er durchschritt sie, während er sich gegen die herausfordernden Aufgaben, die ihn in den kommenden Tagen erwarteten, wappnete. Er würde den engsten Verwandten die Nachricht des Todes überbringen müssen, wohlwissend, dass die meisten Verbrechen in genau diesem Kreis stattfanden.

Ein Plakat kündigte die Eröffnung der Ausstellung »Digital Food« am gestrigen Abend an, unter deren Titel Georg sich zunächst nichts vorstellen konnte. Er wusste von seiner Frau Amadea, dass sich auch die Lebensmittelindustrie für das digitale Zeitalter wappnen musste, warum man allerdings Lebensmittel in einem Kunstmuseum zweckentfremdete, war ihm schleierhaft. Nach ihrem letzten Artikel für das Naturmagazin »Terra« hatte Amadea ihren stressigen Job als Redakteurin gekündigt, auch weil sie damals in die Fänge einer Mörderin geraten war. Stundenlang musste sie einer Frau gegenübersitzen, die jeden Moment zu explodieren drohte. Anschließend hatte sie die Reißleine gezogen und ihren Entdeckungsjournalismus auf die Lebensmittelbranche reduziert. Ihr Magazin »Food im Ländle« erschien bereits zum dritten Mal und wurde sehr gut angenommen. Nach all den Lebensmittelskandalen interessierten sich die Menschen immer mehr für die Lebensmittel, die sie ihren Körpern zuführten.

Doch auch Amadea hatte ihm bislang nicht erklären wollen, was »Digital Food« bedeutete. Letzte Nacht war es ihr zu nervenaufreibend erschienen, sie wollte erst einmal eine Nacht über das Gesehene schlafen und Georg zunächst nicht darüber berichten. Sollte es etwa heißen, dass die Menschen in Zukunft nicht mehr wie heute Essen zu sich nahmen, sondern sich von Pillen und Tabletten ernährten, deren Blisterverpackungen einen Code enthielten und automatisch nachgeliefert wurden, wenn sie ein Minimalgewicht unterschritten? Oder bedeutete es, dass die Menschen zukünftig nur noch in Gedanken aßen und der Magen lediglich virtuell über das Smartphone oder einen Chip im Arm gesteuert wurde? Georg schüttelte den Kopf, er wollte sich überhaupt nicht vorstellen, inwieweit die digitale Evolution weiteren Einzug in persönliche Bereiche wie Lebensmittel und Genuss hielt. Das würde eine über Jahrtausende gelernte Routine der Menschheit durchbrechen. Musste sich alles ändern, nur weil es die Zeit verlangte?

Jedes Mal, wenn Georg die mit einer lichten Höhe von über zehn Metern ausgestattete Eingangshalle betrat, fühlte er sich klein. Zu klein, um die Kunst zu verstehen. Zu klein, um Kunst zu rationalisieren. Zu klein, um die Menschen vor Verbrechern zu beschützen. Zu klein, um die Welt zu verändern. Die dunkelgrauen Stahlträger, die bis unter das Dach reichten, verliehen dem Foyer einen Hauch von Flughafenatmosphäre. Denn genau wie am Flughafen war auch hier alles im Fluss. Es gab keinen Platz für Rückschritt. Keinen Platz für Stillstand. Keinen Platz für Tod.

»Georg, gut, dass Sie da sind. Hier entlang«, forderte ihn Viola Weisenhaupt auf, seine Kollegin aus dem K1, nachdem er zunächst den halbrunden, zu dieser Uhrzeit unbesetzten Informationsschalter angesteuert hatte. An dem frühen Morgen blitzten eine orangefarbene Hose, ein enges weißes Oberteil und ein bunt gemusterter Gürtel unter ihrem Schutzanzug hervor. Wie immer trug sie eine farblich zu ihrem Outfit abgestimmte Brille wie andere Frauen eine Kette.

»Stimmt es, dass ihn bisher niemand identifizieren konnte?«, vergewisserte Georg sich bei der 34-Jährigen, die aus Berlin stammte und sich vor einigen Monaten nach Karlsruhe hatte versetzen lassen. Nicht etwa der Liebe wegen, sondern weil sie genug hatte von dem vielen Elend und den zunehmenden Übergriffen auf Beamte im Polizeidienst, bei denen sie selbst bereits Opfer geworden war. Sie hatte sich Karlsruhe ausgesucht, weil sie hoffte, dass es in einer kleinen Großstadt beschaulicher zuging. Außerdem kannte sie die aufstrebende Technologiestadt von einem Netzwerkkongress, der im letzten Jahr in der dm-Arena stattgefunden hatte. Trotz ihres jungen Alters machte sie einen hervorragenden Job, was vermutlich auch daran lag, dass sie in der Hauptstadt bereits mit sämtlichen Verbrechen konfrontiert worden war und sie somit nicht mehr viel umhaute.

»Leider ja«, antwortete die Polizistin, als würde sie den Ausverkauf von...