Der Schmetterling - Schweden Krimi

Der Schmetterling - Schweden Krimi

von: Gabriella Ullberg Westin

HarperCollins, 2018

ISBN: 9783959677684 , 416 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 8,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Der Schmetterling - Schweden Krimi


 

24. DEZEMBER

Henna Pedersen zuckte zusammen, als es in ihrer rechten Hand vibrierte. Noch immer hatte sie sich nicht an das Handy gewöhnt, obwohl sie sich wirklich bemüht hatte. Måns hatte es ihr geschenkt, weil er der Ansicht war, dass man ohne Handy nicht leben könne. Doch da sie die vergangenen fünfunddreißig Jahre auch sehr gut ohne so ein Gerät bewältigt hatte, war sie überzeugt, dass er falschlag. Sie strich mit dem Finger über das Display und überflog den Text, der angezeigt wurde.

Hocke in der Stadt auf einem Parkplatz. Manuel hat gerade angerufen. Es geht ihm dreckig, er braucht jemanden zum Reden. Ich kann ihn nicht hängen lassen. Sorry. Der Weihnachtsmann kommt ein bisschen später. Tut mir leid! Kuss!

Heiligabend würde also anders verlaufen, als sie es sich vorgestellt hatte, das war ihr schlagartig klar. In der letzten Zeit hat sich nur weniges so entwickelt, wie sie es gehofft hatte, doch sie hatte sich viel Mühe gegeben, damit wenigstens dieser Tag perfekt wurde.

Es war schon eine Weile her, dass Måns ins Auto gestiegen und nach Hudiksvall gefahren war, und mittlerweile war es draußen stockfinster. Sie schauderte. So sehr sie das norrländische Licht im Sommer liebte, so sehr hasste sie diese Dunkelheit, die sich jetzt wie ein Topfdeckel über sie gelegt hatte.

Sie verspürte einen Stich im Unterleib und krümmte sich. Der Schmerz und die Blutungen ließen sich langsam nicht mehr so einfach verbergen. Sie stützte sich an der Wand ab, als sie ins Badezimmer ging, und dort hielt sie sich mit beiden Händen am Waschbecken fest. Sie sah in den Spiegel und bemerkte die geplatzten Äderchen im Augapfel.

Ich muss durchhalten, dachte sie. Wenigstens heute.

»Mama, Mama! Wir haben keine Lust mehr, Filme zu sehen. Wir wollen jetzt, dass der Weihnachtsmann kommt!«

Die Rufe der Kinder rüttelten sie auf. Sie befeuchtete ihr Gesicht mit Wasser, dann suchte sie ein Haargummi und fasste ihre Haare zu einem strengen Pferdeschwanz zusammen. So schnell sie konnte, ging sie hinüber ins Wohnzimmer. Auf dem Flachbildschirm, der gerade erst an eine der großen kahlen Wände montiert worden war, waren zwei Zeichentrickhunde zu sehen, die an einem Tisch saßen und sich gegenseitig Fleischbällchen mit der Schnauze zurollten. Neben dem Tisch stand ein korpulenter Mann und spielte Geige. Für einen Augenblick ließ sie sich von der Herzlichkeit einnehmen, die von dieser Szene ausging. Sie meinte sich zu erinnern, dass sie den Film schon einmal gesehen hatte, früher, als sie selbst klein gewesen war.

»Ich kann verstehen, dass ihr sehr gespannt seid, aber der Weihnachtsmann braucht noch einen Moment«, erklärte sie und versuchte, ihre Anspannung zu verbergen, während sie sich auf den Rand des Sofas sinken ließ.

»Aber er soll jetzt kommen!«, schrie die Tochter.

Als Henna ihre niedergeschlagenen Gesichter sah, warf sie einen Blick auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde. Mindestens. Sie stand vom Sofa auf, und ihr wurde schwarz vor Augen, sie schwankte. Besorgt drehte sie sich zu den Kindern um, doch deren Blicke hingen wieder wie gebannt am Fernseher. Als sie wieder sicher stehen konnte, ging sie vorsichtig hinüber in die Küche.

Durch das große Fenster sah sie, dass es noch immer schneite. Der Himmel würde kein Erbarmen haben, bevor er die ganze Gegend unter den weißen Massen begraben hatte, dessen war sie sich sicher.

Sie hing ihren Gedanken nach, aber zuckte zusammen, als in der Ferne ein Motorengeräusch zu hören war. Sie hielt die Luft an, um besser lauschen zu können. Das Geräusch kam immer näher. Sie ging in den Flur. Die Fahrzeuge, die man hier noch hörte, waren entweder auf dem Weg zu ihnen oder zum Nachbarhaus, ein paar Hundert Meter weiter vorn in der Straße.

»Jetzt kommt er, jetzt kommt er!«, rief ihr Sohn.

Obwohl er direkt im Bereich der Dolby-Surround-Anlage saß, hatte auch er das Geräusch gehört. Er rannte hinaus in den Flur, dicht gefolgt von der kleinen Schwester. Sie hüpften aufgeregt hin und her, die Handflächen an der großen Glasscheibe zum Innenhof. Doch alles blieb dunkel, die Kinder waren enttäuscht.

»Mama, der Weihnachtsmann fährt doch mit dem Auto, oder?«

Sie strich ihrem Sohn über das kurz geschnittene Haar.

»Ja, wenn die Rentiere es durch den vielen Schnee nicht mehr schaffen vorwärtszukommen, dann steigt er bestimmt in so ein Auto mit großen Rädern um, so eins, wie Papa auch hat.«

»Mama, wo ist Papa eigentlich?«, fragte die Tochter. »Wird er zu Hause sein, bevor der Weihnachtsmann kommt?«

»Schatz, ich hoffe es. Er ist noch einmal einkaufen gefahren und wollte danach gleich zurückkommen.«

Sie standen noch eine Weile da und warteten, doch die Geduld der Kinder war bald erschöpft, und wieder lockte der Fernseher. Auf dem Bildschirm rannte gerade ein schwarz-weißer Stier in eine große Arena hinein. Henna folgte den Kindern zum Sofa.

Ein plötzliches Knirschen ließ sie innehalten. Es klang wie Schritte auf der Treppe zur Eingangstür. Als das Geräusch noch einmal ertönte, war sie ganz sicher, dass da draußen jemand war.

Vielleicht hatte Måns es doch geschafft, früher zu kommen, dachte sie, und da hörte sie auch schon ein energisches Klopfen an der Haustür. Die Kinder kamen an ihre Seite gerannt. Ihre kleinen Hände suchten Halt in ihrer Hand. Sie holte tief Luft, dann gingen sie gemeinsam zur Tür.

Durch das Fenster im Flur war eine rot gekleidete Figur zu sehen, und da überkam sie ein wohliges Gefühl. Endlich war er zu Hause, Heiligabend konnte beginnen.

Sie umfasste die Türklinke und drückte sie nach unten. Mit einer energischen Bewegung öffnete sie, und dann standen sie schweigend da und warteten. Nichts. Kein Geräusch. Vor ihren Augen begann es zu flimmern, und der Schwindel packte sie wieder. Dass Måns das Ganze derart in die Länge zog und sich versteckte, anstatt einfach hereinzukommen, fand sie ärger­lich.

»Willkommen, lieber Weihnachtsmann«, sagte sie und zwang die Mundwinkel nach oben.

Da knarzten Schritte im Schnee vor der Tür, und die rot gekleidete Gestalt erschien im Türrahmen.

»Hallo, hallo. Gibt es hier denn brave Kinder?«

Die Stimme ließ ihre Muskeln im ganzen Körper erstarren, vom Kopf bis zu den Zehenspitzen. Sie sah auf das freundliche Lächeln unter dem weißen Kunsthaarschnurrbart und blickte in die Augenhöhlen der Gesichtsmaske, die einen netten Ausdruck hatte.

»Mama, der Weihnachtsmann hat aber eine tiefe Stimme …«

Das schüchterne Lachen ihrer Tochter drang nur wie von Weitem zu ihr durch. Henna stand regungslos da, wie gelähmt. Kein Zweifel, wem diese Stimme gehörte: Es war die Stimme des Bösen. In Hennas Blickfeld vermengte sich alles zu einem unscharfen Durcheinander, und sie stolperte rückwärts, bis sie gegen die Wand stieß.

Mit einem dumpfen Knall fiel die Tür zu. Henna kämpfte darum, etwas sehen zu können, doch dieser verwaschene Vorhang wurde dichter und dichter. Der Weihnachtsmann machte einen Schritt auf sie zu, und sie presste sich gegen die Wand. Sie konnte nichts tun, ihre Beine gaben nach, und sie fiel zu Boden.

»Mama!«, schrie die Tochter. »Was machst du da, hör auf!«

Sie spürte die Angst in der Stimme ihrer Tochter und wollte aufstehen, aber ihre Beine trugen sie nicht, also begann sie zu kriechen. Der Boden vibrierte unter den schweren Schritten, die ihr folgten. Sie versuchte zu schreien, doch das Einzige, was aus ihrem Mund drang, war ein heiserer Krächzlaut.

Mit letzter Kraft schleppte sie sich ins Badezimmer. Das Ende war schneller gekommen, als sie erwartet hatte.

***

Nach dem Eingang des Notrufs dauerte es noch dreißig Minuten, bis sie vor Ort waren.

»Hier spricht die Polizei. Wir kommen jetzt rein!«

Pelle Alméns Stimme hallte in dem großen Flur wider. ­Einen Moment lang blieb er auf der Türschwelle stehen und ließ seinen Blick schweifen. Versuchte zu begreifen, was ihm bevorstand. Dass so etwas in Hudiksvall passierte, an Heiligabend. Dass so etwas überhaupt geschah.

Der Schnee wirbelte zur Tür herein, und er hörte Maria Nilssons kurze schnelle Atemzüge direkt hinter sich. Er ging voran, und Maria folgte ihm.

»Hallo! Hier spricht die Polizei. Ist jemand hier?«

Keine Antwort. Flimmerndes Licht schlug ihnen entgegen, und das Geräusch von einem laufenden Fernseher war irgendwo drinnen zu hören. Pelle Almén warf einen Blick über die Schulter. Maria Nilsson war ununterbrochen in Kontakt mit der Einsatzzentrale.

Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Der Täter konnte noch vor Ort sein. Es konnte mehrere Tote geben.

Sein Puls raste, in seinen Schläfen pochte es. Als Erster vor Ort. Der einzig verfügbare Geländewagen im ganzen Kreis. Verdammtes Schneewetter. Verdammte Verkehrsunfälle, die die Kollegen abzogen.

Im Flur liefen sie an einer geschlossenen Tür vorbei, die vermutlich zum Badezimmer führte. Blutspuren auf dem Boden, am Türgriff ebenso.

Sie gingen weiter zum Wohnzimmer, ihr Blick fiel aufs Sofa. Alméns Herzschlag beruhigte sich, als er sah, dass Måns Sandin dort saß, beide Kinder fest an sich gedrückt. Der weltberühmte Fußballspieler war kaum wiederzuerkennen. Seine aufrechte Haltung hatte er verloren, die weit aufgerissenen Augen starrten ins Leere, und das dunkle Haar war zerzaust. Eins der Kinder, dem Pferdeschwanz nach zu urteilen seine Tochter, hatte das Gesicht in seinem Pullover vergraben. Ihr Bruder saß da mit den Armen um die angezogenen Beine und wich mit dem Blick nicht vom...