Helle und der Tote im Tivoli - Der erste Fall für Kommissarin Jespers

von: Judith Arendt

Atlantik Verlag, 2018

ISBN: 9783455002720 , 288 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Helle und der Tote im Tivoli - Der erste Fall für Kommissarin Jespers


 

Kopenhagen, Tivoli, 3.00 Uhr


Der Kaffee war noch immer schön heiß. Nicht so heiß, dass er sich die Zunge daran verbrennen, aber doch so, dass er ihn genüsslich schlürfen konnte. Claas griff nach dem Zimtwecken und wollte ihn in den Becher tunken, als er hörte, wie Stig seufzte und ungeduldig mit der Taschenlampe klapperte.

»Es wird Zeit für die Runde. Komm schon, Claas.«

»Hast du Angst, dass du die Geisterbahn verpasst?« Claas stippte den Wecken in seinen Kaffee – jetzt erst recht – und saugte an dem aufgeweichten Gebäck. Ein guter Witz. Er konnte ihn gar nicht oft genug wiederholen. Und er hatte ihn weiß Gott schon oft von sich gegeben. Die jungen Kollegen mit ihrer Ungeduld. Man durfte doch wohl noch in Ruhe seine Kaffeepause machen.

Jetzt stand Stig auf. »Du nervst, Claas. Ich kann auch ohne dich gehen.«

Dieser Stig. Wenn einer hier nervte, dann war er das. Claas war seit fast zwanzig Jahren dabei. Er wusste, wie der Hase lief. Er brauchte sich von den jungen Kollegen nicht hetzen lassen. Das brauchte er wirklich nicht. Andererseits: Wenn dieser Stig jetzt alleine losgehen würde, dann stand das später im Logbuch. Und dann würde es nicht gut aussehen für ihn.

Resigniert schüttete Claas den Kaffee wieder zurück in die Thermoskanne. Dabei stöhnte er, Stig sollte schließlich kapieren, dass er diesen Aktionismus nicht guthieß.

Der junge Kollege aber stand unbeeindruckt an der Tür, die Hand auf die Klinke gelegt. Na, na, dachte Claas, immer langsam mit den jungen Pferden! Erst einmal musste er sich aus dem Stuhl hochwuchten. Zweihundert Pfund Lebendgewicht. Es knackte in den Knien, und Claas sah aus dem Augenwinkel, dass Stig die Augen verdrehte. Nervensäge.

Ärgerlich zerrte Claas an seiner Jacke, die er über die Stuhllehne gehängt hatte. Draußen waren es zehn Grad unter null, wenn nicht noch mehr. Warum bestand dieser Jungspund so unbedingt darauf, dass sie ihre Zeiten einhielten?

Du meine Güte, dachte Claas, während er den Reißverschluss bis unters Kinn hochzog und sich die fellgefütterte Mütze auf die kahle Stirn drückte, was sollte denn hier schon passieren?

 

Seit so vielen Jahren drehte er nachts im Tivoli seine Runden. Die »ungewöhnlichen Vorkommnisse«, wie es bei ihnen hieß, konnte er an zwei Händen abzählen. Jugendliche Säufer oder Kiffer, ein Liebespaar, das es sich ausgerechnet im »Nautilus« bequem gemacht hatte, hier und da ein Fuchs, ein paar gebrauchte Spritzen, die die Bahnhofsjunkies über den Zaun warfen – mehr war nicht los gewesen. Da hatte er in seiner Zeit als Streifenbulle in einer Nacht mehr Scheiße gesehen. Sprengstoffalarm, das war noch das Größte, was er als Security-Mann im Tivoli erlebt hatte. Oktober 2001 natürlich, als alle hysterisch durchdrehten wegen der Terroristen. Da hatten er und sein Kollege – den Namen hatte Claas längst vergessen – den Rucksack gefunden. Mitten in der Fressbudenstraße hatte er gelegen. Sie hatten lange darum gestritten, was sie tun sollten. Der Kollege hatte sich schließlich durchgesetzt und den Alarm ausgelöst. Zum Schluss war es der Rucksack eines asiatischen Touristen gewesen. Mit Kamera und Wasserflasche und ein paar T-Shirts. Keine große Sache also. Claas hatte es gleich gewusst.

 

»Gib Gas, alter Mann«, knurrte Stig, der ein paar Meter vor ihm ging und den Strahl der Taschenlampe immer nervös hin und her zucken ließ.

Gas geben, so ein Schwachsinn. Claas verlangsamte seine Schritte ein kleines bisschen. Niemand wartete auf sie. Sie drehten ihre Runden durch den dunklen Park, weil das ihr Job war. Aber gottlob guckte ihnen niemand dabei auf die Finger. Keiner stand am Ende mit der Stechuhr da, wie bei der Polizei.

In Erinnerung an seine Dienstzeit entfuhr Claas ein Seufzer. Sein Herz hatte das nicht mehr mitgemacht, diesen Stress. Die Schmerzen im Arm, das Stechen im Brustkorb. Gitta hatte ihn irgendwann dazu gedrängt, Schluss zu machen. Die Ärzte hatten ihn tatsächlich arbeitsunfähig geschrieben. Und dem Grinsen seines Vorgesetzten nach zu urteilen, als der ihn aus dem Dienst verabschiedet hatte, war das nicht ganz von ungefähr gewesen. Die waren froh, dass sie ihn los waren. Das behielt er natürlich schön für sich. Kam immer besser, wenn er von seiner großen Zeit bei der Polizei erzählte.

 

»Hörst du was?«

Der Lichtkegel fuhr die Stände ab, die Holzbuden, aus denen heraus in ein paar Stunden Popcorn und Pölser und Zuckerwatte verkauft wurden. Der Schein der starken Lampe flitzte über das Kettenkarussell zur Rechten. Aber nichts rührte sich, die buntbemalten Stahlrohrsitze hingen bewegungslos an langen Ketten, warteten auf Kinder, die sich schon bald kreischend um die besten Plätze balgen würden.

Klar hörte Claas was. Er hörte sogar sehr viel. Außerhalb des Parks verlief die Vesterbrogade, eine große und viel befahrene Straße, die Kopenhagens Herz durchschnitt. Er hörte den Bahnhof, die Güterzüge, die selbst um diese Zeit, mitten in der Nacht, rangiert wurden. Und er bildete sich ein, die Ratten zu hören, die unter den Fahrgeschäften nach Fressbarem suchten – und fündig wurden. Selbst nachdem die großen Reinigungsmaschinen einmal durch den Park gefahren waren, gab es noch genügend Müll in den Ecken, um ganze Rattenkolonien zu ernähren.

Jetzt tauchte vor ihnen in der Dunkelheit die stilisierte Bergkulisse der »Rutschebanen« auf. Stig beschleunigte seine Schritte und hielt auf das große Fahrgeschäft zu.

»Hier ist was an, Claas! Verdammt, bist du taub?«

Claas meinte zu hören, wie Stig noch leise »Alter Sack« hinzufügte, und konterte im Stillen mit »Wichtigtuer«. Aber er schloss zu seinem Kollegen, der um einiges größer und vor allem durchtrainiert war, auf. Denn jetzt hörte er es auch. Stig hatte recht. Ein unheimliches Quietschen und Rattern drang an seine Ohren. Das war nicht normal, das war ganz und gar nicht normal. Es klang eindeutig danach, als sei eines der Fahrgeschäfte in Betrieb.

Stig vor ihm verfiel in leichten Trab, und Claas spürte ein vibrierendes Gefühl von Panik. Dass der Kollege ihm bloß nicht davonlief! Automatisch fasste er an den Gürtel, an dem der Schlagstock aus Hartgummi hing. Plötzlich nahm er eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr, links von ihnen, dort, wo der Eingang zu »Minen« war, der Bergwerksbahn für die Jüngeren. Ein Schatten? Da war eine Bewegung gewesen, ganz bestimmt. Claas’ Herz schaltete von Trab in den Galopp, das war nicht gut, das war gar nicht gut. Er hätte keinen Kaffee trinken sollen, aber wer konnte denn schon ahnen, dass er in so eine Scheiße geriet?! Claas wollte Stig zurufen, dass er anhalten solle, aber er bekam nur ein heiseres Krächzen heraus.

Abrupt drehte Stig sich um und richtete den Strahl seiner Stablampe auf Claas. »Hör mal, alter Mann, sollen wir besser gleich die Bullen rufen? Du bist doch schon länger dabei.«

Zum ersten Mal zollte der Arsch ihm Respekt. Ausgerechnet jetzt. Zur falschen Zeit. Claas räusperte sich und bemühte sich, völlig unbeeindruckt auszusehen. »Nein. Lass mal. Vielleicht nur was Technisches. Lass uns erst feststellen, was wirklich los ist. Oder wollen wir vor den Bullen dastehen wie Memmen?«

Stig nickte. »Hast recht.« Er drehte sich wieder um und wollte weiterhasten, aber Claas hielt ihn auf. »Hey, check mal da hinten, beim Bergwerk. Ich glaube, da war was.«

Stig zog misstrauisch die Brauen zusammen, richtete die Lampe aber gehorsam nach links.

Claas verfluchte insgeheim seine verdammte Schlamperei. Seine Lampe lag noch im Büro. Neben der Thermoskanne. Er hatte sie nicht mitschleppen wollen. Sie brauchten nie eine zweite Lampe. Nie!

Stig änderte die Richtung und lief auf das Bergwerk zu. Das Licht streifte die Zwerge, die mit Hacken und Schubkarren unbeweglich zwischen den Gleisen standen und diabolisch grinsten. Claas schauderte. Er erinnerte sich an die ersten Nächte, die er im Tivoli Dienst getan hatte. Wie unheimlich ihm die große Anlage gewesen war. Die stummen Silhouetten der großen Fahrgeschäfte, die gegen den Kopenhagener Nachthimmel leuchteten. Der Geruch nach Bratfett, Zuckermelasse und Kotze, der in den Budenstraßen hing. Das leise metallische Klimpern der Absperrketten. Kaum wahrnehmbares Quietschen, Raunen und Klappern der Gondeln im Wind. Das Gefühl der Einsamkeit, das ihn angesichts des menschenleeren Vergnügungsparks befallen hatte. Das Leben, das draußen tobte, während sich hier drinnen nur zwei Menschen bewegten, die Security-Männer von Danskeguard.

Aber Herrmann, der alte Kollege, der ihn einarbeitete – damals war Claas der Jungspund gewesen –, hatte nur gelacht und weiter Witze gerissen. Und nach einigen Wochen war das Unwohlsein gewichen. Es war nie mehr aufgetaucht – bis jetzt.

Stig hatte »Minen« jetzt erreicht und leuchtete alle Ecken aus. Er schüttelte den Kopf. »Nee. Da ist nichts. Was hast du gesehen?«

Claas griff sich an die Brust und massierte das Fett an der Stelle, an der er sein tobendes Herz wähnte. »Da hat sich was bewegt. Sah aus, als würde sich jemand verstecken.«

Stig runzelte skeptisch die Stirn und ließ die Taschenlampe einmal um das Bergwerk wandern. Claas betete, dass der Kollege nicht vorschlagen würde, da hineinzugehen. Tagsüber war das eine Bahn für kleine Kinder, aber jetzt, im Dunklen … Er starrte auf den dicken Vorhang aus blindem Gummi, hinter dem sich ein finsterer Schlund auftat.

»Scheiße, Mann, ich hör’s noch immer.« Stig leckte sich nervös über die Lippen.

Sie blieben stumm und hielten die Luft an. Das Rumpeln war lauter geworden, es...