Teeclipper - Roman

von: Johannes K. Soyener

Aufbau Verlag, 2017

ISBN: 9783841214362 , 840 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 8,99 EUR

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Teeclipper - Roman


 

I.


»… Gunpowder, Mr. Mackay?«

»Was schlug der Big Ben?«

»Elf Uhr, Mr. Mackay!«

Magnus Mackay betrachtete kopfschüttelnd den Ring an seinem linkem Mittelfinger, auf dem ein haselnussgroßer Nugget gleißte. Sein Kopf war hellwach, seine Augen aufgerissen, als wäre ein Gebot Gottes verletzt worden. Dann sah er der Gestalt, die ihm mit herablassender Stimme geantwortet hatte, ins Gesicht: »Sie sind eine Null, eine echte Niete!«

Die ungesunde Blässe auf dem Gesicht des Bediensteten wechselte ins Aschfahle. Magnus polierte mit dem rechten Ärmel bedächtig den Goldnugget, dann ließ er unerwartet die Faust auf den Tisch krachen, als wollte er das Gold vor Zorn in die Tischplatte aus Elfenbein rammen. Der Kellner wich einen Schritt zurück.

»Gunpowder? Um diese Zeit?« Magnus liebte jenen chinesischen Grüntee, den er zum Entspannen äußerst schätzte – allerdings nur in den Nachmittagsstunden. »Bring Tarry Souchong – first flush! Dazu Lammkoteletts und Röstkartoffeln.«

»Tarry Souchong! First flush! Lammkotelett und Röstkartoffeln! Wie Sie wünschen, Mr. Mackay …« wiederholte der Bedienstete unterwürfig und entschwand eilig.

Magnus Mackay, Highlander, Nachkomme aus der Sippe »Angusis Eyg de Strathnaver« und vormals Herr von Scoury House, wartete im Kaffeehaus Garraways bei Tee und Brunch auf seinen schwarzen Diener Malcolm, der ausgeschickt worden war, seinem Herrn die Tagesausgabe der Times zu bringen.

Magnus Puls schlug schneller, als er sich eines Beitrags in eben jener Zeitung erinnerte, von dem er hier im Garraways vor genau fünfzehn Jahren Kenntnis bekommen hatte. Es war ein Brief eben jenes französischen Diplomaten und Ingenieurs Ferdinand Marie de Lesseps gewesen, den dieser im November 1854 an Herrn Bruce, Agent und Generalkonsul Ihrer Britannischen Majestät in Ägypten, geschrieben hatte. Magnus hatte ihn seitdem so oft gelesen, dass ihm der Text teilweise wörtlich im Gedächtnis geblieben war.

Ein bedauernswertes Vorurteil, die Folge jener politischen Feindseligkeit, welche unglücklicherweise schon so lange zwischen Frankreich und England besteht, hat allein die Ansicht verbreiten können, dass ein Werk der Zivilisation und des Fortschritts wie die Eröffnung des Suezkanals den Interessen Großbritanniens zuwiderliefe … Wenn man die Vorteile dieses ungeheuren Unterfangens einer unparteiischen Prüfung unterzieht und sich von seinem Einfluss auf die Wohlfahrt aller Völker genau Rechenschaft gibt, wird man es als eine Ketzerei ansehen, die Ansicht zu äußern, dass ein Unternehmen, welches die Entfernungen zwischen Osten und Westen um die Hälfte abzukürzen bestimmt ist, für England, der Beherrscherin von Gibraltar, Malta, der ionischen Inseln, von Aden, von bedeutenden Kolonien auf der Ostküste Afrikas, in Indien, Singapur und Australien, nicht erwünscht sei.

Die Mitteilung meiner Denkschrift und die mir vom König erteilte Vollmacht erspart es mir, noch einmal auf die Einzelheiten dieses Unternehmens einzugehen. Sie werden selbst einsehen, dass es hier nicht um besondere Privilegien für den einen oder anderen Staat, sondern einzig und allein darum geht, eine freie Gesellschaft zu gründen, an welcher sich Aktionäre aller Nationen unter gleichen Bedingungen beteiligen können …«

Nicht allein der Geist, der aus diesen Zeilen sprach, war es, was Magnus fesselte, sondern das feine Geflecht aus Ursache und Wirkung, das ihn seit jeher fasziniert hatte.

Dieses Geflecht erstreckte seine Ausläufer bis hinein in das Garraways. Die großen Ereignisse kündigten sich hier meist früher an als in der Times. Dort fand man sie zwar etwas später niedergeschrieben, doch dafür waren sie dann amtlich. Was der Leser allerdings nicht in der Times beschrieben fand, waren die Kontraste, die sich zwischen den Menschen ausbildeten: die Augenblicke der Ergriffenheit, des Jubels, der Leidenschaften und der Niederlagen. Nichts war fesselnder und dramatischer, als zu hören, wie die Besucher des Garraways die Ereignisse und Umwälzungen der Zeit drehten und wendeten. Oft falsch, paradox, manchmal auch zutreffend. Die Kunst für die Zuhörer bestand darin, dies herauszufinden.

Die Vielfalt der Meinungen spiegelte sich umgekehrt in der Einrichtung des Garraways wieder. Es besaß einfach alles. Neben Büfetts, bemalten Stühlen, einzelnen Blumenpodesten, beweglichen Zeitungs- und Buchstellagen sah man langweiliges klassizistisches Mobiliar, platziert zwischen teuren Möbeln bedeutender Londoner Kunsttischler, die in Mahagoni und Rosenholz ausgeführt waren.

Hinzu kamen die einzelnen Sitzecken. Die »Spekulantenecke« im linken vorderen Teil war in einem streng griechischen und maskulinen Charakter gehalten. Gleich gegenüber standen zwei Tische und Stühle im gotischen Stil. Die Ecke hieß »Parlatorium der Mönche«; dort nahmen vorzugsweise die Herren der Bank von England Platz. Dagegen hieß der Platz gleich eine Tischreihe davor die »Maklerecke«. Zwölf Stühle mit Lehnen in Form einer Lyra, mit sauber lackierten Bambusrohr-Sitzen, zu 14 Shilling das Stück. Sie waren bei John Robins in der Warwick Street in Soho gekauft, bei dem auch Magnus Einrichtungsgenstände fertigen ließ.

Zudem verfügte das Garraways im hinteren Bereich über eine Bibliothek mit einem angrenzenden Lesezimmer und einer zusätzlichen Kücheneinrichtung. Diese Räume blieben für Clubmitglieder reserviert. Die gesamte Einrichtung wurde von Taprell & Holland geliefert. Das Arrangement war derart elegant und angenehm, dass einige Ladies vehement gegen dieses Etablissement wetterten, da sie befürchteten, es würde ihre Männer von ihrem Familienkreis fernhalten. Die Mitgliedschaft im »Club Garraways« wurde nur an ausgewählte Herren vergeben und blieb auf die Zahl fünfzig beschränkt.

Magnus war seit zehn Jahren Mitglied, jedoch bevorzugte er in den Morgenstunden die »Halle«. In diesen Stunden war der Besuch moderat, der Lärmpegel mäßig, kurzum, zum Studium der Times ideal. Die vorgeschaltete morgendliche Teestunde genoss er daher besonders. Gleichzeitig betrachtete er zu gern die Nachbildungen zweier Aphrodite-Statuen, die den Eingang flankierten. Links die respektable, bekleidete Venus Genetrix, die Mutter Roms, und ihr gegenüber die kapitolinische Venus als heilige Dirne, die ihre Hände schützend vor nackter Brust und Scham hält. Magnus lächelte verschmitzt. »Ladies der Broker« wurden sie genannt – vor und nach misslungener Spekulation …! Außerdem liebte er das durch den Nebel gebrochene Licht, wie es zur dieser Jahreszeit schräg durch die hohen bogenförmigen gestalteten Glasfenster hereinfiel, was ein Gefühl des Unterirdischen, ja Mystischen erzeugte …

Er scharrte mit den Füßen auf dem Flor des dicken Teppichs, der nur in jener Ecke des Kaffeehauses den hellen Marmorboden abdeckte, und blickte ungeduldig abwechselnd durch das linke und rechte hohe Fenster, das den Blick großzügig auf die leere Change Alley freigab. Es sah kalt und neblig da draußen aus. Die äußerst dürre Besetzung im Garraways um jene Tageszeit verhieß zudem nichts Gutes. Sicher belagerte die in Panik geratene Meute von Kaufleuten und Spekulanten gerade Lloyd’s Coffee House im Obergeschoss des Gebäudes der Schiffsversicherung, das gleich um die Ecke lag, und fühlte schon mal vor, ob die verlorenen Millionen Pfund Sterling auch ersetzt würden.

Der Gedanke daran verstärkte seine Anspannung. Wenn die Nachricht in der Times, wie von ihm erwartet, heute schwarz auf weiß vorlag, so dürfte dies morgen schon erhebliche Auswirkungen auf das Empire haben. Die Börse würde heftig reagieren. Wenige Investitionen der letzten Jahre, sowohl in die Werften als auch in die Clipperschiffe, würden sich jetzt noch rentieren. Um das Vermögen seiner Söhne Morgan und Kenneth machte er sich wenig Sorgen; er hatte sie rechtzeitig vorgewarnt. Was seinen dritten Sohn Angus betraf, so hatte dieser so viel in die Geschäfte der Mackays investiert, dass der Clan heute zu ihm als seinem Chief aufsah; so ändern sich, dachte er mit einer Mischung aus Bitterkeit und heimlichem Stolz, die Zeiten. Doch was Angus’ amerikanische Besitztümer betraf, so fürchtete er sie, wenn nicht schon verloren, so doch aufs äußerste gefährdet …

Politik und Handel. Kein Handel ohne Krieg, kein Krieg ohne Beeinträchtigung des Handels. Warum sollte es morgen anders sein, vor allem gerade dort, wo sich gleich drei Erdteile treffen? Seine Augen wanderten an der geschnitzten gotisch gestalteten Wandverkleidung entlang, die dem Garraways den Hauch einer Privatkapelle verlieh, bis sie an dem Portrait des Premierministers verweilten. Was verfolgte Gladstone mitsamt seiner Regierung? Warum überließ man Frankreich den Triumph ganz allein, den Pharaonen-Traum zu verwirklichen?

Im gleichen Moment stieg in ihm eine Erkenntnis auf, die sein schottisches Blut aufwallen ließ: Endlich war die alte egoistische Politik Englands ins Herz getroffen! Der längst im Griff geglaubte Hass kroch wieder hervor. Der Geist des Verlierers begann wieder nach Rache zu schreien.

Seit der Schlacht von Culloden, wo das Heer der Schotten vernichtend geschlagen worden war, herrschte im Norden ein englisches Schreckensregiment. Was jedoch mehr schmerzte als das Schwert des Feindes in der schottischen Brust, war die Erinnerung an die Zeit, als die Clanväter begannen, ihre Ehre zu verkaufen. Die führenden Häupter lechzten nach dem verschwenderischen Leben der englischen Landlords. Doch...