Das Raunen der Flammen

von: Helena Gäßler

Drachenmond Verlag, 2017

ISBN: 9783959917728 , 320 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 8,99 EUR

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Das Raunen der Flammen


 

Kapitel Eins


Obwohl ich bereits den ganzen Vormittag unterwegs gewesen war, hatte ich nicht viel gefunden. Mein Körbchen war fast leer und wir würden dieses Samaras eine Menge Gäste erwarten. Ich starrte also für eine Weile sehnsüchtig hinüber zu dem vollen Strauch am anderen Ufer. Nur ein paar Meter und die zu den Zeiten der Schneeschmelze peitschenden Wellen des Flusses Raico trennten mich von einem gelungenen Nachtisch. Ich verfluchte den Prinzen dafür, dass er sich gegen den Bau einer Brücke eingesetzt hatte, und beschloss, dass ich diese Beeren brauchte. Was war schon dabei? Ich musste nur ein paar Hundert Meter weiter flussabwärts. In dem kleinen Städtchen Dufferingen gab es eine Brücke. Die Ernte dort drüben würde ausreichen, meinen Korb zu füllen, ich war bester Laune – wo lag das Problem?

Oh niedliches, naives Ich

Ein schmaler Trampelpfad führte nach Dufferingen, ein heimeliges Städtchen, das überall in der Gegend für seine guten Gasthäuser bekannt war. Reichliche Mahlzeiten, große Ställe, freundliche Bedienung und weiche Betten, in denen kaum Wanzen vorzufinden waren. Es gab gleich drei solcher begehrten Unterkünfte in dem kleinen Ort: den Goldenen Löwen, die größte und teuerste, die Adlerschwinge, ganz oben am Hang und mit einer tollen Aussicht, und Zum Lachenden Mönchen, wo neben viel gutem Wein reichlich gutes Bier ausgeschenkt wurde. An ebendiesem Lokal, das so kurz vor Frühlingsbeginn erst recht an eine Kneipe erinnerte, musste ich vorbei. Und als ich so beschwingt und an nichts Böses denkend zwischen den hellen Steinhäusern hindurch an der weißen, mit Weinranken überwucherten Fassade vorbeischlenderte, passierte es

Ein großer, kräftiger Mann torkelte offensichtlich angetrunken aus der Tür. Er machte ein paar unbeholfene Schritte, knallte fast mit einem Steuertransporter zusammen und zückte plötzlich ein Messer. Während ich damit beschäftigt war, verwirrt langsamer zu werden, ging er laut, dafür umso undeutlicher schreiend auf den Fahrer los

Der Transporter bestand aus einer schmucklosen offenen Kutsche. Sie war beladen mit einigen Säcken Getreide, mehreren wesentlich kleineren Säckchen Gold und ein paar Krügen Wein und wurde von einem außergewöhnlich schreckhaften Pferd gezogen. Denn in der Sekunde, als der Räuber zu schreien begann, scheute das Tier, bäumte sich auf, schmiss den Karren um, riss sich los und stob davon. Der Kutscher wurde von seinem Sitz geschleudert, landete unter seinem eigenen Wagen und schrie schmerzverzerrt auf. Eine Passantin fiel kreischend mit ein. Der ohne Zweifel nur leicht angeheiterte Bandit versuchte sich in der allgemeinen Unruhe Gehör zu verschaffen, indem er das Geschrei lautstark übergrölte. Als das ohrenbetäubende Gebimmel der Alarmglocken dazukam, hatte er genug.

Die Alarmglocken waren der Hauptgrund für die – großzügig ausgedrückt – eher lasche Sicherung des Steuertransports. Innerhalb eines Ortes konnte man zwecks leichterer Verladung hart erarbeiteter Ernten gerne mal die Ladefläche offenlassen, denn jedes Haus besaß eine Glocke. Die Bürger waren verpflichtet, diese zu betätigen, solange sie sich in Sichtweite eines Gesetzesverstoßes oder einer Gefahrenquelle befanden. Was unter uns gesagt besonders bei Letzterem in den meisten Fällen keine gute Idee ist. Wenigstens wussten auf diese Weise die überall stationierten Wachmänner stets, wann und wo ihre Präsenz gefragt war

Gerade rechtzeitig zum Eintreffen von einem dieser blau-weiß uniformierten Wächter kam der Räuber auf eine für seinen Zustand erstaunlich geistreiche Idee. Er nahm eine Geisel.

Tja, und so wurde ich damals zur Heldin. Was? Nein, ich habe die Geisel nicht mit viel Brimborium vor ihrem schrecklichen Schicksal gerettet. Das wäre in der Tat eine nette Art gewesen, zur Heldin zu werden, und eine Lüge obendrein. Ich konnte gar nicht ausziehen, um den Retter zu mimen. Ich war die Geisel.

Es war keine gute Idee gewesen, stehen zu bleiben, um die Ereignisse besser verfolgen zu können. Ich wurde grob am Oberarm gepackt, mit Gewalt zurückgezogen und bekam eine scharfe Klinge gegen meinen Hals gepresst. Ich verstand zunächst gar nicht, was vor sich ging. Erst als der stechende Schmerz an meiner Kehle langsam die ersten Blutstropfen hervorbrachte, wurde mir der Ernst meiner Lage klar.

»Wenn einer von euch verscheuerten Vollidioten auf die Idee kommt, mir su folgen, dann werd’ ich … dann werd’ ich der Dings … dem Gör hier die Kehle aufmachen, darauf könnt ihr euch wetten!«, erklärte der Bandit lallend. Ich starrte in die schockierten Gesichter der Schaulustigen, die dem Ruf der Alarmglocke gefolgt waren. Panik stieg in mir auf. Was, wenn einer von ihnen uns folgen würde? Ich betete inständig, dass all die Leute so feige waren, wie sie dreinblickten, denn das Messer an meinem Hals war ganz und gar kein Witz

Der Räuber beugte sich nach unten, um nach den Goldsäckchen zwischen den zerbrochenen Krügen zu tasten. Ich wurde dabei unsanft durch die Gegend geschoben – ich erinnere mich gut, wie ich mich an seinen Arm klammerte, um nicht unabsichtlich in die Klinge gestoßen zu werden. Er wurde fündig, richtete sich auf und zog mir den Knauf des Messers so heftig über den Kopf, dass ich ohnmächtig zusammensank.

Augenzeugen zufolge warf er mich über seine Schulter und entfernte sich dann, undeutliche Drohungen von sich gebend, in den Wald.

In meinem Gedächtnis finden sich nur Bilder des Waldbodens, der über mir schwankte, der Gedanke an ein unaufhörliches Pochen in meiner Schläfe und der Geruch. Altes Leder, Schweiß und der beißende Gestank von Alkohol. Irgendwann muss ich die Augen zusammengepresst haben, um mich nicht vor lauter Schwindel zu übergeben.

Bis ich richtig zu mir kam, könnten Stunden vergangen sein. Ich erwachte mit fürchterlichen Kopfschmerzen, verschwommener Sicht und absolut keiner Ahnung, wo ich mich befand und wie ich dort hingekommen war. Eine einzige erschreckende Erkenntnis breitete sich mit unbestreitbarer Klarheit in meinem Kopf aus: Ich konnte mich nicht bewegen. Ich wollte schreien, aber es kam kein Laut heraus. Für einen winzigen Moment war ich fest davon überzeugt, gelähmt zu sein. Dann begann ich langsam zu begreifen, was los war.

Mit meinem schleichend klarer werdenden Blick betrachtete ich misstrauisch meine verschwommene Umgebung. Ich befand mich auf einer Lichtung, ringsum hohe Fichten und Buchen, dazwischen jede Menge Gestrüpp. Ein paar Meter entfernt lag das Diebesgut auf einem fein säuberlichen Häufchen, von meinem Entführer war keine Spur zu sehen. Vielleicht sah er sich gerade um, ob die Luft rein war, oder er musste ein paar Dinge besorgen, die er für seine Flucht benötigte.

Mein Mund war ganz trocken, weil jemand ein paar alte, stinkende Lumpen hineingestopft hatte. Gut! Wenn er Angst hatte, dass ich Leute mit meinen Schreien alarmieren könnte, mussten wir uns in der Nähe der Stadt befinden. Oder er wollte nicht, dass mich eventuelle Verfolger oder nichtsahnende Passanten hören konnten. Zu viel Optimismus steht mir nicht.

In beiden Fällen hatte ich nur ein knappes Zeitfenster, um mich zu befreien und abzuhauen. Es sah nicht so aus, als wäre uns jemand gefolgt, der mir helfen könnte. Vielleicht hatten sie zu viel Angst um mich, wahrscheinlicher jedoch eher um sich selbst.

Ich besah meine Lage genauer. Ich saß auf dem Boden, geknebelt, den Rücken an einen Baum gelehnt. Meine Arme waren hinter dem Stamm fixiert, durch dasselbe dicke Seil, das sich um meinen Bauch schlang. Meine Beine waren mit einem zweiten Strick an den Knöcheln zusammengebunden. Bis auf eine bald stattliche Beule und einen Schnitt am Hals hatte ich keine Schäden davongetragen.

Ich versuchte vergeblich, meine Hände durch Winden und Ziehen freizubekommen, die Knoten saßen zu fest. Stattdessen stieß ich mit den Fingerspitzen gegen einen Stein, der halb im Boden steckte. Mit einer Fingerkuppe fuhr ich über eine scharfe, gezackte Kante. Ha! Was für ein Anfängerfehler! Jedes Kind weiß, dass man mit spitzen Steinen Fesseln durchschneiden kann

Davon abgesehen, dass das nicht funktioniert. Glaubt mir, ich habe es versucht. Es ist schier unmöglich, mit gefesselten Händen Sägebewegungen zu machen, ganz zu schweigen davon, dass das ein gutes Seil in irgendeiner Form interessieren würde

Ich stellte jedoch fest, dass es möglich war, die Rinde abzukratzen. Der Baum musste kränklich sein, außen schon weich und modrig. Ich brauchte nicht lange, um eine flache Mulde freizukratzen, nur ein Stückchen unterhalb meiner gefesselten Hände. Ich wurde mit jeder Bewegung aufgeregter. Wenn mein Entführer jetzt zurückkam, würde ich meinen Fluchtversuch nicht mehr verbergen können. Mir blieb nur zu hoffen, dass er sich entweder Zeit ließ oder in seinem Suff nicht zu Wutausbrüchen und...