Portugiesische Tränen - Roman - Ein Lissabon-Krimi

von: Luis Sellano

Heyne, 2018

ISBN: 9783641178536 , 352 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 11,99 EUR

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Portugiesische Tränen - Roman - Ein Lissabon-Krimi


 

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JETZT

In der Rua da Regueira fraß eine Möwe eine Taube.

Vermutlich war die Taube bereits tot gewesen, bevor sie zur Mahlzeit wurde. Gegen eine Glasscheibe geflogen, einer Krankheit oder dem Alter erlegen und vom Dach gefallen. Die Möwe, ein Raubtier, das wegen der leer gefischten Meere in seinem natürlichen Lebensraum nicht mehr ausreichend Nahrung fand, verdingte sich nun als Aasfresser. Vertilgte ihresgleichen oder zumindest die nähere Verwandtschaft, indem sie ihren leuchtend gelben Schnabel in das zerrupfte Gefieder stieß und mit abgehackten Bewegungen blutiges Fleisch freilegte. Trotz seiner Anspannung lenkte Henrik Falkner diese bizarre Szene für einen Moment ab. Nur für ein, zwei Sekunden, in denen er nicht wegsehen konnte. Lang genug jedenfalls, um die Frau aus den Augen zu verlieren.

Wohin …?

Er sah sich um. Spürte die Panik heranrollen. Immerhin ging es um Leben und Tod, so wie er es Adriana noch vor Kurzem prophezeit hatte. Bei mir geht es immer ums Sterben, hatte er gesagt, ohne zu ahnen, dass sich diese Bemerkung nur allzu schnell als zutreffend erweisen sollte.

Verärgert über sich selbst und seine Nachlässigkeit, eilte er weiter. Das Alfama-Viertel war kein guter Ort für Unaufmerksamkeit, das wusste er schließlich am besten. Oft genug hatte er sich in den vergangenen Monaten durch den verschachtelten, am schwersten zu durchschauenden aller Lissabonner Stadtteile bewegt und sich in der Hälfte der Fälle auf die eine oder andere Art verlaufen – egal, ob er dabei nur einer Laune folgend durch die Gassen gestreift, zu einer Verabredung unterwegs, jemandem hinterhergeschlichen oder gar selbst auf der Flucht war. Das Labyrinth des alten Fischerviertels hatte seine Tücken und besaß zahllose versteckte Ecken. Das konnte ein Vorteil sein. Oder eben auch nicht.

Wie hatte er bloß so unachtsam sein können? Natürlich konnte er es auf den miesen Tag schieben, den er heute durchlebte. Genau genommen war es eine miese Woche gewesen, in der er bereits einige Blessuren davongetragen hatte. Äußerliche und solche, die tief in die Seele geschnitten hatten. Wieder mal. Zudem stand er unter Drogen. Irgendwas Wirkungsvolles, das die Nerven betäubte und alles, was ihm sonst noch wehtat. Leider beeinträchtigten die Medikamente auch den Denkapparat.

Wohin ist sie verschwunden?

Das war momentan die vorrangige Frage. Dicht gefolgt von der Überlegung, was sie hier überhaupt wollte. Sie war vom Hafen gekommen und in das verwinkelte Viertel eingetaucht. Dort, wo die Häuser sich so eng auf- und aneinanderpressten, dass nicht alle Gassen mit Autos befahren werden konnten. Im Alfama ging man ohnehin besser zu Fuß, wollte man schnell vorankommen. Oder jemanden abschütteln.

Davor hatte die Frau die Metro genommen und war am Terreiro do Paço ausgestiegen. Was es bis dorthin einfach für ihn gemacht hatte, sie zu verfolgen. Einfacher jedenfalls, als hätte sie ein Taxi herangewunken. Oder den Bus gewählt. So konnte er auf Abstand bleiben. Auch noch nachdem sie das Alfama verschluckt hatte. Nur war das letztlich zu viel gewesen.

Und jetzt?

Auf dem steilen Terrain, wo über Jahrhunderte auf engsten Raum gebaut worden war, übereinander, ineinander, zusammengepfercht, notgedrungen in die Höhe, jeden Zentimeter Raum nutzend, verlor er schnell die Übersicht. Warum ausgerechnet hierher?

Hatte sie ihn trotz seiner Vorsicht bemerkt und war deswegen gezielt ins Fischerviertel geflüchtet, in dem Versuch, ihn abzuschütteln? Das zumindest war ihr offensichtlich gelungen, gestand er sich widerwillig ein. Vielleicht steckte aber auch eine andere Absicht dahinter, dass sie sich in dieses verworrene Labyrinth begeben hatte, in dem allenfalls kleine Innenhöfe existierten … Unmöglich, dass es hier genug Platz gab …

Stopp! Er durfte nicht durcheinanderkommen. Zu viel Schreckliches war schon geschehen, um sich jetzt mit Spekulationen und Theorien verrückt zu machen. Oder sich von taubenfressenden Möwen ablenken zu lassen.

Wohin …?

Er befand sich ganz in der Nähe der Igreja de Santo Estêvão. Vor nicht einmal einer Minute hatte er die Glocken der in leuchtendem Weiß erstrahlenden Barockkirche läuten hören. Siebenmal. Folglich hockte die Möwe über ihrem Abendessen. Vögel, die Vögel fraßen. Wahrscheinlich nicht einmal so ungewöhnlich. Er gehörte ja selbst einer Spezies an, die ihresgleichen fraß – wenn auch in den seltensten Fällen im wörtlichen Sinne. Er zwang sich dazu, weiterzugehen und die Möwe zu vergessen. Bald kam die Dunkelheit. Und vorher musste er sie finden. Noch heute Nachmittag hatte er wenig Hoffnung gehabt, endlich Licht in diese Geschichte zu bringen. Doch dann diese unerwartete Begegnung. Er hielt an der Überzeugung fest, dass sie ihm sagen konnte, wie das alles hatte passieren können. Wie alles zusammenhing. Und, so hoffte er inständig, wie man es beenden konnte, bevor noch mehr Leute sterben mussten. Dieser Wahnsinn hatte bereits fünf, ja, möglicherweise sogar noch mehr Opfer gefordert. Was wusste er schon? Nicht einmal, ab wann er anfangen musste zu zählen. Objektiv betrachtet also noch viel zu wenig. Doch er war entschlossen, diese Sache zu stoppen. Um jeden Preis. Und dazu brauchte er die Frau.

Wohin also?

Henrik erreichte die Rua do Vigário. Keuchend. Der steile Anstieg brannte nicht nur in den Oberschenkeln, sondern auch in der Brust. Alles war steil hier und kostete Kraft. Und machte ihm seine konditionellen Defizite nur zu bewusst. Wie oft hatte er sich schon zu motivieren versucht, endlich etwas dagegen zu tun. Doch immer wieder schob er sein Sportprogramm vor sich her. Es half nicht, jetzt darüber zu lamentieren. Er wischte sich den Schweiß aus den Augen und sah sich um. Das Salz, das sein Körper ausschied, brannte wie Feuer in der Kopfwunde. Dort, unter dem Haaransatz verborgen, schien die einzige Stelle zu sein, die das Medikament nicht betäuben konnte. Nicht darüber nachdenken! Irgendwie hält mich das Brennen auch wach.

Unverhältnismäßig viele Menschen waren unterwegs. Oder es kam ihm gerade nur so vor. Jedenfalls vibrierte die Stadt in ihrem ewigen Rhythmus. So wie jeden Tag. Stillstand gab es nicht. Nur Wellen. Ein An- und Abschwellen der Massen. Jetzt um diese Zeit waren es viele. Touristen und Einheimische füllten die Häuserschlucht, die sich wie das Bett eines Gebirgsbaches talwärts wandte. Zu viele Leute, zu unübersichtlich. Einige musterten ihn. Er bewegte sich zu schnell, zu angespannt gegen den Strom. Passte nicht ins Bild, nicht auf die Motive, die von den Urlaubern unter künstlerischen Aspekten oder einfach nur aus Sentimentalität festgehalten wurden. Wer diese Stadt besuchte, wollte ihre Eindrücke, ihre Schönheit einfangen. Die Besonderheit der Architektur, das geschichtsträchtige Ambiente, die Einzigartigkeit mit nach Hause nehmen. Das Flair Lissabons, so lange es ging, mit sich herumtragen. Nicht nur im Herzen, wo es hingehörte, sondern auch digital. Es war wie ein Zwang – und würde doch nie gelingen. Das wusste Henrik. Genauso wie er wusste, dass über der Stadt am Tejo nicht nur die Sonne schien. Es gab Schatten, Finsternis unter dunklen Wolken, schwarze Löcher ohne Trost. Er hatte sie kennengelernt. War in ein paar davon hineingeraten und hatte ihnen wieder entfliehen können. Aber es lag auf der Hand, dass noch mehr dieser Löcher existierten, in denen die Gravitation von einer anderen Qualität war. Gnadenlos, tödlich. Auch deshalb war er hier. Weil er wieder eine Tür geöffnet hatte, hindurchgegangen und hinabgestiegen war in die nasskalte, herzlose Finsternis. In das Reich hinter den sonnenbeschienenen Fassaden. Sieben Tage war das nun her. Seitdem zerrte die Dunkelheit an ihm, die Dunkelheit hinter dieser Pforte. Und deshalb suchte er nicht nur nach der Frau, sondern auch den Weg zurück ans Licht. Doch dazu musste er möglicherweise erst noch tiefer in die Abgründe hinabsteigen, die sich ihm in der letzten Woche eröffnet hatten.

Unter den Menschen, die hinauf Richtung São Vicente de Fora und dem Panteão Nacional stiegen oder runter zum Hafen schlenderten, konnte er sie nirgendwo entdecken. Vermutlich war er zu weit gelaufen. Hatte die entscheidende Abzweigung verpasst. Frustriert eilte er die Kopfsteinpflastergasse wieder hinab. Er kam an dem Torbogen vorbei, durch den man in die Beco das Cruzes, die Gasse der Kreuze, gelangte. Und plötzlich wusste er, wohin sie unterwegs war. Die Erkenntnis platzte auf wie eine reife Frucht. Wenn er ehrlich war, hatte er es von Anfang an geahnt. Es war, als hätten die kürzlich erfolgten Ereignisse blinde Flecke auf seiner Netzhaut hinterlassen. Eine emotionale Blindheit, nicht nur hervorgerufen durch seinen desolaten Zustand, sondern auch durch die greifbare Aussicht, eine Erklärung für Martins vorzeitiges Ableben zu finden. Und damit eine Antwort auf eine der großen Ungereimtheiten, die ihn seit seiner Ankunft in Portugal quälten. Ein entscheidender Schritt hin zur Wahrheit und, das konnte man ohne Übertreibung sagen, zu seinem Seelenheil.

Auf der sehr engen, in Teilen aus Steinstufen bestehenden Beco Cruzes, in der sich die Häuser fast zu berühren schienen, waren weniger Leute unterwegs. Der Strom wurde rasch zu einem dünnen Plätschern, und bald war niemand mehr um ihn herum. Er hatte die Unterhaltungen, das Murmeln und Kichern, das Klicken der Auslöser und alle anderen von den Touristen verursachten Geräusche hinter sich gelassen. Er war allein mit dem Echo klackender Absätze. Sie war wieder vor ihm, vermutlich schon hinter der nächsten Biegung. Flink und geschickt bewegte sie sich in ihren...