Die Tochter des Uhrmachers - Roman

von: Kate Morton

Diana Verlag, 2018

ISBN: 9783641208356 , 608 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Die Tochter des Uhrmachers - Roman


 

KAPITEL 2

Elodie fuhr mit dem 24-er Bus von Charing Cross nach Hampstead. Mit der U-Bahn wäre es schneller gegangen, aber die benutzte sie nicht gern. Zu viel Gedränge, zu stickig. In engen Räumen hielt Elodie es nur schwer aus. Das war schon seit ihrer Kindheit so, und sie war daran gewöhnt, aber in diesem Fall bedauerte sie es, denn die Untergrundbahn an sich faszinierte sie, diese beispielhafte Ingenieursleistung des neunzehnten Jahrhunderts mit all den historischen Hinweisschildern und viktorianischen Fliesen, dieser alte Staub und der Geruch.

Der Verkehr war zähflüssig, vor allem in der Nähe der Tottenham Court Road, wo die Ausschachtungen für die Crossrail-Trasse die Rückseiten einiger viktorianischer Backsteinhäuser freigelegt hatte. Elodie konnte sich gar nicht sattsehen an diesem Einblick in die Vergangenheit, der so real war, dass man ihn berühren konnte. Sie malte sich das Leben der Menschen aus, die einmal in diesen Häusern gewohnt hatten, damals, als der südliche Teil von St. Giles ein überfülltes Armenviertel war, mit von Abwassergräben gesäumten engen Gassen und Sickergruben, Schnapsläden und Glücksspielern, Prostituierten und Straßenkindern, als Charles Dickens seine täglichen Spaziergänge machte und Astrologen und Alchemisten in den Seven Dials von Covent Garden ihr Gewerbe ausübten.

James Stratton jr., wie viele seiner viktorianischen Zeitgenossen der Esoterik zugetan, berichtete in seinem Tagebuch von zahlreichen Besuchen bei einer bestimmten Spiritualistin und Seherin in Covent Garden, mit der ihn eine langjährige Liebschaft verbunden hatte. Für einen Bankier hatte James Stratton ein erstaunliches Schreibtalent besessen, und seine Tagebücher boten sehr lebhafte, teils amüsante Einblicke in das Leben im viktorianischen London. Er war ein sanfter Mann gewesen, ein guter Mensch, der sich darum bemüht hatte, das Leben der Armen und Mittellosen zu verbessern. Er war davon überzeugt, dass »ein anständiger Schlafplatz das Leben und die Zukunftsaussichten der Menschen deutlich verbessern würde«, wie er in Briefen an seine Freunde schrieb, die er von seinen philanthropischen Ideen zu überzeugen suchte.

In seinem Berufsleben hatte er großen Respekt genossen, ja, er war bei seinen Zeitgenossen sehr beliebt gewesen, ein gern gesehener Gast auf Empfängen, ein weit gereister, wohlhabender Mann der Viktorianischen Zeit, in jeder Hinsicht erfolgreich, nur sein Privatleben war von Einsamkeit gezeichnet. Nachdem er sich immer wieder unglücklich verliebt hatte – in eine Schauspielerin, die mit einem italienischen Erfinder durchgebrannt war, in eine Frau, die für Künstler Modell gestanden hatte und von einem anderen schwanger geworden war, und, er war bereits in seinen Vierzigern, in eine seiner Dienerinnen, eine stille junge Frau namens Molly, der er zahlreiche Freundschaftsdienste erwiesen hatte, ohne ihr seine Liebe je zu gestehen –, hatte er erst spät geheiratet. Es schien fast so, als hätte er sich absichtlich immer wieder Frauen gesucht, die ihn nicht glücklich machen konnten – oder wollten.

»Warum hätte er das tun sollen?«, hatte Pippa gefragt, als Elodie diesen Gedanken eines Abends bei Tapas und einem Glas Sangria laut ausgesprochen hatte.

Eine klare Antwort konnte Elodie auf diese Frage nicht geben, aber obwohl sich in James Strattons Korrespondenz keine Stelle fand, an der er offen eine unerwiderte Liebe oder eine tief sitzende Traurigkeit erwähnte, hatte sie immer das Gefühl, dass in seinen freundlichen Briefen etwas Melancholisches mitschwang, dass er ein Mann gewesen war, dem wahre Erfüllung immer versagt geblieben war.

Elodie war Pippas skeptischen Blick gewöhnt, der sich immer einstellte, wenn sie dergleichen sagte. Es war einfach unmöglich, die Vertrautheit zu beschreiben, die sich entwickelte, wenn man sich beruflich Tag für Tag mit den persönlichen Hinterlassenschaften anderer Menschen beschäftigte. Elodie hatte kein Verständnis für den modernen Drang, seine geheimsten Gefühle in der Öffentlichkeit auszubreiten; sie selbst war sehr verschwiegen und hielt sich an die französische Idee des droit à l’oubli, des Rechts, die Dinge der Vergangenheit zu vergessen und keinen Einfluss auf die Gegenwart haben zu lassen. Und gleichzeitig war es in ihrem Beruf ihre Aufgabe – mehr noch, ihre Leidenschaft –, das Leben von Menschen, die sich nicht mehr dagegen wehren konnten, zu bewahren und sogar zu reanimieren. Sie hatte James Strattons private Tagebücher gelesen, während er nicht einmal ihren Namen kannte.

»Du bist in ihn verliebt, ist doch klar«, sagte Pippa jedes Mal, wenn Elodie versuchte, sich ihr zu erklären.

Aber das war es nicht; Elodie bewunderte James Stratton und wollte sein Erbe schützen. Ihm gebührte angemessene Aufmerksamkeit über den Tod hinaus, und Elodie sah sich in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass das mit dem nötigen Respekt geschah.

Als Elodie das Wort »Respekt« in den Sinn kam, fiel ihr das Skizzenbuch ein, das sie in ihrer Tasche bei sich trug, und ihre Wangen wurden heiß.

Was hatte sie sich bloß dabei gedacht?

Eine Mischung aus Panik und köstlicher Vorfreude überkam sie. In all den zehn Jahren, seit sie im Archiv von Stratton, Cadwell & Co arbeitete, hatte sie nie so krass gegen Mr. Pendletons Anordnungen verstoßen. Seine Regeln waren kategorisch: Einen Gegenstand aus dem Archiv zu entfernen, schlimmer noch, ihn in die Tasche zu stopfen und in einen Londoner Bus des einundzwanzigsten Jahrhunderts mitzunehmen war mehr als respektlos. Es war unverzeihlich.

Als der 24-er Bus am Bahnhof Mornington Crescent vorbeifuhr und in die Camden High Street einbog, vergewisserte Elodie sich kurz, dass niemand sie beachtete, dann nahm sie das Skizzenbuch aus ihrer Tasche und schlug die Seite mit der Zeichnung von dem Haus am Flussufer auf.

Erneut überkam sie ein Gefühl absoluter Vertrautheit. Sie kannte diesen Ort. In der Geschichte, die ihre Mutter ihr als Kind erzählt hatte, hatte das Haus ein Tor zu einer anderen Welt dargestellt; für Elodie jedoch, die an ihre Mutter gekuschelt den exotischen Duft ihres Parfüms einatmete, war die Geschichte selbst das Tor gewesen, eine Zauberformel, die sie vom Hier und Jetzt in das Land der Fantasie trug. Nach dem Tod ihrer Mutter war die Welt dieser Geschichte zu ihrem geheimen Ort geworden. Ob in der Mittagspause in ihrer neuen Schule, an den langen, stillen Nachmittagen in ihrer Wohnung oder abends im Bett, wenn die Dunkelheit ihr die Luft zum Atmen raubte, brauchte sie nur die Augen zu schließen, und schon konnte sie den Fluss überqueren, durch den dunklen Wald laufen und sich in das verwunschene Haus zurückziehen …

Der Bus hielt in South End Green, und Elodie stieg aus. An einem Blumenstand kaufte sie eine Topfpflanze, dann eilte sie die Willow Road entlang in Richtung Gainsborough Gardens. Es war immer noch warm und schwül, und als sie vor dem kleinen Haus ihres Vaters stand – einem ehemaligen Gärtnerhäuschen –, fühlte sie sich, als wäre sie einen Marathon gelaufen.

»Hallo, Dad«, sagte sie, als er die Tür öffnete, und gab ihm einen Kuss. »Ich hab dir was mitgebracht.«

»Ach du je«, sagte er und beäugte die Pflanze. »Du weißt doch, was letztes Mal passiert ist …«

»Ich gebe die Hoffnung nicht auf. Die Frau, die sie mir verkauft hat, hat mir versichert, dass man sie nur zweimal im Jahr zu gießen braucht.«

»Lieber Himmel. Zweimal im Jahr?«

»Das hat sie gesagt.«

»Ein Wunder.«

Trotz der Hitze hatte er duck à l’orange gekocht, sein Lieblingsgericht, und sie aßen wie immer am Küchentisch. Sie waren nie eine Familie gewesen, die ihre Mahlzeiten im Esszimmer zu sich nahm, außer an Weihnachten oder an Geburtstagen und das eine Mal, als Elodies Mutter den amerikanischen Geiger und seine Frau, die zu einem Besuch in der Stadt waren, zu einem Abendessen eingeladen hatte.

Während des Essens unterhielt sich Elodie mit ihrem Vater über die Arbeit: die bevorstehende Ausstellung, die Elodie kuratieren sollte, den Chor ihres Vaters und den Musikunterricht, den er neuerdings in einer nahe gelegenen Grundschule gab. Seine Miene hellte sich auf, als er von einem kleinen Mädchen erzählte, dessen Geige fast so lang war wie sein Arm, und von dem kleinen Jungen, der ihn um Cellostunden angebettelt hatte. »Seine Eltern haben mit Musik nichts am Hut«, sagte er.

»Lass mich raten. Du hast Ja gesagt.«

»Ich hab’s nicht übers Herz gebracht, ihn abzuweisen.«

Elodie musste lächeln. Wenn es um Musik ging, konnte ihr Vater nie Nein sagen, und er würde nicht im Traum auf die Idee kommen, einem Kind, das seine Leidenschaft teilte, seine Unterstützung zu verweigern. Er war davon überzeugt, dass Musik das Leben der Menschen änderte – »ihre Seele, Elodie« –, und nichts konnte ihn derart begeistern wie eine Diskussion über neuronale Plastizität und MRT-Aufnahmen, an denen sich der Zusammenhang von Musik und Empathie ablesen ließ. Jedes Mal, wenn Elodie mit ihm in einem Konzert saß und miterlebte, wie die Musik ihn in Bann schlug, ging ihr das Herz über. Früher war er selbst einmal Profimusiker gewesen. »Aber nur zweite Geige«, sagte er immer, wenn das Thema aufkam, um dann voller Bewunderung hinzuzufügen: »Kein Vergleich damit, wie sie war.«

Sie. Elodies Blick wanderte zum Esszimmer am Ende des Flurs hinüber. Von ihrem Platz aus konnte sie zwar nur die Ränder einiger Bilderrahmen sehen, aber sie wusste auch so ganz genau, welches Bilder wo hing. Das war die Wand ihrer Mutter. Oder, besser gesagt, das war Lauren Adlers Wand. Beeindruckende...