DARK LOVE - Ohne dich bin ich verloren - Roman

von: Estelle Maskame

Heyne, 2019

ISBN: 9783641244248 , 576 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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DARK LOVE - Ohne dich bin ich verloren - Roman


 

Kapitel 1

Fünf Jahre zuvor

Mit steifer Hand fahre ich mir durch das feuchte, wirre Haar. Eine Stunde bin ich in der Wanne gelegen und immer wieder mit dem Kopf untergetaucht, um zu testen, wie lange ich es unter Wasser aushalte. Meine absolute Rekordzeit liegt bei dreiundneunzig Sekunden, aber da geht noch mehr.

Ich setze mich auf den Wannenrand und greife nach der Packung Schmerzmittel am Waschbecken. Es sind nur noch wenige Pillen übrig, Mom besorgt hoffentlich bald Nachschub. Ich drücke zwei Tabletten aus dem Blister und umschließe sie mit der Faust, während ich mich zum Wasserhahn beuge und mir ein Glas einlaufen lasse. Ich schlucke die erste, dann die zweite, dann kippe ich das restliche Wasser in den Abfluss.

Mein Blick wandert zu meinem Schulterblatt. Die Haut ist abgeschürft, aber zum Glück hat es aufgehört zu bluten. Um die frische Verletzung herum blüht bereits ein farbenprächtiger Bluterguss auf, irgendwo zwischen Rot und Violett und Blau. Vorsichtig betaste ich ihn, doch der Druck löst tief unter der Haut einen dumpfen Schmerz aus. Ich würde aus der Küche Eis holen, aber ich will auf keinen Fall, dass mich irgendjemand dabei erwischt. Es ist schon fast Mitternacht. Ich sollte längst schlafen. Morgen habe ich Schule.

Ich richte mich auf und räume die Tabletten zurück in das Schränkchen über dem Waschbecken, ganz hinten in das zweite Fach von oben – höher komme ich nicht. Außerdem werde ich sie morgen ohnehin wieder brauchen. Als ich die Spiegeltür mit einem leisen Klicken schließe, starrt mir mein ausdrucksloses Gesicht entgegen. Erst jetzt fällt mir der winzige Schnitt in der Unterlippe auf. Ich schiebe mich näher heran, nehme die Lippe zwischen Daumen und Zeigefinger und inspiziere die Wunde genauer. Ich könnte nicht sagen, wann und wo das passiert ist, frisch ist sie jedenfalls nicht, also kann sie nicht von heute Abend sein.

Kopfschüttelnd trete ich zurück. Es spielt keine Rolle, woher ich die Verletzung habe, denn sobald sie verheilt ist, wird eine neue an ihre Stelle treten. Genau wie weiteres Blut fließen wird, es mehr blaue Flecken geben wird.

Mein Spiegelbild fixiert mich immer noch, die Augen ausdruckslos und mit dunklen Schatten darunter, die Schultern hängend, der Mund verkniffen, wie ein ständiges Stirnrunzeln. Mit einer Hand schiebe ich die Haare vorne hoch. Eine tiefe Schnittwunde, die parallel zu meinem Haaransatz verläuft, wird sichtbar. Sie will und will nicht verheilen, langsam mache ich mir Sorgen, es könnte sich eine Narbe bilden. Hastig streiche ich die feuchten Fransen darüber und wende mich vom Spiegel ab.

Ich greife nach meinem T-Shirt und schlüpfe hinein. Eine Reihe blassbrauner Flecken zieht sich über meinen unteren Rücken. Das darf niemand sehen, deshalb zeige ich mich nie ohne Oberteil. Ich steige in meine Shorts, schmeiße das Handtuch in die abgelassene Wanne und werfe einen letzten Blick in den Spiegel. Nichts zu sehen. Gut.

Ich ziehe vorsichtig die Tür des kleinen Badezimmers einen Spaltbreit auf und trete möglichst lautlos hinaus auf den Flur. Nirgends brennt Licht, alles ist dunkel. Unten im Wohnzimmer läuft der Fernseher, und ich höre meine Eltern über die laufende Sendung lachen. Leise schiebe ich mich die Treppe hinunter, doch im Näherkommen fällt mir auf, dass die Wohnzimmertür nur angelehnt ist. Statt schleunigst den Rücktritt nach oben anzutreten, schleiche ich darauf zu und spähe am Türstock vorbei hinein.

Mom und Dad sitzen auf dem Sofa, eng aneinandergekuschelt. Er hat die Arme um sie geschlungen und hält sie fest an sich gedrückt, das Kinn auf ihren Scheitel gestützt. Sie wirkt müde, aber glücklich. Immerhin ist sie erst vor einer Stunde von der Arbeit heimgekommen, gerade als ich die Badezimmertür hinter mir zugesperrt hatte und in die Wanne gestiegen war.

Schlagartig weiche ich von der Tür zurück und wirble herum. So schnell mich meine Füße tragen, stürme ich die Treppe nach oben, zwei Stufen auf einmal nehmend. Zum Glück dämpft der Teppich meine Schritte. Die Tür zu meinem Zimmer steht sperrangelweit offen. Ich mache das Licht an, doch bevor ich mich hineinrette, halte ich noch einmal inne und werfe einen Blick in das Zimmer zu meiner Rechten. Es ist das von meinen Brüdern.

Blinzelnd starre ich in die Dunkelheit, bis meine Augen sich daran gewöhnt haben. Mein jüngster Bruder, Chase, liegt auf dem Bauch im linken Bett und schläft seelenruhig. Er hat das Gesicht im Kissen vergraben, ein Bein baumelt über den Rand der Matratze. Im anderen Bett schnarcht Jamie leise vor sich hin. Er hat eine Beule an der Stirn, weil ihm ein Junge aus seinem Baseballteam versehentlich den Ball an den Kopf geknallt hat.

Ich wünschte, meine Verletzungen ließen sich auch auf Unfälle zurückführen.

Leise trete ich den Rückzug an und ziehe die Tür hinter mir zu, lasse sie aber einen Spalt offen stehen. Chase hat Angst im Dunkeln.

In meinem Zimmer ist alles so, wie ich es verlassen habe. Meine Mathehausaufgaben liegen zerknittert und zerfetzt auf dem Boden, völlig unbrauchbar. So kann ich das nächste Woche unmöglich abgeben. Eins der Blätter ist in drei Teile zerrissen. Es ist das mit der einen Gleichung, die ich verpatzt habe. Aber ein simpler Fehler ist offensichtlich immer noch ein Fehler zu viel, völlig egal, dass es sich nur um Siebte-Klasse-Algebra handelt. Jetzt muss ich die Aufgaben morgen noch einmal machen und dann beten, dass ich seinen Ansprüchen endlich gerecht werde.

Ich sammle die zerfetzten Blätter auf und stopfe sie in meinen Rucksack; zuletzt knipse ich das Licht aus und klettere ins Bett. Nur leider tut es höllisch weh, der Schmerz lässt mich zusammenzucken. Langsam lasse ich die Luft aus meinen Lungen entweichen, während ich mich vorsichtig auf meine rechte Seite drehe. Ich ziehe mir die Decke hoch bis unter die Nase, und dann liege ich eine gefühlte Ewigkeit wach und starre Löcher in die Dunkelheit. Ich brauche immer etwas länger zum Einschlafen.

Ich hebe die linke Hand und halte sie hoch. Vorsichtig krümme ich die Finger, lasse das Handgelenk dreimal kreisen. Diese Übung soll ich eigentlich jeden Tag mehrere Male wiederholen, aber ich vergesse es ständig. Nachdem meine Hand einen Monat lang eingegipst war, ist sie immer noch ziemlich steif. Es wird vermutlich noch mehrere Wochen dauern, bis der Bruch endgültig verheilt ist.

Plötzlich sind auf der Treppe Schritte zu hören, sofort lasse ich den Arm fallen, schließe die Augen und stelle mich schlafend. Das mache ich regelmäßig, ich bin mittlerweile ein richtiger Experte darin. Damit es noch überzeugender wirkt, öffne ich sogar ganz leicht den Mund und bemühe mich um tiefe und gleichmäßige Atemzüge.

Die Tür geht auf, gefolgt von einem Moment der Stille. Er scheint kurz innezuhalten, bevor er den ersten Schritt ins Zimmer macht. Ich weiß, dass er es ist.

Mit einem sanften Klicken schließt er die Tür. Eine Weile ist nichts zu hören außer seinen tiefen Atemzügen, dann spüre ich, wie er sich langsam durchs Zimmer bewegt. Ich weiß nicht, was er vorhat, und so gern ich herumrollen und mit eigenen Augen sehen würde, was er macht, will ich kein Risiko eingehen. Deshalb verhalte ich mich weiter mucksmäuschenstill.

Ein Rascheln ist zu hören, möglicherweise durchsucht er meinen Rucksack, es klingt, als würde er in meinen Unterlagen blättern. Wenn ich daran denke, was am frühen Abend passiert ist, scheint es mir am naheliegendsten, dass er nach meinen Mathehausaufgaben sucht. Wieder herrscht Stille. Noch mehr Geraschel, gefolgt von einem Seufzen, das fast verzweifelt klingt.

Und dann fängt er an zu reden, seine Stimme beendet die Stille. Seine Worte klingen leise und gedämpft, als er sagt: »Tut mir leid, Tyler.«

Ich kann nicht sagen, ob er denkt, ich schlafe, oder ob er weiß, dass ich wach bin. Jedenfalls entschuldigt er sich. Das ist nichts Neues, nur dass er es nie ernst meint. Denn wenn er es ernst meinen würde, müsste er es nicht gleich am nächsten Tag wieder sagen, genauso wie am darauffolgenden. Ich habe Angst, dass es immer etwas geben wird, wofür er sich entschuldigen muss.

Ich verhalte mich weiter ruhig, denn je schneller ich ihn davon überzeuge, dass ich schlafe, desto schneller verschwindet er wieder. Und er scheint es mir sogar abzunehmen, weil er nämlich nichts weiter von sich gibt. Ich glaube nicht, dass er sich von der Stelle bewegt hat, aber ich könnte auch nicht sagen, wo in meinem Zimmer er sich befindet.

Einige Minuten verstreichen, ohne dass etwas geschieht, ich konzentriere mich voll und ganz auf meine Atmung und bete zu Gott, er möge bald gehen. Endlich sind wieder Schritte zu hören, die vom Teppich fast verschluckt werden, eine Tür wird geöffnet, gefolgt von einem letzten Innehalten. Erneut ein Seufzen, doch diesmal klingt es genervt, und ich weiß nicht, ob er sich über mich oder über sich selbst ärgert. Wahrscheinlich über mich. Wie immer.

Die Tür wird zugezogen, dann ist er fort.

Erleichtert atme ich aus und schlage die Augen auf. Wenigstens kann ich mir nun sicher sein, dass die Gefahr für heute Nacht gebannt ist. Ich kann getrost schlafen; nur dass mir das nicht gelingen wird, weil ich schon seit Monaten nicht mehr richtig schlafe. Schon nach wenigen Stunden werde ich hochschrecken und eine Zeitlang an die Decke starren, bis ich erneut einnicke, und dann geht alles wieder von vorne los.

Doch obwohl ich selten erholsamen Schlaf finde, ist das der Höhepunkt des Tages. Zumindest in den nächsten sieben Stunden kann ich mich darauf verlassen, dass ich sicher bin. Ich genieße dieses Gefühl, denke aber gleichzeitig mit Schrecken daran, dass mich morgen das gleiche Spiel erwartet.

Morgen werde ich zur Schule gehen und vorspielen, dass alles in bester...