Herzen aus Stein - Wächterschwingen 1

von: Inka Loreen Minden

Inka Loreen Minden, 2018

ISBN: 9783963700361 , 611 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 3,99 EUR

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Herzen aus Stein - Wächterschwingen 1


 

Kapitel 1 – Schottland


 

Wie eine riesige Fledermaus hing Vincent kopfüber an der Mauer der Abtei. Die Krallen tief in den grauen Stein getrieben und seine Schwingen an den Körper gepresst, starrte er durch das Fenster. Dort drin, in dem schmalen Bett, lag Noir. Vince erkannte ein langes, schlankes Bein, das unter der Decke hervorschaute. Stundenlang könnte er es betrachten.

Er seufzte leise. Zu seinem Glück war es stockdunkel. Niemand konnte ihn sehen; doch der Wind schob die Wolken unerbittlich weiter. Bald würde der Mond die Klosteranlage erhellen.

Noir bewegte sich, wurde unruhiger. Sie erwachte!

Sein Puls beschleunigte sich. Mit einem Satz stieß er sich von der Wand ab und segelte, die Schwingen ausgebreitet, zum Laubbaum, der sich gegenüber des Zimmerfensters befand. Er schlug seine Nägel in den Stamm, um flink wie ein Eichhörnchen in die Krone zu klettern. Dort verharrte er reglos. Er wusste, was gleich geschehen würde, worauf sein Herzschlag noch einmal an Tempo zulegte. Schon öffnete sich das Fenster und Vince stockte der Atem. Denn als Noir den Kopf herausstreckte, entstand in der Wolkendecke eine Lücke. Mondlicht ergoss sich auf ihr langes Haar und ließ es wie Silber glänzen. Ihr elfengleiches Gesicht zeigte keine Regung. Noirs Blick huschte über den Garten der Abtei, wobei ihre dunklen Augen wie Onyxe wirkten. Für Momente wie diesen lebte Vince. Leider zog sie sich viel zu schnell zurück.

Ein winziges Stück schob er den Kopf vor, um sich nicht zu verraten, und blinzelte gegen das Mondlicht, das durch die Blätter der mächtigen Eiche drang, bis er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte. Von seinem Unterschlupf aus besaß er einen hervorragenden Blick in das Zimmer des alten Klosters. Silver Abbey war im 12. Jahrhundert nahe der Hafenstadt Aberdeen errichtet worden. Der graue Granit, der aus den umliegenden Steinbrüchen stammte, war charakteristisch für die schottische Stadt mit den Bauten, die teilweise aus dem Mittelalter stammten. Wenn Sonne oder Mondlicht auf die Gebäude trafen, glitzerte der Glimmeranteil im Stein wie Noirs weißes Haar.

Sie versteckte sich schon viele Wochen in dem Kloster, das von außen alt wirkte, von innen jedoch modernisiert und den Gepflogenheiten des 21. Jahrhunderts angepasst war. Ohne Internetanschluss wollten wohl auch die Mönche von Silver Abbey nicht mehr sein. Dennoch war Noirs Zimmer karg ausgestattet, denn ein Kloster blieb ein Kloster, egal in welchem Jahrhundert. Es war ein perfekter Unterschlupf für eine Hexe; niemand würde sie in einer kirchlichen Einrichtung vermuten und kein Dämon betrat solch einen Ort freiwillig.

Die Turmuhr schlug zehn Uhr nachts. Das Licht im Raum flammte auf und Vincent kniff abermals die Lider zusammen. Er vernahm das vertraute Summen, als Noir ihr Notebook anschaltete, etwas später die Toilettenspülung, dann das Schaben von Stuhlbeinen, als sich Noir an den Tisch setzte. Vincent bewegte sich nicht; die Nacht bot ihm zusätzlichen Schutz. Er war daran gewöhnt, unentdeckt zu bleiben, denn er war Noirs heimlicher Beschützer. Fast jede Nacht ging die Hexe auf Dämonenjagd, und jedes Mal folgte ihr Vincent wie ein Schatten.

Er seufzte erneut. Warum tat sich Noir das immer noch an? Viel lieber würde er mit ihr im Mondschein einen Spaziergang machen, als ständig hinter ihr herzuhetzen. Das Fenster rahmte ihre große, schmale Gestalt ein. Vincent sah Noir von hinten am Tisch sitzen, vor ihr das Netbook, auf dessen Tastatur sie herumtippte. Wenn er stillhielt, würde sie ihn nicht bemerken, auch wenn er nur vier Meter von ihr entfernt auf einem Ast hockte.

Tagsüber versteckte Noir ihr Haar unter der Kapuze eines Habits, wie ihn die Mönche im Kloster trugen. Jetzt floss es offen, aber ein wenig wirr, über ihre Schultern. In ihrer Schlafkleidung gefiel ihm Noir am besten. Dann hatte sie nicht das weite Gewand an, das ihre wunderschöne Figur kaschierte, sondern ein Shirt. Das verdeckte nicht einmal ihr Gesäß, über das sich ein knapper Slip spannte.

Diese Kurven … Vincent schluckte. Seine Krallen bohrten sich tief ins Holz des dicken Astes, an dem er sich festhielt. Da der Stuhl eine Lehne besaß, die am Rücken offen war, lugten Noirs schmale Taille und darunter ihre strammen Pobacken hervor, die unruhig auf dem Stuhl hin und her rutschten. Wie würden sich ihre Rundungen in seinen Händen anfühlen? Wie würde Noirs Haar sein? Eher störrisch wie seines oder zart wie Samt? Wie es sich jedoch an ihren Rücken schmiegte und sich jeder ihrer Bewegungen anpasste, war es gewiss seidenweich.

Ob ihre Haut auch so glatt war? Bestimmt. Alles an Noir würde sich gut anfühlen. Was gäbe Vince dafür, sie nur ein Mal berühren zu dürfen!

Oft hatte er mit diesem Gedanken gespielt: wie er seine Schwingen ausbreitete und zu ihrem Fenster hinüberschwebte, wenn sie schlief, sich an ihr Bett schlich, ihr die Decke wegzöge und sie streichelte. Nur ein einziges Mal.

Doch Noir war eine Jägerin, eine Killerin. Wenn sie ihn bemerkte, würde sie ihn wahrscheinlich vernichten. Vincent sah auch Furcht einflößend aus, zumindest in seiner nicht-menschlichen Gestalt: seine Eckzähne verlängerten sich und er bekam spitze Ohren; winzige Hörner lugten aus seinem braunen Haar und auf seinem Rücken saßen mächtige fledermausähnliche Schwingen. Er war wirklich keine Augenweide. Noir würde sich fürchterlich erschrecken, wenn plötzlich ein zwei Meter großes Ungeheuer in zerrissenen Jeans vor ihr stünde.

Als der Ast unter seiner Folter knackte, hielt Vincent die Luft an, aber Noir schien es nicht gehört zu haben. Sie saß immer noch über ihren Laptop gebeugt am Tisch. Auch wenn er den kleinen Bildschirm nicht sah, wusste er, dass sie wie jeden Abend den Magic International, ein Online-Magazin für Magier, überflog, das sie auf dem Laufenden hielt. Noir wollte wissen, was sich in ihrer Welt tat.

Ein Eichenblatt fiel raschelnd durch die Baumkrone und landete auf seiner Schulter. Langsam zog der Herbst ins Land – bald musste sich Vince ein anderes Versteck suchen. Hätte Noir ihn jetzt entdeckt, würde sie ihn bestimmt für einen Dämon halten. Vincent würde es ihr nicht einmal übel nehmen, sollte sie ihn umbringen wollen. Er war ein Monster, jedenfalls in seiner Gestalt als Gargoyle. Selbst, wenn er sich in einen Menschen verwandelte, würde Noir so etwas wie ihn wohl niemals begehren. Immerhin könnte sie jeden haben. Sie war eine Schönheit, groß und grazil wie eine Elfe, aber gefährlicher als eine Harpyie. Ihr Anblick täuschte jeden, denn unter ihrer zierlichen Schale verbarg sich eine Hexe mit unvorstellbaren Kräften. Sie beherrschte mächtige Zaubersprüche, deren volle Kraft sie selten ausschöpfte, um nicht aufzufallen. Vincent wusste, wozu Noir fähig war, denn er hatte beobachtet, wie sie im Wald trainierte. Sie war die Herrin der Elemente, verwandelte Wasser in Eis, um dieses wie Pfeile auf ihre Gegner zu schleudern. Sie konnte Winde entfachen und unsichtbare Mauern aus purer Energie erschaffen; sogar die Erde konnte sie mithilfe von Magie bewegen und ihren Gegnern nicht nur sprichwörtlich den Boden unter den Füßen wegziehen. Seit Neuestem versuchte Noir, brennende Kerzen zur Explosion zu bringen.

Allein mit ihrem Aussehen blendete sie die Dämonen, die ihr jede Nacht in die Falle gingen. Diese Höllenwesen hatten eine Vorliebe für hübsche Menschenfrauen. Selbst die feine Narbe, die sich senkrecht über ihre Wange zog, entstellte Noir nicht. Sie stammte von dem Angriff in ihrer Kindheit, als ihre Familie ermordet wurde und Noir nur knapp mit dem Leben davonkam.

Eine Bewegung ihres Kopfes brachte ihr Haar abermals zum Glänzen, weil es das Licht der Deckenleuchte reflektierte. Das fesselte seinen Blick erneut. Ihr Haar war das Erstaunlichste an ihr. Es würde sofort Aufmerksamkeit erregen, deshalb verbarg sie es außerhalb der Klostermauern unter einer Kapuze oder einer Perücke. Zudem wusste von den Mönchen niemand, dass sie eine Frau war. Ihren magischen Fähigkeiten hatte sie es zu verdanken, bisher nicht als Frau oder Hexe entlarvt worden zu sein. Keiner der ohnehin schweigsamen Mönche fragte nach, warum sie nicht zu den täglichen Gebeten und Gottesdiensten, sondern nur zu den Mahlzeiten erschien. Niemand wunderte sich.

Während des Tages ruhte sie meistens, um nachts, im Schutze der Dunkelheit, Silver Abbey zu verlassen. Im Zentrum der alten Stadt gab es einen Dämonenklub, der wie ein Magnet das Gesindel der Unterwelt anzog. Noir passte jede Nacht solch ein Wesen ab, wenn es den Laden verließ, und nahm es sich zur Brust. Sie horchte die Höllenkreatur aus, ob sie etwas wusste, das ihr bei der Suche nach dem Artefakt oder ihrem verschollenen Bruder helfen konnte. Anschließend vernichtete sie den Unterweltler mehr oder weniger mühelos. Noir war eiskalt. Selbst vor Folter schreckte sie nicht zurück. Manchmal machte sie sogar ihm Angst.

Der kühle Wind von der Ostküste brachte die Blätter im Baum zum Rascheln und wirbelte Vincents Haar noch ein wenig mehr durcheinander. Er roch Salz und Seetang. Zu seinem Leidwesen mischte sich Noirs einzigartiger, weiblicher Duft darunter. Wie ein rosa Band schlängelte er sich aus dem Fenster – ein Hauch von Zimt und Vanille – direkt in Vincents Nase. Er stöhnte unterdrückt, weil es Fluch und Segen zugleich war, nicht in seiner menschlichen Gestalt zu stecken. Als Gargoyle konnte er Noir besser beschützen. Dann reagierten seine Sinne intensiver. Vincent hörte die Maus, die sich im Schutz der Dunkelheit ihren Weg durch das Gras bahnte, auf der Suche nach etwas Essbarem. Etwa fünfzig Meter weiter kauerte eine Katze im Schatten zweier Mülltonnen. Ihre Augen funkelten. Sie hatte das...