Todeswoge - Ein Ostsee-Krimi

von: Katharina Peters

Aufbau Verlag, 2018

ISBN: 9783841215154 , 320 Seiten

4. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 8,99 EUR

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Todeswoge - Ein Ostsee-Krimi


 

1


Emma war mit dem ersten Licht zu Fuß zum Holzhafen aufgebrochen. Novembernebel schlich durch die Gassen, schluckte Farben und Geräusche, verwischte die Konturen; das Möwengeschrei klang dumpf und leise, und selbst die Gerüche schienen gedämpft. Wie mein Innerstes, dachte sie.

Am Abend zuvor hatte sie Johanna ihre endgültige Entscheidung am Telefon mitgeteilt, und obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, den Entschluss nicht zu diskutieren, war es der Kollegin dann doch gelungen, sie in ein längeres Gespräch zu verwickeln, das partout kein Ende nehmen wollte.

»Ich will keine Stelle beim BKA«, hatte sie in selbstsicherem Ton erklärt. »Weder in Berlin noch in Wiesbaden oder …«

»Es gibt andere Möglichkeiten, das weißt du. Ich kann einiges bewirken, gerade jetzt.«

Hauptkommissarin Johanna Krass war nach den geklärten Mordfällen vom Salzhaff zur Leiterin der Abteilung für verdeckte Einsätze des BKA befördert worden und hatte hauptberuflich wieder in Berlin zu tun. Sie klang hochzufrieden, tatendurstig, fast euphorisch, was nicht zuletzt auch damit zu tun haben dürfte, dass sie endlich ihre verhasste Vorgesetzte losgeworden war, die sich darüber sehr wahrscheinlich ähnlich ausgelassen freute, wie Johanna lachend erzählt hatte.

»Ich weiß, das hast du schon mehrfach betont, und ich freue mich, dass es für dich so gut läuft«, entgegnete Emma.

»Das könnte es für dich auch. Immerhin haben wir es deiner Hartnäckigkeit zu verdanken, dass kein Unschuldiger sitzt.« Sie räusperte sich. »Auch wenn deine eigenmächtige und riskante Vorgehensweise … Aber lassen wir das jetzt. Vielleicht brauchst du nur etwas Bedenkzeit.«

»Ich hatte Bedenkzeit, Johanna. Und das Ergebnis ist eindeutig: Ich will nicht zurück in den Polizeiapparat.«

»Warum nicht? Du kriegst alle Freiheiten, die du für nötig hältst.«

»Das ist Quatsch.«

»Na gut – ich würde dafür sorgen, dass …«

»Nein.«

Emma hörte, dass Johanna tief durchatmete. »Du willst also tatsächlich als private Ermittlerin in Wismar bleiben? Davon kannst du kaum leben, selbst wenn du in der Rostocker Detektei aushilfst«, warf sie ein.

»Ich brauche nicht viel.«

»Das Modell war gut, als es darum ging, hochbrisante und komplizierte Fälle im OK-Bereich mit Rückendeckung und finanzieller Unterstützung des BKA voranzutreiben, aber was willst du jetzt noch dort? Hauptberuflich untreue Ehemänner oder -frauen beschatten? Geld eintreiben? Florian …«

»Hat sich anders entschieden, ich weiß«, unterbrach Emma sie schnell. Dieses Thema wollte sie auf keinen Fall mit Johanna diskutieren.

»Das war schlau.«

»Es war das Richtige für ihn.«

»Ich dachte, ihr beide …«

Emma blendete den Rest des Satzes aus, und irgendwann brach Johanna ab. Einen Moment herrschte ein unbehagliches Schweigen. Das BKA hatte Florian eine sechsmonatige Fortbildung angeboten, und die Aussichten auf ein Stellenangebot standen sehr gut für ihn. Emma hatte ihn nicht aufgehalten, und das war wohl verletzender als alles andere gewesen. Seit er weg war, hatten sie gerade zweimal telefoniert – kühl, distanziert, verunsichert. Es war vorbei, bevor es richtig begonnen hatte, und die Verblüffung über das seltsam unaufgeregte Ende war größer als der Schmerz.

»Falls du es dir doch noch anders überlegst, melde dich«, sagte Johanna schließlich.

»Mach ich.«

»Und wenn ich sonst etwas für dich tun kannst oder du Hilfe brauchst, lass es mich wissen.«

»Ja. Danke.«

Johanna traute dem Frieden nicht, und Emma konnte es ihr nicht verdenken. Die intensive Zusammenarbeit der letzten Monate hatte sie einander nähergebracht, und Johanna – diese widerborstige, scharfsinnige und höchst eigenwillige Kommissarin – war wohl auf ihre ganz eigene Art besorgt, und zwar nicht nur, weil Emma ihrer Ansicht nach ihre Karriere verspielte, leichtsinnig und trotzig noch dazu.

Das Modell Wismar war eigentlich Emmas Idee gewesen, ursprünglich als Alleingang geplant und schließlich im Team mit dem BKA und der Rostocker Detektei realisiert. Getarnt als private Ermittlerin und unter neuer Identität, hatten sie Bruno Teith aufgestöbert, einen der miesesten Kriminellen, die je während ihrer Laufbahn beim LKA Dresden ihren Weg gekreuzt hatten und in dessen Gewalt sie sich eine Nacht befunden hatte. Diese Stunden hatten alles verändert: den Blick aufs Leben und das Wissen um Angst und Schmerz in der Nähe des Todes. Emma hatte sich befreien und fliehen können. Das lag inzwischen zweieinhalb Jahre zurück, aber Zeit spielte in dem Zusammenhang nicht die geringste Rolle. Oft hatte sie das untrügliche Gefühl, dass damals etwas in Gang gesetzt worden war, was sie nicht mehr aufhalten konnte, eine Art Wandlung, die sie manchmal gebannt, andere Male erschüttert und angstvoll verfolgte.

Teith war schließlich von einem seiner eigenen Leute ermordet worden; seine Gruppe hatte sich aufgelöst, die wichtigsten Leute saßen im Gefängnis, und das Team hatte kurz nach der erfolgreichen Zusammenarbeit im Auftrag des BKA einen zweiten Fall bearbeitet. Doch Ruhe, geschweige denn Frieden hatte Emma höchstens zeitweise gefunden. Stattdessen war ihr klargeworden, dass ein Teil von ihr immer auf der Suche sein würde – auf der Suche nach dem Bösen. Um es zu stellen, einzukreisen und den Kampf aufzunehmen. Einen Kampf, der die Möglichkeit zu töten ausdrücklich einschloss. Das war die tiefere Wahrheit.

Den Mörder vom Salzhaff hatte sie auf eigene Faust verfolgt, als die Polizei und ihre Mitstreiter den Fall längst zu den Akten gelegt hatten. Sie war das größtmögliche Risiko eingegangen und hatte ihn getötet. Zu ihrer Entlastung konnte man anführen, dass sie in einem Zweikampf auf Leben und Tod keine andere Möglichkeit gehabt hatte. Aber die Wahrheit war auch, dass sie zu keinem einzigen Zeitpunkt eine andere Wahl gewollt hätte. Sie hatte den Mann ertränkt, und für Momente hatte sie in diesem Augenblick auch Teith getötet.

Kein Wunder, dass ich mich so stark zu Christoph hingezogen fühle, dachte sie auf dem Nachhauseweg, als sie Brötchen bei ihrem Lieblingsbäcker kaufte. Er hat auch getötet und es nicht bereut, und er ist der Einzige, der wirklich weiß, wie es in mir aussieht. Vor ihm muss ich mich weder verstecken noch schämen.

Christoph Klausen, fünfzig Jahre alt, Exhäftling sowie ehemaliger Bundeswehrsoldat und -ausbilder, war aufgrund verschiedener Verknüpfungen zu Beginn ihrer letzten Ermittlungen in den Fokus geraten. Und den hatte er nie wieder verlassen, selbst als klargeworden war, dass er mit den Morden nichts zu tun hatte. Der Nahkampfmann, der sich jeder Beschattung entzogen, den Spieß umgedreht und doch wertvolle Hinweise geliefert hatte. Zwanzig Jahre älter als sie, kantig, wortkarg, geheimnisvoll. Der einsame Wolf.

Sie ließ sich Zeit mit dem Frühstück, überflog nebenbei die Nachrichten auf dem Laptop; später loggte sie sich in ihr Bankkonto ein. Es stimmte, sie brauchte nicht viel, aber die Miete musste bezahlt werden, und ohne Ermittlungsaufträge vom BKA war ihre Einnahmesituation alles andere als rosig. In die Rostocker Detektei war nach dem Ausscheiden von Florian inzwischen ein anderer Partner eingestiegen. Nicht auszuschließen, dass es hin und wieder dort mal einen Job für sie gab, aber als regelmäßige Einnahmequelle durfte sie das keineswegs betrachten. Ihre Reserven waren beruhigend, aber nicht üppig und würden bald aufgebraucht sein. Vor einigen Jahren, kurz bevor ihr Leben aus allen Fugen geriet, hatte sie mal aus reiner Neugier bei einer Online-Pokerrunde mitgemacht und an einem Wochenende fünfhundert Euro gewonnen. Ein paar Monate später, als sie dem LKA den Rücken gekehrt hatte, saß sie in unregelmäßigen Abständen am virtuellen Pokertisch. Es lenkte ab und beschäftigte ihren unruhigen Geist. Ihr Talent war nicht so groß, dass es zum Problem hätte werden können, aber sie verfügte über ein gewisses Spieltalent und hielt sich stets an ihre Regeln. Sie stieg aus, sobald sie fünfhundert gewonnen oder aber zweihundert verloren hatte. Im Schnitt hatte sie über einige Monate einen ansehnlichen Gewinn erspielt, eine Art Nebeneinkommen, von dem nur ein ehemaliger Kollege in Dresden wusste.

Patrick gehörte nach einer Schussverletzung vor fünf Jahren, die ihm eine steife Schulter beschert hatte, zum Rechercheteam des LKA Sachsen. Er wurde vorzugsweise mit Sonderaufgaben betraut und häufig zu brisanten Ermittlungen mit Nachrichtensperre hinzugezogen, darüber hinaus war er immer zur Stelle, wenn Emma ihn brauchte.

Vielleicht sollte ich mein Talent wieder aufleben lassen, dachte sie, während sie von ihrer Dachwohnung nach unten ins Büro ging und pünktlich die Ladentür aufschloss. Es würde keine Rolle spielen, ob sie den Laden um neun oder um zwölf aufsperrte, die Kundschaft drängelte sich nicht auf dem Bürgersteig, aber das war zweitrangig. Sie brauchte einen geregelten Tagesablauf, gerade jetzt.

Bis zum Mittag klingelte dreimal das Telefon. Eine – der Stimme nach zu urteilen – sehr junge Frau, die ihren Namen nicht nannte, wollte wissen, wie teuer eine vierundzwanzigstündige Beschattung war, ein zweiter Anrufer legte einfach wieder auf, und schließlich meldete sich eine forsche weibliche Stimme. »Ich würde gerne einen Gesprächstermin vereinbaren,...