Die Entführung - Kriminalroman

von: Petra Johann

Blanvalet, 2019

ISBN: 9783641230623 , 512 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Die Entführung - Kriminalroman


 

Montag, 11. September 2000

1

Der Tag, an dem es geschah, war zu heiß für einen elften September. Die ganze letzte Woche war außergewöhnlich trocken und warm gewesen. Badewetter, Eisdielenwetter, Im-Gras-liegen-und-in-die-Sonne-blinzeln-Wetter. Entgegen der Vorhersage, aber Leni hatte gewusst, dass die letzten zwei Ferienwochen schön werden würden. Das Wetter spielte immer mit, wenn sie mit Ronja zusammen war. Im Sommer war dann alles in süße goldene Farben getaucht, im Herbst in warme bronzene, im Winter in glitzernde silberne. Und im Frühling in irgendein strahlendes, duftendes Gemisch. Ronja besaß die Gabe, die Elemente zu beeinflussen. Ronja besaß viele Gaben.

»Wer zuerst an der Abzweigung zum Wald ist, darf nachher vorn sitzen«, rief Ronja, während sie die Tür des Schuppens zuwarf, der zum Ferienhaus gehörte.

»Hey, das ist unfair«, protestierte Leni. »Du bist viel schneller als ich.«

»Dafür hast du das bessere Rad und ich den Ballast.« Ronja schnappte sich die Tasche mit den Badesachen und klemmte sie auf den Gepäckträger des uralten Herrenrades, das in der Tat noch mindestens zehn Jahre älter war als Lenis Hollandrad mit der Drei-Gang-Schaltung. »Und los!«

Ronja schwang das Fahrrad herum und ihr langes rechtes Bein über den Sattel. Mehr sah Leni nicht, weil sie bereits selbst im Sattel saß und losrollte. Sie wusste: Wenn sie den Vorsprung nicht nutzte und ihre Freundin vorbeiließe, würde sie sie nie wieder einholen, und wenn sie nachher auf der Rückfahrt nach München in Birgits Wagen hinten sitzen müsste, würde sie sich übergeben. Garantiert! Das passierte ihr immer, zuletzt an dem Abend, als Tessas Mutter sie von Tessas Geburtstagsfeier nach Hause gefahren hatte. Es war die einzige Party einer Schulkameradin gewesen, zu der sie im vergangenen Jahr eingeladen worden war. Der Nachmittag war ein Fiasko gewesen und ihre Kotzerei der krönende Höhepunkt der demütigenden Peinlichkeiten.

Leni schoss aus der Ausfahrt in die ruhige Nebenstraße, schaltete in den zweiten Gang und strampelte los, dass das Tretlager bedenklich knackte. Die Nebenstraße mündete in die sogenannte Hauptstraße des kleinen Ortes im Chiemgau, doch Leni warf nur einen flüchtigen Blick nach links und verzichtete auf ein Handzeichen, bevor sie nach rechts abbog. Hier war nie viel los, und nachdem die wenigen Urlauber die Ferienwohnungen geräumt hatten und die meisten Dorfbewohner gerade arbeiteten, rechnete sie höchstens mit einem Traktor, und dessen Knattern hätte sie gehört.

Leni schaltete in den dritten Gang und bemühte sich, noch fester in die Pedale zu treten. Hinter sich hörte sie die Kette von Ronjas Rad rasseln und knirschen. Ronja hatte sie zwar geölt, doch dadurch eigentlich nur den Rost etwas besser verteilt. Die Straße führte jetzt aus dem Ort hinaus und verwandelte sich in eine ruhige Landstraße. Lenis Oberschenkel begannen zu brennen, vor Schweiß klebte ihr das T-Shirt am Rücken fest. Doch Kneifen galt nicht. Die Abzweigung zum Wald war vielleicht noch achthundert Meter entfernt.

Leni bückte sich noch tiefer über den geschwungenen Lenker, umklammerte die Griffe noch fester und strampelte weiter. Doch ihre Beine wurden müde, und das Gerassel von Ronjas Kette kam stetig näher. Leni biss die Zähne aufeinander, konnte jedoch nicht verhindern, dass Ronja sich langsam neben sie schob. Als ihre Lenker fast gleichauf waren, schoss von hinten ein Wagen heran und überholte sie laut hupend, während der Beifahrer sein Fenster hinunterkurbelte und »Nebeneinander fahren verboten!« schrie.

»Wichser!«, revanchierte Ronja sich lautstark, und Leni musste grinsen, obwohl sie zu Hause in Grünwald vor Scham und Schreck vom Fahrrad geplumpst wäre.

»Wichser!«, rief sie ebenfalls, allerdings nur so laut, dass Ronja es hören konnte.

Die warf ihr einen verblüfften Blick zu und fiel prompt ein Stück zurück. Leni frohlockte und konzentrierte sich auf den Rest der Strecke. Die Abzweigung lag noch ungefähr zweihundert Meter entfernt, und Leni strampelte jetzt noch heftiger. Hundert Meter. Ihre Oberschenkel explodierten fast. Fünfzig Meter.

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Ronja wieder herankam, doch sie wusste, dass es reichen würde. Mit einem Triumphschrei bog sie in den Waldweg, rollte noch einige Meter aus und lehnte ihr Rad dann erschöpft gegen einen Baum.

»Super! Du hast tatsächlich gewonnen!« Ronja ließ ihr Rad auf den Waldboden fallen, sprang auf Leni zu und umarmte sie. Sie waren beide schweißnass, doch Leni schoss der Gedanke durch den Kopf, dass Ronja selbst verschwitzt gut roch.

Ronja trat einen Schritt zurück und musterte Leni. »Super!«, wiederholte sie. »Du bist in den letzten zwei Wochen richtig fit geworden. Du hast sogar abgenommen.«

Vor Freude schoss Leni das Blut in den Kopf. Sie hatte gehofft, dass Ronja es bemerken würde.

»Und dass du tatsächlich Wichser gesagt hast … Wow! Magdalena Festing, die schüchternste Maus des Etepetete-Gymnasiums – wir machen doch noch was aus dir! Und dein Tommi wird Augen machen, wenn er dich morgen sieht.«

»Er ist nicht mein Tommi.«

Lenis Freude kühlte sich jäh um einige Grade ab. Sie wollte nicht daran erinnert werden, dass heute der letzte Ferientag mit Ronja war. Morgen begann wieder die verhasste Schule, dann würde sie ihre Freundin wochenlang nicht sehen. Und wieso nur hatte sie ihr gesagt, dass sie für Tommi Breitsteiger schwärmte? Doch in dem Moment, als Ronja von ihrer Knutscherei mit diesem Niko erzählte, hatte sie einfach kopflos reagiert.

Leni ging zu ihrem Fahrrad zurück, während Ronja die Tasche mit den Badesachen aufhob, die von ihrem Gepäckträger gefallen war. Sie fuhren weiter, gemütlicher jetzt, sodass sie sich unterhalten konnten.

»Du musst mir aber versprechen, dass du endlich dafür sorgst, dass Tommi dich bemerkt«, spann Ronja ihren Gedanken weiter. »Gleich morgen gehst du zu ihm hin und fragst ihn, ob er nicht Lust hat, etwas mit dir zu machen.«

»Was denn?«, fragte Leni, obwohl sie lieber das Thema gewechselt hätte.

»Was du halt nachmittags so tust.«

Hausaufgaben. Klavierspielen. Einsame Spaziergänge am Isarufer.

»Vorschlag: Nimm ihn mit zur Eisdiele. Gib den Tussis aus deiner Klasse was zum Glotzen.«

Leni schüttelte nur stumm den Kopf. Die Eisdiele in Grünwald war der letzte Ort, an den sie freiwillig gehen würde, ob mit Tommi oder ohne. Unter den Blicken von Cathy und Tessa und ihrem Gefolge, deren Jeans so tief auf ihren knochigen Hüften hingen, dass ihre Spitzentangas hervorblitzten, würde sie sich keine einzige Kalorie gönnen. Außer sie käme mit einem bewaffneten Sondereinsatzkommando. Für einen Augenblick ergötzte Leni sich an der Vorstellung, dass Cathy und Tessa von den Beamten abgeführt und bei Wasser und Brot und ohne ihre heiß geliebten Schminkspiegel in Zellen gesperrt würden. Es war für sie ein ausgesprochen martialischer Gedanke.

»Ich wette, du bist Tommi sowieso schon aufgefallen«, fuhr Ronja unbeirrt fort. »Du bist viel hübscher, als du meinst. Und Jungs stehen auf blond.«

»Dein Niko offensichtlich nicht.«

»Ach was, da läuft nix Großes … Oh, verdammt, was soll denn der Scheiß?«

»Was?«

»Da vorn! Der Idiot parkt mitten auf dem Weg. Hätte der sich nicht woanders hinstellen können?«

Jetzt bemerkte Leni es auch. Etwa fünfzig Meter weiter stand ein weißer Lieferwagen auf dem Waldweg. Der Weg war ohnehin nicht breit, doch der Fahrer hatte sich eine besonders schmale Stelle ausgesucht, die rechts von einem Stapel Brennholz, links von Büschen und Bäumen begrenzt wurde. Zwischen dem Wagen und dem Holzstapel war kaum ein halber Meter Platz, zu wenig für ein Fahrrad. Auf der anderen Seite war es noch enger, weil die offene Fahrertür in die Büsche ragte.

»Na toll.« Ronja stieg vom Rad. »Und wie kommen wir da jetzt vorbei?«

»Zwischen den Bäumen durch?«

»Ich schleppe doch nicht mein Rad quer durch die Pampa, weil irgend so ein Idiot zu doof zum Parken ist. Wahrscheinlich pinkelt der Kerl nur. Hey! Jemand hier? Können Sie vielleicht Ihre Karre wegfahren?«

Die Antwort kam völlig unverhofft und so schnell, dass Leni nicht einmal Zeit fand, Angst zu verspüren. Kaum hatte Ronja ihre Frage gestellt, schwangen die Hecktüren des Lieferwagens auf und zwei Männer sprangen heraus. Sie waren schwarz gekleidet und trugen schwarze Masken. Im selben Moment hörte Leni ein Knacken hinter sich und fuhr herum. Auf dem Waldweg, den sie gerade entlanggeradelt waren, standen zwei weitere vermummte Gestalten. Sie schienen sich aus dem Nichts heraus materialisiert zu haben, und Leni erstarrte vor Schreck. Dann ließ sie ihr Rad fallen und stieß einen spitzen Schrei aus. Zeitgleich hörte sie auch Ronja neben sich schreien und spürte, wie ihre Freundin heftig an ihrer rechten Hand zerrte. »Weg, Leni! Wir müssen hier weg!« Dann rannte sie los und riss Leni mit sich.

Leni wäre vermutlich bis in alle Ewigkeit wie versteinert auf dem Waldweg stehen geblieben, hätte Ronja nicht die Initiative ergriffen. Aber jetzt gab sie dem Zug an ihrer Hand nach und rannte der Freundin hinterher.

Doch weit kamen sie nicht, die Angreifer hatten den Platz zu gut gewählt. Auf drei Seiten war der Weg versperrt, durch den Lieferwagen, durch den Holzstapel und durch die Männer, also lief Ronja auf die Büsche zu. Aber die zwei Vermummten aus dem Wagen schnitten ihnen den Weg ab. Einer stürzte sich auf Ronja, doch bevor Leni sehen konnte, was mit der Freundin geschah, wurde sie selbst von hinten gepackt. Zwei kräftige Arme umschlangen ihren Oberkörper und zogen sie zurück, während Ronjas Hand sie immer noch in die andere Richtung zerrte. Panisch versuchte Leni, ihren Angreifer abzuschütteln. Sie holte mit...