Provenzalische Schuld - Ein Fall für Pierre Durand

von: Sophie Bonnet

Blanvalet, 2018

ISBN: 9783641221713 , 336 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Provenzalische Schuld - Ein Fall für Pierre Durand


 

1

»Noch etwas compote

Pierre nickte, ohne die Augen zu öffnen. Obwohl in seinem Magen kaum noch Platz für eine einzige dieser lauwarmen, süß zerschmelzenden Früchte war, vermochte er die verlockende Offerte nicht abzulehnen. Beim besten Willen nicht. Wenn Charlotte ihn zu sich einlud, um eines ihrer mehrgängigen Menüs zu zaubern, dann konnte er nicht anders, als seinen Bauch bis zum Äußersten zu strapazieren.

Ja, natürlich, es war unfein. Disziplin und eine gewisse Selbstbeherrschung waren grundlegende Dinge, zu denen man in der Lage sein sollte, wenn man die fließende Grenze zwischen Genießer und Gierschlund nicht überschreiten wollte. Jedes Mal nahm er sich vor innezuhalten, wenn sein Magen ihm das Gefühl von Sättigung vermittelte. Abzulehnen, wenn Charlotte ihm einen Nachschlag anbot. Nur um jedes Mal aufs Neue zu scheitern.

»Gerne!«

Er hätte sich in die Schüssel legen können, in der sie das Kompott aufbewahrte und aus der sie, wie er deutlich hören konnte, nun mit einem Löffel die letzten Reste herauskratzte.

Selig lächelnd fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen, während er den Duft mit bebenden Nasenflügeln einsog.

Endlich hörte er, wie sie die Dessertschale abstellte, öffnete die Augen und betrachtete die gekochten Pflaumen und Pfirsiche, die sich wie eine Haube über die sahnige Joghurtcreme legten. Tauchte den Löffel in das Dessert, wobei er darauf achtete, sämt­liche Zutaten zu erwischen, und schob ihn in den Mund. Genoss die zitronige Note der warmen, weichen Früchte, die in Verbindung mit der Creme und dem Sirup einfach göttlich war.

»Dir scheint es ja richtig zu schmecken!«

Pierre sah auf. Charlotte hatte sich wieder gesetzt und lächelte so breit, dass er sich unwillkürlich fragte, wie lange sie ihn wohl schon beobachtete.

»Und wie!«, entfuhr es ihm. »Du solltest ein Kochbuch schreiben.«

Doch als er das Strahlen sah, das ihr Gesicht schlagartig er­­hellte, ärgerte er sich über die unbedachte Äußerung. Charlotte war eine begeisterungsfähige Person. Was sie viel zu rasch in immer neue Projekte trieb, sodass er inzwischen aufpassen musste, was er sagte. Eine inspirierende Bemerkung, eine funkende Idee – und schon brannte sie lichterloh vor lauter Tatendrang.

So war es bei seinem renovierten Bauernhaus gewesen, das Charlotte mit ungebremster Leidenschaft sehr behaglich, aber gleichzeitig modern eingerichtet hatte. Der Stil hätte jeden Innenarchitekten in Verzückung versetzt. So war es auch bei ihrer Épicerie, die sie nur wenige Wochen nach der Kündigung als Chefköchin eines Luxushotels in einer ehemaligen Weinhandlung eröffnet hatte. Und in der sie neben selbst gemachter Konfitüre und einer Auswahl an regionalen Wurst- und Käsesorten auch urprovenzalische Gerichte à emporter anbot. Täglich frisch, nur mit Unterstützung einer Küchenhilfe.

»Ein Kochbuch? Eine großartige Idee!«, sagte sie mit einer Stimme, die ihn fürchten ließ, dass es für sie kein neuer Gedanke war.

»Nein!«, entgegnete er vehement. »Du hast auch so schon genug zu tun.«

»Findest du?«

»Ja. Wir sehen uns kaum noch. Und wenn, dann stehst du meist in der Küche.«

»Bislang hat es dich nicht gestört.«

Sie verzog den Mund, und Pierre erkannte an der Art, wie sie die Arme verschränkte, dass er sich auf heikles Terrain begab. Aber er hatte nicht vor, eine Diskussion zu beginnen. Nicht an einem so schönen Abend wie diesem.

»Ich liebe dein Essen, ma douce«, sagte er in sanftem Tonfall. »Aber du arbeitest viel zu viel. Ich mache mir langsam Sorgen, dass dein Leben nur noch aus der Épicerie besteht.«

»Und wenn schon. Was ist verkehrt daran, dass mir meine Arbeit Spaß macht?«

»Nichts. Aber es gibt auch noch anderes im Leben.«

»Das da wäre?« Sie beugte sich vor. Erwartungsvoll.

Pierre zögerte. Ihr Blick verriet, welche Antwort sie von ihm erhoffte. Dass es nur einen Punkt gab, der wichtiger war als ihre Berufe: ihre Liebe, die es endlich zu vertiefen galt.

Pierre griff nach der Serviette und tupfte sich über die Stirn, auf der sich Schweißtropfen gebildet hatten. »Ähm … ich habe damit eigentlich gemeint, dass du auch mal an dich denken sollst. Ein wenig mehr Freizeit würde dir guttun.«

»Freizeit?« Charlotte richtete sich wieder auf, die Brauen erhoben. »Und wie soll diese Freizeit deiner Meinung nach aussehen? Soll ich vielleicht mit dir auf dem Bouleplatz abhängen oder in der Bar du Sud

»Nein.« Pierre lachte. Es sollte entwaffnend klingen, doch es war eher ein Husten. »Ich dachte an etwas Entspannendes. Lesen oder Shoppen gehen, was Frauen eben gerne so machen. Du musst dich auch mal erholen.«

»Wenn wir in Urlaub fahren, ist das Erholung genug. Mehr brauche ich nicht. Ich kenne meine Grenzen, Pierre, und ich liebe meine Arbeit, mir geht es gut dabei.«

»Na schön«, gab er sich geschlagen. Es war schließlich ihr Leben. Pierre lehnte sich im Stuhl zurück und dachte an die bevorstehenden Tage. »Unsere erste gemeinsame Reise! Ich freue mich auf die Spaziergänge am Meer, auf die Abende zu zweit.«

»Ja … ich auch.« Charlotte stieß ein Seufzen aus. »Allerdings weiß ich nicht, wie ich bis Freitag alles hinbekommen soll. Es ist noch so viel zu tun.«

»Das schaffst du schon, du wirst sehen. Am Donnerstagabend hängst du das Abwesenheitsschild an die Glasscheibe, sperrst den Laden zu und lässt einfach alles hinter dir. Wir sind ja nicht lange fort, es sind nur sieben Tage.«

Charlotte zögerte, als wolle sie etwas darauf erwidern, dann lächelte sie zaghaft. »Ich tue mein Bestes.«

Pierre schob die Hand vor und strich Charlotte über den Arm. Er wusste, wie schwer es ihr fiel, das Geschäft wegen des Urlaubs zu schließen. Aber Anfang November, so sein Argument, sei ohnehin nicht viel los, da falle es kaum ins Gewicht, wenn sie einmal nicht erreichbar sei. Außerdem könne sie Kraft tanken für die hektische Weihnachtszeit, die sich bereits jetzt in einem prall gefüllten Auftragsbuch ankündigte, in das sie die Vorbestellungen für ihren Catering-Service eintrug.

Eine entspannte Zeit lag vor ihnen, eine Woche nichts als Strand, Sonne und Meer. Sie würden nach Banyuls-sur-Mer fahren. Dorthin, wo Charlottes Mutter aufgewachsen war und wo sie als Kind viele Sommer verbracht hatte.

Dick eingepackt würden sie auf einer der Bänke sitzen, von denen aus man über den kleinen Hafen schauen konnte. Oder in einem der Cafés mit Blick auf den von farbenfrohen Häusern gesäumten Badestrand, über den zu dieser Jahreszeit nur wenige Spaziergänger flanieren würden. Sicher würden sie auch den Jardin Méditerranéen und das Aquarium des Forschungszentrums für Ozeanologie besuchen und nach Perpignan fahren oder nach Cadaqués, wo eine entfernte Cousine von Charlotte lebte. Nur dies, nicht mehr. Alles konnte, nichts musste.

Pierre freute sich so sehr auf die Woche, dass es ihn selbst überraschte. Urlaub hatte für ihn nie die Wichtigkeit gehabt, die andere ihm beimaßen. Warum auch? In Sainte-Valérie hatte er alles, was er brauchte, er fühlte sich wohl, war gerne hier, selbst an seinen freien Tagen.

Es war für ihn der erste Urlaub, seit er aus Paris weggezogen war. Überhaupt der erste seit vielen Jahren. Als junger Kommissar war Pierre einmal in Biarritz gewesen. Mit seiner damaligen Freundin Suzanne, der er einen Verlobungsring hatte anstecken wollen – zumindest bis zu dieser Reise. Den Ring hatte er wieder zum Juwelier gebracht, kaum dass sie zurückgekehrt waren. Aber das war eine andere Zeit. So fern. Fast schon unwirklich.

Suzanne … Er hatte sie fast vergessen. Zum Glück.

»Und über den Urlaub hinaus?«, fragte Charlotte in seine Gedanken. Sie legte den Kopf schräg und lächelte ihn an. Das warme Licht der Kerze übergoss ihre schulterlangen kastanienbraunen Locken mit einem röt­lichen Schimmer. »Vielleicht sollten wir etwas unternehmen, damit wir mehr Zeit füreinander haben. Trotz Arbeit.«

»Was meinst du damit?«

Charlotte reckte das Kinn und sah ihn herausfordernd an. »Nun komm schon, Pierre, du weißt genau, wovon ich spreche.«

Ihm wurde schlagartig warm. Natürlich wusste er, worauf sie anspielte. Obwohl sie anfangs scherzhaft behauptet hatte, sie behalte lieber ihre eigene Wohnung, statt mit einem ewigen Junggesellen zusammenzuziehen, war es genau das, was sie inzwischen herbeisehnte.

»Na ja …«, begann er zögernd, während er die Hand wieder von ihrem Arm nahm. Er überlegte, wie er sich der Situation elegant entziehen könnte, versuchte es schließlich mit einem Scherz. »Deine Idee war eigentlich gar nicht so übel«, sagte er mit jungenhaftem Grinsen.

»Ja?«

»Wir könnten nach der Arbeit gemeinsam in der Bar ver­­sacken. Oder ich bringe dir das Boulespielen bei.«

Charlotte lachte nicht. »Du bist ein Kindskopf!«, presste sie hervor und erhob sich, ging zur Küchenzeile hinüber, wo heftiges Scheppern einsetzte.

Angespannt sah Pierre ihr nach, dann schob er mit un­­willigem Schnalzen die halbvolle Dessertschale von sich. Wie ge­­reizt sie geklungen hatte. Hätte er doch bloß nichts ge­­sagt!

Er widerstand dem Impuls, aufzustehen und Charlottes Wohnung zu verlassen, stattdessen folgte er ihr. Ja, auch er sehnte sich nach mehr Zweisamkeit, wenngleich er sie gerne wohl dosierte. Allein der Gedanke, seine Freiheit aufzugeben und mit Charlotte zusammenzuziehen, schnürte ihm den Hals...