Eisige Flut - Nordsee-Krimi

von: Nina Ohlandt

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2018

ISBN: 9783732549245 , 445 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 10,99 EUR

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Eisige Flut - Nordsee-Krimi


 

Kapitel 1


Sie stand vor dem einsamen Haus, unbeweglich, die Hand an der Klingel. Aus ihrer eisigen Hülle schaute sie blicklos ins Weite, über die leere, dunkle Schneeebene. Sie konnte nicht mehr denken, sie konnte nichts mehr wahrnehmen. Jemand hatte sie, die Besucherin, vor ihrem Elternhaus abgestellt wie eine Puppe, wie ein Exponat im Museum. Gleich würde ihre Mutter kommen und die Zeitung hereinholen.

Elke Derling konnte nicht schlafen in jener Nacht, seit Stunden wälzte sie sich im Bett herum. Obwohl die Heizung im Schlafzimmer lief und das Fenster geschlossen war, fror sie erbärmlich. Irgendwann gegen vier Uhr stand sie leise auf, um Hans nicht zu wecken, und zog sich bibbernd eine Thermostrumpfhose unter ihren Flanellschlafanzug. Obenherum versuchte sie, sich mit einem Rollkragenpullover zu wärmen, und ihre eiskalten Hände steckte sie in ihre wärmsten Handschuhe.

Ein Blick aufs Thermometer verriet ihr, dass es draußen Minus 27 Grad waren – einer der eisigsten Winter, da war sich Elke sicher, seit dem Katastrophenwinter 1978/1979, in dem in Schleswig-Holstein bei Temperaturen bis zu minus 50 Grad unvorstellbare Schneestürme gewütet hatten. Siebzehn Menschen verloren damals ihr Leben.

Auch jetzt lag der Schnee meterhoch, und der eisige Wind fegte heulend wie eine gemarterte Seele ums Haus. Die Küste war nicht weit entfernt. Direkte Nachbarn hatten sie hier nicht, und so war das kleine Backsteinhaus, das allein in der weiten Landschaft stand, der Kälte und dem Sturm schutzlos ausgeliefert.

Elke holte noch zwei Wolldecken aus dem Schrank; mit der einen deckte sie Hans zu, der am Abend mit einer Wollmütze ins Bett gegangen war, die andere legte sie auf ihre Daunendecke. Sie kroch wieder ins Bett in der Hoffnung, doch noch ein bisschen warm zu werden. Sie beneidete Hans, der, egal in welcher Lebenslage, selig schlief, sobald sein Kopf ein Kissen berührte. Oft schon hatte sie gedacht, dass Sorgen und katastrophale Ereignisse ihn einfach nicht so tief berührten wie sie – doch inzwischen hatte sie ihre Meinung geändert. Schlaf war für Hans ein Allheilmittel, das ihm zu einer gewissen Ausgeglichenheit verhalf, zu einer seelischen Stärke, um die sie ihn nur beneiden konnte. Dennoch hatte sie ihn manchmal weinen sehen, vor allem in letzter Zeit, seit dem Verschwinden ihrer Tochter Anja, und das, obwohl er stets bemüht war, sich nichts anmerken zu lassen, ihr immer eine starke Schulter zu bieten. Manchmal hatte sich Elke für ihre Schwäche geschämt.

Auch jetzt musste sie wieder an Anja denken, ihre verschwundene Tochter. Seit vier Wochen, seit der zweiten Januarwoche, gab es kein Lebenszeichen mehr von ihr. Das Schlimme war, dass sie zuerst gar nichts von Anjas Verschwinden mitbekommen hatten, denn sie waren nach langer Zeit noch mal verreist, für zehn Tage nach Mallorca. Elke hatte sich zwar gewundert, dass Anja sich nicht meldete und auch telefonisch nicht erreichbar war. Doch erst, nachdem sie zurückgekehrt waren und sie Anjas leeres Haus und die verdorbenen Lebensmittel im Kühlschrank entdeckt hatten, hatten sie ihre Tochter als vermisst gemeldet. Allerdings ohne Erfolg.

»Wie alt ist Ihre Tochter? Zweiundfünfzig Jahre? Hat sie irgendein Gebrechen? Depressionen? Psychische Störungen? Ist sie schon häufiger verschwunden? Könnte sie selbstmordgefährdet sein? Hat sie Familie, Kinder? Nein? Dann, Frau Derling, können wir Ihnen leider nicht helfen«, hatte der ältere, väterlich wirkende Polizist gesagt und sie mitleidig angeguckt. Danach hatte er sie darüber belehrt, dass es nicht Aufgabe der Polizei war, eine Aufenthaltsermittlung durchzuführen, wenn keine Gefahr für Leib und Leben bestand, da Personen im Vollbesitz ihrer geistigen und körperlichen Kräfte das Recht hatten, ihren Aufenthaltsort frei zu bestimmen.

Der Hinweis, dass ihre Tochter ein sehr zuverlässiger Mensch war, dass sie niemals ihre Arbeit als Sekretärin in der Spedition im Stich lassen würde, ohne sich zu entschuldigen, und noch viel weniger ihr geliebtes Pferd, das sie sich erst kürzlich angeschafft hatte, hatten lange Zeit kein Gehör gefunden. Immerhin hatte man Anjas kleines Häuschen nach Spuren eines Unfalls oder einer Gewalttat durchsucht, aber nichts gefunden. Was Elke und Hans zusätzlich beunruhigte, war, dass keine Kleidung fehlte. Es gab auch keinen Brief oder einen anderen Hinweis, wo Anja hingegangen sein könnte.

Seit einigen Tagen nun ermittelte die Polizei von Niebüll tatsächlich. Inzwischen wusste man, dass seit vier Wochen kein Geld mehr vom Konto abgehoben worden war, auch Anjas Kreditkarten waren nicht belastet worden. Es gab buchstäblich kein Lebenszeichen von ihr; auch nicht im Internet, denn Anja war, was das anbelangte, ziemlich altmodisch gewesen: Sie kaufte weder online ein, noch kommunizierte sie in irgendwelchen Netzwerken. Ihr Pferd, das sie üblicherweise bis zu fünfmal pro Woche besuchte, hatte sie bei einem Bauern untergestellt, doch auch der hatte von Anja seit Wochen nichts mehr gesehen oder gehört. Genauso wenig wie ihre Freunde.

Elke fror noch immer im Bett, vielleicht auch deshalb, weil ihre Gedanken, wie so oft, um ihre Tochter kreisten und keinen Augenblick zur Ruhe kamen. War sie entführt worden? Hatte sie es warm, dort, wo sie war, bekam sie zu essen? Unter Tränen schlief Elke schließlich ein, allerdings nicht für lange. Gegen sechs Uhr stand sie auf und ging in die Küche, um Kaffee zu kochen. Weil sie auch nach dem Anziehen noch immer fror, machte sie sich eine Hühnersuppe aus der Dose. Mit einem heißen Pott Kaffee, an dem sie sich die Hände wärmte, und dem dampfenden Teller Suppe, auf die sie plötzlich gar keinen Appetit mehr hatte, saß sie am Tisch und starrte aus dem Fenster in die schwach schimmernde Schneelandschaft, so gut sie durch die zahlreichen Eisblumen überhaupt etwas sehen konnte.

Irgendwann stand sie auf, um für Hans die Zeitung reinzuholen. Sie selbst interessierte sich nicht mehr für lokale oder internationale Neuigkeiten, seit Anja verschollen war, aber für Hans war die Zeitung wichtig. Ohne sie hätte er mit sich selbst nichts anfangen können.

Sie schlüpfte in ihren dicken Wintermantel und setzte gegen den eisigen Wind ihre fellgefütterte Kosakenmütze auf den Kopf. Vor Jahren, als die Umwelt für Elke noch eine Rolle spielte, las sie von einer Frau, die an einem Wintermorgen, nur mit Schlafanzug, Pantoffeln und Morgenrock bekleidet – war ja nur ein kurzer Weg –, die Zeitung aus dem Briefkasten am Gartenzaun holen wollte. Sie rutschte auf dem vereisten Boden aus und erfror innerhalb kürzester Zeit, weil niemand sie zu dieser frühen Stunde gesehen hatte.

Eigentlich, dachte Elke, während sie sich ihre Gummistiefel anzog, könnte es ihr ja egal sein. Aber diese Gedanken waren unrecht. Sie durfte Anja nicht aufgeben, und auch Hans brauchte sie; sie konnte ihn nicht allein lassen in dieser gnadenlosen Welt.

Sie streifte vorsichtshalber noch ein paar Spikes über die Schuhe, holte den Eimer mit dem Granulat, schaltete das Außenlicht an. Dann öffnete sie die Tür.

Und prallte entsetzt zurück.

In dieser einsamen Gegend war sie nicht allein. Draußen auf dem Treppenabsatz, dicht vor ihr, stand Anja.

Elke blinzelte, ihr Blick saugte sich an ihrer Tochter fest; sie konnte nicht fassen, was sie sah.

Ihr wurde heiß; in ihren Ohren rauschte es, ihr Kopf schien zu bersten. Sie wollte schreien, doch sie brachte nur ein heiseres Wimmern hervor, ehe ihr schwarz vor Augen wurde und sie zusammenbrach.

In dem winzigen Ort Süderlügum, mitten in der nordfriesischen Marsch nahe der dänischen Grenze, war an diesem frühen Samstagmorgen der Teufel los. Zwei Streifenwagen standen mit blinkendem Blaulicht vor dem kleinen Backsteinhaus, zwei Notarztwagen fuhren gerade ab, um das ältere Ehepaar nach Niebüll ins Klinikum Nordfriesland zu bringen. Die Frau hatte einen schweren Schock erlitten, der Ehemann aller Wahrscheinlichkeit nach einen Herzinfarkt, als er begriffen hatte, wer da vor seiner Tür stand.

Auch der Polizeifotograf, die beiden Kriminaltechniker und der Rechtsmediziner, die genau in dieser Reihenfolge aus Flensburg und Kiel eingetroffen waren, wollten ihren Augen nicht trauen. Und Claudia Matthis, die Leiterin der Spurensicherung, konnte sich nicht erinnern, so etwas jemals gesehen zu haben.

»Wir sollten unbedingt auf die Kripo warten, ehe wir anfangen«, sagte Stefano Rossi, ihr junger Kollege mit italienischen Wurzeln, und trat wegen der Kälte von einem Fuß auf den anderen. »Ich glaube, Benthien wird uns den Kopf abreißen, wenn er nicht mehr den Originalschauplatz vorfindet.« Er war gerade dabei, die forensischen Tatortleuchten aufzustellen – UV-Lampen sowie diverse Handlampen.

»Es kann auch nicht schaden, abzuwarten, bis es heller geworden ist«, ergänzte Bruno, der langbärtige Fotograf, und blies seinen warmen Atem in die Hände.

»Okay, wir warten auf die Kripo. Aber im Haus, da ist es wenigstens warm«, stimmte Claudia Matthis, eine taffe Vierzigerin, zu, nachdem alles ausgepackt worden war. Um keine etwaigen Spuren zu verwischen, hatten sie Decken abseits des Zugangsweges auf den Schnee gelegt, auf denen sie sich nun zum Haus bewegten.

Wenig später saßen sie in der Küche um den Tisch beisammen – Claudia und Stefano von der Spurensicherung, Bruno, der Fotograf, und Dr. Radtke, der Gerichtsmediziner – und tranken den Kaffee, den Elke Derling vor einer Stunde zubereitet hatte. Stefano, der eigentlich immer essen konnte, freute sich über die lauwarme Hühnersuppe, zumal er noch nicht gefrühstückt hatte.

»Schade«, sagte er kauend, »dass die Derlings im Krankenhaus sind. Wir hätten ein paar Auskünfte gut...