Wo wir uns finden - Roman

von: Nicholas Sparks

Heyne, 2018

ISBN: 9783641228057 , 400 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Wo wir uns finden - Roman


 

Tru

Am Morgen des 9. September 1990 trat Tru Walls vor die Tür und betrachtete forschend den Morgenhimmel, der in der Nähe des Horizonts die Farbe von Feuer hatte. Die Erde unter seinen Füßen war rissig und die Luft trocken, es hatte seit über zwei Monaten nicht geregnet. Staub hüllte seine Stiefel ein, als er zu dem Pick-up lief, den er schon über zwanzig Jahre lang besaß. Wie seine Schuhe war auch der Wagen eingestaubt, von außen und innen. Hinter einem Elektrozaun zerrte ein Elefant Zweige von einem am frühen Morgen umgestürzten Baum. Tru beachtete ihn nicht. Er gehörte zur Landschaft seines Geburtsortes – seine Vorfahren waren vor über einhundert Jahren aus England eingewandert – und war für ihn dementsprechend nicht aufregender als ein Hai, den ein Fischer beim Einholen des täglichen Fangs entdeckte.

Tru war schlank und hatte dunkle Haare und Falten in den Augenwinkeln, die einem in der Sonne verbrachten Leben geschuldet waren. Mit seinen zweiundvierzig Jahren fragte er sich manchmal, ob er sich den Busch zum Leben ausgesucht hatte oder der Busch ihn.

Es war still im Camp, die anderen Guides – einschließlich seines besten Freundes Romy – waren früh am Morgen zur Haupt-Lodge aufgebrochen, von wo aus sie Gäste aus aller Welt in den Busch führten. Seit zehn Jahren arbeitete Tru im Hwange-Nationalpark. Davor hatte er eher ein Nomadenleben geführt und etwa alle zwei Jahre den Arbeitsplatz gewechselt, um Erfahrungen zu sammeln. Nur die Lodges, in denen Jagd gestattet war, hatte er aus Prinzip gemieden, was sein Großvater nicht verstanden hätte. Denn sein Großvater, den alle nur den »Colonel« nannten, obwohl er nie beim Militär gewesen war, behauptete von sich, in seinem Leben über dreihundert Löwen und Geparden getötet zu haben, um das Vieh der riesigen Farm in der Nähe von Harare zu schützen, auf der Tru aufgewachsen war. Und sein Stiefvater und seine Halbbrüder näherten sich stetig der gleichen Anzahl. Neben der Rinderzucht betrieb seine Familie auch Ackerbau und erntete mehr Tabak und Tomaten als jede andere Farm im Land. Kaffee ebenfalls. Sein Urgroßvater hatte einst beim legendären Cecil Rhodes – dem Bergbau-Magnaten, Politiker und Symbol des britischen Imperialismus – gearbeitet und Ende des neunzehnten Jahrhunderts Land, Geld und Macht angehäuft, die er seinem Sohn vererbte.

Als der das Unternehmen von seinem Vater bekam, florierte es bereits, nach dem Zweiten Weltkrieg aber wuchs es exponentiell und machte die Walls zu einer der wohlhabendsten Familien des Landes. Trus Wunsch, dem Geschäftsimperium und dem Leben im Luxus zu entfliehen, hatte der Colonel nie nachvollziehen können. Vor seinem Tod, als Tru sechsundzwanzig war, besuchte er einmal ein Naturschutzgebiet, in dem Tru gerade arbeitete. Obwohl er nicht im Camp schlief, sondern in der Haupt-Lodge, war es für den alten Mann ein Schock, Trus Unterkunft zu sehen. Für ihn wirkte sie vermutlich nur wenig besser als ein Schuppen, ohne Isolierung oder Telefon. Eine Petroleumlampe sorgte für die Beleuchtung, und ein kleiner Gemeinschaftsgenerator betrieb einen Minikühlschrank. Kein Vergleich zu dem Haus, in dem Tru aufgewachsen war, aber mehr als diese karge Umgebung brauchte Tru nicht, besonders nicht, wenn abends ein Sternenmeer über ihm erschien. Gegenüber seinen vorherigen Arbeitsplätzen war es sogar schon ein Fortschritt, denn in zweien davon hatte er in einem Zelt geschlafen. Dort gab es wenigstens fließendes Wasser und eine Dusche, wenn auch in einem Gemeinschaftsbad, was er selbst fast als Luxus betrachtet hatte.

An diesem Morgen hatte Tru seine Gitarre in dem verbeulten Kasten dabei, eine Thermoskanne und eine Plastikdose, ein paar Zeichnungen, die er für seinen Sohn Andrew angefertigt hatte, und einen Rucksack mit Wäsche zum Wechseln für ein paar Tage, Kulturbeutel, Zeichenblöcken, Bunt- und Kohlestiften und seinen Pass. Obwohl er eine Woche lang verreiste, ging er davon aus, dass er nicht mehr benötigen würde.

Sein Wagen stand unter einem Affenbrotbaum. Einige seiner Kollegen mochten die trockene, breiige Frucht und mischten sie sich morgens unter ihr Porridge, aber Tru hatte sich nie dafür erwärmen können. Jetzt warf er seinen Rucksack auf den Beifahrersitz und sah schnell hinten auf der Ladefläche nach, ob dort auch nichts lag, was gestohlen werden konnte. Zwar würde er den Pick-up auf der Farm seiner Familie parken, aber dort gab es über dreihundert Feldarbeiter, die alle sehr wenig verdienten. Gutes Werkzeug löste sich gern mal in Luft auf, selbst unter den wachsamen Augen seiner Verwandtschaft.

Er klemmte sich hinters Steuer und setzte die Sonnenbrille auf. Bevor er den Schlüssel herumdrehte, vergewisserte er sich noch einmal, dass er nichts vergessen hatte. Viel gab es ja nicht, abgesehen von Rucksack und Gitarre hatte er den Brief und das Foto aus Amerika bei sich, dazu die Flugtickets und seine Brieftasche. In dem Gestell hinter ihm stand ein geladenes Gewehr, falls er eine Autopanne hatte und in der Dunkelheit durch den Busch laufen musste – immer noch einer der gefährlichsten Orte auf der Welt, vor allem nachts und selbst für jemanden, der so erfahren war wie er. Er tastete nach dem Zelt unter dem Sitz, ebenfalls für den Notfall. Es war kompakt genug, um auf die Ladefläche seines Pick-ups zu passen. Das half zwar gegen Raubtiere nicht besonders viel, war aber immer noch besser, als auf dem Boden zu schlafen. Also gut, dachte er. Es konnte losgehen.

Es wurde bereits warm, und im Wagen war es schon heiß. Er würde die natürliche Klimaanlage nutzen: maximalen Durchzug bei heruntergekurbelten Fenstern. Viel brachte das nicht, doch Tru war an die Hitze gewöhnt. Er krempelte sich die Ärmel seines hellbraunen Hemdes hoch. Dazu trug er seine übliche Trekkinghose, die im Laufe der Jahre weich und bequem geworden war. Die Gäste am Pool der Lodge hatten wahrscheinlich Badesachen und Flipflops an, aber in dieser Aufmachung hatte er sich noch nie wohlgefühlt. Außerdem hatten ihm die Stiefel und die lange Hose einmal, als er einer wütenden Schwarzen Mamba begegnet war, das Leben gerettet. Ohne die richtige Kleidung hätte das Gift ihn in weniger als dreißig Minuten umgebracht.

Er sah auf die Uhr. Kurz nach sieben, und er hatte zwei lange Tage vor sich. Er ließ den Motor an, setzte zurück und fuhr los. Am Tor sprang er aus dem Wagen, zog es auf, ließ den Pick-up durchrollen und schloss es wieder. Das Letzte, was seine Kollegen brauchten, war, bei ihrer Rückkehr ein Löwenrudel vorzufinden, das es sich im Camp gemütlich gemacht hatte. So etwas war schon vorgekommen, wenn auch nicht in diesem, sondern in einem anderen Camp, in dem er gearbeitet hatte, im Südosten. Das war ein chaotischer Tag gewesen. Niemand hatte so recht gewusst, was tun, außer abzuwarten, bis die Löwen sich entschieden hatten, was sie ihrerseits zu tun gedachten. Zum Glück waren die Tiere später am Nachmittag auf die Jagd gegangen, aber seitdem überprüfte Tru immer das Tor, auch wenn er nicht selbst fuhr. Einige der Guides waren noch neu, und er wollte kein Risiko eingehen.

Schließlich legte er den Gang wieder ein und lehnte sich zurück, um die Fahrt so angenehm wie möglich zu gestalten. Die ersten einhundertfünfzig Kilometer führten über unbefestigte Straßen voller Schlaglöcher, erst im Naturschutzgebiet, dann an einer Reihe kleiner Dörfer vorbei. Dieser Teil dauerte bis zum frühen Nachmittag, und da er die Strecke gut kannte, ließ er seinen Gedanken freien Lauf, während er die Welt betrachtete, die er seine Heimat nannte.

Die Sonne glitzerte durch Federwölkchen über den Baumwipfeln auf eine Gabelracke, die sich gerade links von Tru aus den Ästen erhob. Vor ihm kreuzten zwei Warzenschweine die Straße und trotteten an einer Pavianfamilie vorbei. Er hatte diese Tiere schon Tausende Male gesehen, und wieder staunte er, wie sie, umringt von so vielen Raubtieren, überleben konnten. Tiere, die sich weit unten in der Nahrungskette befanden, bekamen mehr Nachwuchs. Weibliche Zebras zum Beispiel waren bis auf neun oder zehn Tage pro Jahr trächtig. Löwinnen dagegen, so die Schätzung, mussten sich für jedes Junge, das sein erstes Lebensjahr vollendete, über eintausendmal paaren. Es war evolutionäres Gleichgewicht in Reinkultur, und obwohl Tru das jeden Tag erlebte, empfand er es immer noch als außergewöhnlich.

Gäste fragten ihn oft nach seinen aufregendsten Erlebnissen bei Safaris. Dann erzählte er, wie es war, von einem Spitzmaulnashorn attackiert zu werden, oder dass er einmal Zeuge gewesen war, wie eine Giraffe sich wild aufgebäumt hatte, bis sie schließlich explosionsartig und mit überraschender Geschwindigkeit ihr Junges zur Welt brachte. Er hatte einen jungen Jaguar ein Warzenschwein, das beinahe doppelt so groß wie er selbst war, hoch auf einen Baum schleppen sehen, nur Zentimeter vor einem Rudel knurrender Hyänen, die seine Beute gerochen hatten. Einmal war er einem von seinem Rudel ausgestoßenen Wildhund gefolgt, der sich einer Schakalgruppe angeschlossen hatte – derselben Schakalgruppe, die er früher gejagt hatte. Die Geschichten nahmen kein Ende.

War es möglich, überlegte er, eine Tour zweimal auf die gleiche Art zu erleben? Die Antwort lautete Ja und Nein. Man konnte in derselben Lodge wohnen, mit denselben Guides arbeiten, zur selben Zeit aufbrechen und dieselben Straßen bei genau demselben Wetter in derselben Jahreszeit abfahren, und trotzdem waren die Tiere immer an anderen Stellen und verhielten sich anders. Sie wanderten zu Wasserlöchern oder davon fort, horchten und beobachteten, fraßen und schliefen und paarten sich, waren alle schlicht und einfach damit beschäftigt, einen weiteren Tag zu überleben.

Etwas seitlich entdeckte er eine...