Mademoiselle Coco und der Duft der Liebe - Roman

von: Michelle Marly

Aufbau Verlag, 2018

ISBN: 9783841214997 , 512 Seiten

2. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 10,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Mademoiselle Coco und der Duft der Liebe - Roman


 

Kapitel 1


Die gelben Scheinwerfer durchschnitten den Nebel, der von der Seine aufstieg und Eschen, Erlen und Buchen an der Uferstraße umhüllte wie ein weißes Tuch aus Leinen. Wie ein Leichentuch, fuhr es Étienne Balsan durch den Kopf.

Vor seinem geistigen Auge formte sich das Bild eines aufgebahrten Toten: zerschmetterte Glieder, verbrannte Haut, von Linnen bedeckt. Zu Füßen des Verstorbenen lag ein Buchsbaumzweig, auf seiner Brust ein Kruzifix. Neben seinem Kopf stand eine Schale mit Weihwasser, das den Geruch des Todes dämpfte. Das Licht von Kerzen warf gespenstische Schatten auf die Leiche, die von Nonnen so hergerichtet worden war, dass der Anblick nicht allzu verstörte.

Unwillkürlich versuchte sich Étienne vorzustellen, wie das schöne Gesicht seines Freundes entstellt sein mochte. Er kannte es fast ebenso gut wie sein eigenes.

Wahrscheinlich ist nicht viel übrig geblieben von den ebenmäßigen Zügen, den elegant geschwungenen Lippen und der geraden Nase, beantwortete er sich seine Frage. Wenn ein Automobil ungebremst eine Böschung hinabraste, gegen eine Felswand schlug und Feuer fing, blieben nicht viele Knochen an Ort und Stelle. Es bedürfte gewiss einiger Kunstfertigkeit, die Ansehnlichkeit des tödlich Verunglückten wiederherzustellen.

Er spürte ein feuchtes Rinnsal seine Wange hinablaufen. Regnete es in den Wagen? Er wollte den Scheibenwischer einschalten, wobei er so hektisch danach suchte, dass das Automobil seitlich ausbrach. Als er panisch auf die Bremse trat, spritzte Matsch gegen das Seitenfenster. Endlich quietschte das Gummi über die Scheibe. Es regnete nicht. Tränen rannen aus seinen Augen, eine Welle der Müdigkeit und Trauer lastete auf ihm, drohte über ihm zusammenzubrechen. Wenn er jedoch nicht enden wollte wie sein Freund, musste er sich auf die Straße konzentrieren.

Der Wagen stand quer zur Fahrbahn. Étienne zwang sich zu einem ruhigen Atemrhythmus, schaltete den Scheibenwischer ab, umfasste das Steuerrad mit beiden Händen. Der Motor heulte auf, als er auf das Gaspedal trat, die Räder drehten durch. Nach einem Rucken fand das Automobil in seine Spur zurück. Er spürte, wie sich sein Herzschlag normalisierte. So spät nach Mitternacht gab es glücklicherweise keinen Gegenverkehr.

Er zwang sich, den Blick starr auf die Straße zu richten. Hoffentlich kreuzte kein Nachttier seinen Weg. Er hatte keine Lust, einen Fuchs zu überfahren, wenn, dann entsprach die Fuchsjagd hoch zu Ross schon mehr seinem Naturell. Genauso hatte sein Freund gefühlt, die Liebe zu Pferden hatte sie verbunden. Arthur Capel, der ewig Jugendliche, der seinen kindlichen Spitznamen Boy niemals hatte ablegen können, war ein phantastischer Polospieler – gewesen. Boy war ein Bonvivant gewesen, ebenso intellektuell wie charmant, durch und durch Gentleman, ein britischer Diplomat, im Krieg zum Hauptmann befördert und ein Typ, den jeder gern seinen Kameraden nannte. Étienne konnte sich glücklich schätzen, einer seiner ältesten und besten Freunde zu sein. Gewesen zu sein …

Wieder rollte eine Träne über Étiennes sonnengegerbte Wange. Doch er nahm seine Hand nicht vom Lenkrad, um sie wegzuwischen. Er sollte sich nicht mehr ablenken lassen von den eigenen Gedanken, wenn er mit heiler Haut in Saint-Cucufa ankommen wollte. Diese Fahrt war der letzte Dienst, den er dem Toten erweisen konnte. Er musste Coco die furchtbare Nachricht überbringen, bevor sie es morgen aus den Zeitungen oder durch den Anruf einer Klatschbase erfuhr. Es war wahrlich keine schöne Aufgabe, aber eine, die er mit dem Herzen erledigte.

Coco war Boys große Liebe – gewesen. Daran bestand kein Zweifel. Für niemanden, und für Étienne schon gar nicht. Er hatte die beiden bekannt gemacht. In jenem Sommer auf seinem Anwesen. Boy war wegen der Pferde nach Royallieu gekommen – und mit Coco gegangen. Dabei war sie eigentlich Étiennes Freundin. Na ja, genau genommen war sie damals nicht einmal das. Sie war ein Mädchen, das in der Garnisonsstadt Moulins mit zweideutigen Liedern im Tingeltangel auftrat und tagsüber die Hosen der Offiziere flickte, mit denen sie sich nachts vergnügte. Zart, knabenhaft, bildhübsch, lebensfroh, zerbrechlich und dabei unfassbar mutig und energisch. Das genaue Gegenteil jenes Typs der grande dame, den so viele junge Frauen der Belle Époque anstrebten zu sein.

Étienne hatte sich mit ihr amüsiert und sie aufgenommen, als sie unerwartet vor seiner Tür stand, hatte aber ihretwegen nichts in seinem Leben geändert. Anfangs wollte er sie nicht einmal um sich haben, aber sie war stur und einfach geblieben. Ein Jahr, zwei Jahre … Er konnte sich nicht einmal erinnern, wie lange sie an seiner Seite gelebt hatte, ohne dass er sie als Gefährtin wahrnahm. Eigentlich hatte ihm erst Boy die Augen für Cocos innere Schönheit und Stärke geöffnet. Doch da war es schon zu spät. Da hatte er seine Mätresse, die nicht einmal seine ständige Geliebte war, abgetreten, wie man das in seinen Kreisen in der Zeit vor dem Großen Krieg eben so machte. Aber er war ihr Freund geworden. Und würde es über Boys letzten Atemzug hinaus bleiben. Das schwor er sich.

* * *

Sie musste endlich aufhören, sich verrückt zu machen.

Seit Stunden warf sich Gabrielle in ihrem Bett herum. Hin und wieder fiel sie in einen scheinbar tiefen Schlaf, aus dem sie bald wieder aufschreckte, verwirrt und noch in einem Traum gefangen, an den sie sich nicht erinnern konnte. Dann tastete sie nach der anderen Bettseite, um den vertrauten Körper zu fühlen, der ihr so viel Geborgenheit schenkte. Doch das Kissen war leer, das Lager unberührt – und Gabrielle wieder hellwach.

Natürlich. Boy war nicht da. Er hatte sich gestern – oder war es schon vorgestern? – auf den Weg nach Cannes gemacht, um ein Haus zu mieten, in dem sie gemeinsam die Feiertage verbringen wollten. Es war eine Art Weihnachtsgeschenk. Sie liebte die Riviera, und es bedeutete ihr unendlich viel, dass er Weihnachten mit ihr und nicht mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter verbrachte. Er hatte sogar davon gesprochen, sich scheiden zu lassen. Sobald er eine geeignete Villa gefunden hatte, sollte sie nachkommen. Aber er hatte noch nicht angerufen, nicht einmal ein kurzes Telegramm aufgegeben und sie auf diese Weise wissen lassen, dass er wohlbehalten in Südfrankreich eingetroffen war.

Hatte er es sich womöglich anders überlegt?

Seit seiner Hochzeit vor rund eineinhalb Jahren nagten immer wieder Zweifel an Gabrielle. Anfangs war sie fassungslos gewesen, weil er ihr eine Frau als Gemahlin vorzog, die all das verkörperte, was Gabrielle nicht war: eine hochgewachsene Blondine, ebenso blass wie blasiert, wohlhabend, eine Angehörige des britischen Hochadels, die Boy den gesellschaftlichen Aufstieg in die britische Oberschicht ermöglichte. Dabei hatte er auch ohne eine solche Verbindung so viel erreicht. Als Sohn eines bürgerlichen Schiffsmaklers aus Brighton hatte er es immerhin zum Berater des französischen Präsidenten Clemenceau und zum Mitglied der Friedenskonferenz von Versailles gebracht. Wozu brauchte er da noch eine noble Angetraute?

Vor allem: Seit zehn Jahren lebten er und Gabrielle zusammen. Sie hatte fest damit gerechnet, dass sie eines Tages heiraten würden. Und war sie etwa keine gute Partie? Nun ja, über ihre einfache Herkunft warf sie am liebsten ein dunkles, undurchdringliches Tuch. Aber sie hatte sich zu einiger Berühmtheit hochgearbeitet. Als Coco Chanel war sie eine überaus erfolgreiche Modeschöpferin, inzwischen sogar eine wohlhabende Frau.

Angefangen hatte sie als Hutmacherin mit einem Kredit ihres alten Freundes Étienne Balsan, und ihre so schlichten wie eleganten Kreationen erregten schon bald die Aufmerksamkeit der Pariserinnen. Keine Federn oder andere Hutaufbauten – das gefiel den Damen nach einer langen Zeit der üppigen Dekorationen. Furore machten schließlich die locker fallenden Matrosenblusen, die sie in Deauville entwarf. Gabrielle verbannte das Korsett und schneiderte Hosen für Frauen. Dann waren die Hungerjahre des Großen Krieges gekommen, und – ganz pragmatisch – hatte sie es gewagt, schlichte, funktionale Kleider aus preiswertem Seidenjersey und Nachtanzüge zu kreieren, mit denen die Frauen ebenso bequem wie schick vor den Angriffen der Deutschen in den Keller fliehen konnten. Die noblen Damen rissen ihr die Sachen geradezu aus den Händen. Fast jede von Rang, ja der gesamte Hochadel kam zu Gabrielle, um von Coco Chanel angezogen zu werden.

Wozu benötigte Boy noch den Trauschein mit der Vertreterin dieses Standes? Gabrielle hatte sich nach oben gearbeitet und sich einen Namen gemacht. Wie konnte er ihre große Liebe für eine Karriere opfern, auf deren Höhepunkt er sich doch längst befand? Gabrielle verstand es nicht – und würde es niemals verstehen. Und der Kummer darüber fraß sich in ihre Knochen wie die Schwindsucht.

Doch dann war er zu ihr zurückgekehrt. Das Band, das Boy und Gabrielle verband, war stärker als die goldenen Ringe, die er mit Diana Wyndham, Tochter von Lord Ribblesdale, getauscht hatte. Natürlich hatte sie gezögert, aber dann war Gabrielle in seine Arme gesunken. Lieber die neue Rolle als Mätresse akzeptieren als ganz auf ihn verzichten, lautete ihre Devise. Was sprach gegen ihr Arrangement? Nichts. Oder? Es ging ja alles gut, aber die Zweifel nagten im Geheimen weiter an ihr wie die Motten.

Boy lebte faktisch von seiner Frau getrennt, war die meiste Zeit in Paris. Dennoch war es natürlich gelegentlich nötig, dass er sich an der Seite seiner Gattin zeigte. Gabrielle ließ ihn gehen, weil sie...