Alle, außer mir

von: Francesca Melandri

Verlag Klaus Wagenbach, 2018

ISBN: 9783803142382 , 608 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Alle, außer mir


 

1


2010

Über dem höchsten der heiligen Hügel Roms, dem Esquilin, liegt der Duft von Kebab, Kimchi und Masala dosa. Die Häuser hier haben hohe Decken, doch nicht immer einen Fahrstuhl. Dieses zum Beispiel hat keinen. Ilaria ist es gewohnt, die sechs Stockwerke zu Fuß hinaufzusteigen, die erzwungene Bewegung ist ihr eher eine Wohltat als eine Last. Heute aber versetzt sie den Stufen Tritte, jeder Schritt ein Fluch. Eine dichte Curryduftwolke weht durch das Hoffenster ins Treppenhaus. Sie legt sich über die Stufen und erfasst Ilaria mit voller Wucht, kann sie aber von ihrem Zorn nicht ablenken. Lässt sie nur leicht die Nase rümpfen.

Der Atem des Meeres, dem Rom trotz der eigentlich unmittelbaren Nähe gerne den Rücken kehrt, überwindet am späten Nachmittag oft die Spekulationsobjekte der Peripherie, zieht über die Viertel des Zentrums am Fluss bis direkt in Ilarias Fenster im obersten Stockwerk. In solchen Momenten weht eine Art Sehnsucht durch ihr kleines Apartment: nach Weite, nach Horizont, nach Ozeanrouten – solche Dinge halt. Viele Jahre lang wusste sie nicht, dass dies an dem Jod in der Meeresbrise lag. Einer Brise nur aus Ostia, mag sein, aber immerhin einer Meeresbrise. Doch oft genug gelingt es selbst dem Tyrrhenischen Meer nicht, die penetranten Gerüche aus den Esquilinküchen zu zerstreuen. Mehrere Male am Tag, zu jeder Uhrzeit, ziehen sie durch den bevölkerten Hof, der den gesamten Block aus mehr als einem Dutzend Wohnhäusern verbindet. Vor Jahren, als Ilaria einmal mit einem Darmvirus fiebernd im Bett lag, wurde ihr von jedem Essensgeruch schlecht. Um den Brechreiz zu lindern, musste sie die Fensterritzen mit Klebeband abdichten. Im Übrigen hat jeder seine eigene Sinnesverschmutzung. In San Lorenzo und Trastevere können Anwohner nachts nicht schlafen wegen des Lärms aus den Pubs, da hat sie es noch vergleichsweise gut. Sie wohnt lange genug hier, um zu wissen, dass sie sich vor den Dünsten nicht schützen kann. Sie kann lediglich jedem unangenehmen Geruch den Namen eines Parfüms geben: Da, ein Hauch von Eau de Maghreb, oh, riech mal, eine kleine Wolke Obsession d’Inde, ah, welch ein Bouquet – gekochter Kohl und roher Knoblauch –, das muss das seltene Korea Extrême sein.

Nur das gedämpfte Licht der letzten Augusttage fällt ins Treppenhaus, trotz wiederholter Aufforderung tauscht der Verwalter seit Wochen die Flurlampen nicht aus. Doch auch das Halbdunkel über den Stufen vermag Ilarias Zorn nicht zu mildern.

Vor ein paar Stunden, als sie nach Einkäufen für das neue Schuljahr zu ihrem Parkplatz zurückkam, war ihr Auto abgeschleppt. Dabei hatte sie weder im Halteverbot noch auf einem Behindertenparkplatz oder in zweiter Reihe gestanden. Doch auf diesem Stück Uferstraße entlang des Tibers wird morgen der Autokorso von Oberst Muammar al-Gaddafi auf Staatsbesuch passieren. Und jedes Kind weiß, dass Diktatorenlimousinen nicht an den geparkten Wagen von Normalsterblichen vorbeifahren dürfen, nicht einmal auf einer zehn Meter breiten Fahrbahn. Also hat der Bürgermeister von Rom das Ordnungsamt angewiesen, alle Autos vom Lungotevere entfernen zu lassen, eine der letzten Parkmöglichkeiten im historischen Zentrum. Als Ilaria von ihren Erledigungen zurückkam, klaffte an der Stelle ihres alten Pandas eine Lücke, abgesperrt mit rot-weißem Flatterband.

Zuerst war sie verunsichert. Hatte sie ihr Auto vielleicht woanders geparkt? Das passiert ihr häufiger in letzter Zeit. Sie hat schon ganze Viertelstunden nach dem Panda gesucht, weil ihr Mittvierzigerin-Gedächtnis den letzten Parkplatz nicht gespeichert hat. Frustrierende, verlorene Zeit, die ihr die Laune verdüstert, als würde sich ein Eimer schwarzer Farbe in ihr Hirn ergießen. Eine Welle der Angst erfasst sie vor dem Versagen nicht nur ihrer Hirnsynapsen, sondern auch der anderen Körperfunktionen. Verrinnende Zeit, Sterblichkeit, solche Themen beschäftigen Ilaria, während sie verwirrt und nervös die Bürgersteige abläuft. Hat sie ihr Auto jedoch gefunden, sind die Sorgen wie weggeblasen. Ersetzt oder vielleicht nur überlagert von dem unaufhörlichen Gedankenstrom des Alltags. Es ist ungesund, der Urangst mehr Raum zu lassen als nötig, und Ilaria ist nicht krankhaft veranlagt.

An diesem Nachmittag jedoch merkt sie, dass sie nicht als Einzige mit leerem Blick auf die geräumte Straße starrt. Auch andere Menschen irren in der beunruhigenden Schönheit des autofreien Tiberufers auf und ab. Sie wirken verunsichert, wie unter Schock, die einzigen Überlebenden einer Apokalypse, welche die Menschheit ausgelöscht hat – oder zumindest ihre Fortbewegungsmittel. Nach denen sie nun vergeblich suchen, so wie sie.

Ein junger Mann Mitte zwanzig – dem Äußeren nach ein Student mit übertretener Regelstudienzeit, guter Lektüre und reichen Eltern im Rücken, die ihm keinen Stress machen – wusste bereits, was da passiert sein musste. Er ging auf Ilaria zu und wies auf einen handgeschriebenen DIN-A4-Zettel, der halbverborgen unter dem Laub einer Platane hing und besagte: ›Absolutes Halteverbot vom 28. 8. 2010, 18 Uhr, bis 29. 8. 2010, 12 Uhr – Widerrechtlich abgestellte Fahrzeuge werden kostenpflichtig abgeschleppt‹.

Ilaria sah ihn nachdenklich an. »Den habe ich beim Parken gar nicht gesehen.«

»Ich auch nicht«, erwiderte der junge Mann. »Den haben die doch absichtlich so versteckt. Die ganzen Knöllchen spülen Geld in die Kassen.«

»Schweinerei!«

»Ja. Absolut.«

Ilaria fuhr also mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause.

Und morgen muss sie nicht nur ein horrendes Bußgeld zahlen, sondern auch ihren kleinen Panda abholen. Im Treppenhaus kann sie an nichts anderes denken als an die Odyssee, die ihr bevorsteht. Denn irgendein sadistischer Stadtplaner hat das Gelände des kommunalen Abschleppdienstes in den hintersten Winkel der Peripherie gelegt. Die Taxifahrt dorthin kostet ein Vermögen. Mit dem Bus ist man einen halben Tag unterwegs. Die einzige vernünftige Art, es zu erreichen, ist das Auto, aber das ist ja leider sichergestellt. Es gäbe noch eine vierte Option für Ilaria, nämlich sich hinfahren zu lassen. Von Piero zum Beispiel, der seit bald dreißig Jahren darauf wartet, sie an seinen Privilegien teilhaben zu lassen, wie beispielsweise an dem blauen Dienstwagen des Staatssekretärs. Auch Lavinia müsste sie nicht lange bitten, sie morgen früh abzuholen. Und es ist ja nicht so, dass Ilaria die Idee, sich Hilfe zu holen, verworfen hätte – sie kommt ihr einfach nicht in den Sinn.

Heute beneidet sie ihre Mutter. Obwohl Marella seit über einem halben Jahrhundert in Rom lebt, hat sie niemals aufgehört, Mailand als »meine Stadt« zu bezeichnen. Sie versucht gar nicht erst, ihre Verachtung gegenüber der italienischen Kapitale zu verhehlen, distanziert und kalt wie ein driftender Eisberg. Manchmal würde auch Ilaria gerne so empfinden, doch sie kann es nicht: Sie ist in Rom geboren. In Momenten wie diesem hasst sie die Ewige Stadt. Doch gleichzeitig weiß sie, dass dies das Gefühl einer betrogenen Liebhaberin ist, oder schlimmer noch einer Sklavin.

Deshalb stampft sie jetzt mit gesenktem Kopf und zornerfüllt die Treppen hinauf wie ein Stier durch die Arena. Sie kommt im ersten Stock am Schlafsaal der Bangladescher vorbei. Im zweiten an dem illegalen Bed & Breakfast. Im dritten am rot-goldenen Glückwunschband der Chinesen-Familie, ihren engsten Verbündeten im Kampf für den Einbau eines Aufzugs. Im vierten Stock empfängt sie eine körnige Stimme.

»Ciao, Ilà.«

Durch den offenen Spalt der Wohnungstür erahnt sie ein verschwommenes, wie aus Bimsstein geformtes Profil. Ilaria ist sich sicher, dass ihre alte Nachbarin jeden Schritt auf diesen Stufen allein am Klang erkennt.

»Ciao, Lina«, erwidert sie freundlich, ohne ihren Lauf zu bremsen. Zielstrebig hält sie an der angelehnten Tür vorbei auf die fünfte, vorletzte Treppe zu. Doch Lina ist noch nicht fertig.

»Da oben wartet ein schwarzer Mann auf dich.«

Ilaria hält auf dem Treppenabsatz inne und dreht sich um.

»Was hast du gesagt?«

»Ein Afrikaner. Komplett schwarz. Er sagt, er sucht deinen Bruder. Ich wusste nicht, ob ich ihm sagen darf, in welchem Stock ihr wohnt, aber jetzt ist er eh schon oben.«

»Aha. Vielleicht ein Freund von Attilio. Danke, Lina.«

»Oh, Ilà, sollte er Ärger machen, dann schrei einfach. Ich habe meinen Enkel zum Abendessen hier, der kann dir helfen.«

»Keine Sorge. Guten Appetit, dir und deinem Enkel …«

Ilaria geht weiter, nun aber langsamer und den Kopf nicht länger gesenkt. Als sie die letzte Treppe erreicht, sieht sie oben auf der vorletzten Stufe den Besucher sitzen. Noch bevor sie bei ihm ist, beginnt er zu reden.

»Entschuldigung. Hallo. Wohnt hier Attilio Profeti?«

Im Halbschatten fällt Ilaria als Erstes seine Hautfarbe auf, die von der gleichen Tönung wie die alten Holztüren zu beiden Seiten des Treppenabsatzes ist. Er hat violette Lippen. Lange Beine, so dünn wie Strohhalme. Das Trikot eines berühmten Erstligaspielers.

Er sieht aus wie fünfundzwanzig, vielleicht auch jünger.

»Wer bist du?«, fragt sie.

»Ich suche Attilio Profeti.«

Ilaria zeigt auf die Wohnung des Bruders, ihrer gegenüber.

»Er wohnt dort.«

»Lebt er noch?«

»Natürlich lebt er noch!«

»Dann hat er einen Raben gegessen!«

Ilaria runzelt die Stirn.

Er...