Die Tänzerin - Roman

von: Alli Sinclair

Aufbau Verlag, 2017

ISBN: 9783841213846 , 464 Seiten

2. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 8,99 EUR

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Die Tänzerin - Roman


 

Charlotte hielt den Stoffbeutel, in dem sie das Bild ihrer Großmutter sicher verstaut hatte, fest umschlossen und lief über den Campus der Escuela de Bellas Artes. Ihr Herz klopfte, während sie geschickt den Studenten auswich, die auf den Grünflächen in der Sonne lagen, lasen oder in Gespräche vertieft waren. Gerne hätte sie für einen Moment innegehalten, um das intensive Blau des Himmels, die hell blühenden Gardenien und die Sonne zu genießen, die ihre Haut wärmte. Aber sie hatte keine Zeit zu verlieren.

Sie hastete die Eingangstreppe hinauf und öffnete die Jugendstiltür des Hauptportals. Die kleinen Fenster der Eingangshalle ließen nur wenig Sonnenlicht herein, so dass das Foyer und der angrenzende Flur in trübe Dunkelheit getaucht waren. Charlotte blinzelte und versuchte im Gehen die Namensschilder an den Türen zu entziffern.

Dann atmete sie auf. Hier war es. Vorsichtig klopfte sie an die Bürotür.

Keine Antwort.

Sie klopfte erneut und wollte sich schon damit abfinden, vor Professor Fonsecas Tür warten zu müssen, als sie Absätze auf den Holzdielen des langen Ganges klappern hörte. Eine zierliche Frau in Hosenanzug und mit akkurat geschnittener Bobfrisur kam ihr entgegen.

»Entschuldigen Sie, sind Sie Professor Fonseca?«, fragte Charlotte und strich nervös ihre Hose glatt.

»Sί«, antwortete die Frau, während sie die Tür aufschloss. Dann drehte sie sich um, runzelte die Stirn und blickte über den Rand ihrer schwarzgerahmten Brille. »Um sich zu meinen Kursen anzumelden, müssen Sie sich an die Abteilung für die Zulassung ausländischer Studenten wenden. Ich kann Ihnen nicht helfen.«

»Oh, deshalb bin ich nicht hier.« Charlotte öffnete den Knoten des Stoffbeutels und wollte gerade das Bild herausnehmen, als die Professorin sie mit einer ungeduldigen Handbewegung unterbrach. »Bemühen Sie sich nicht. ¡Por Dios! Estoy cansada de esto.«

Charlotte atmete tief ein und nahm allen Mut zusammen. »Es tut mir leid, dass sich so viele Studenten unangemeldet an Sie wenden, aber bei mir ist es etwas anderes …«

»Das behauptet jeder. Egal was es ist, ich habe jetzt keine Zeit. In einer halben Stunde habe ich eine Vorlesung, und den Rest der Woche bin ich beschäftigt. Kommen Sie nächsten Mittwoch wieder. Elf Uhr.«

»Bitte.« Charlotte hätte die Professorin am liebsten am Arm festgehalten. »Meine abuela hatte einen schweren Herzinfarkt – sie ist neunzig, und es geht ihr sehr schlecht. Sie hat mich hergeschickt, damit ich herausfinde, wer der Künstler dieses Gemäldes ist. Es ist nicht signiert, alles, was sie darüber weiß, ist, dass es von einem Maler aus Granada stammt.«

Professor Fonseca musterte sie mit verschränkten Armen. »Abuela? Sprechen Sie also doch Spanisch?«

»Ich verstehe es besser als ich es spreche.« Der Unterricht in der Schule war Charlottes einzige Möglichkeit gewesen, Spanisch zu lernen. Ihre Großmutter hatte sich geweigert, ihr die Sprache ihrer Vorfahren beizubringen, und einzig und allein darauf bestanden, dass man sie abuela nannte. Einer der vielen Widersprüche, an denen ihre Großmutter ohne weitere Erklärung festhielt.

Die Professorin zuckte die Achseln. »Also sprechen wir weiter Englisch, auch wenn es mir in den Ohren weh tut.«

»Danke, ich weiß das zu schätzen.« Charlotte unterdrückte ein erleichtertes Seufzen. »Mein Urgroßvater hat meiner abuela ein Gemälde geschenkt und versprochen, ihr an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag zu erzählen, was es damit auf sich hat. Leider starb er, ohne die Möglichkeit dazu gehabt zu haben.«

»Und warum hat sie bis jetzt gewartet, um etwas über das Gemälde zu erfahren?«

»Meine Großmutter wurde in Granada geboren, zog aber mit Anfang zwanzig nach England. Wann genau, weiß ich nicht.« Abuela war immer darum bemüht gewesen, möglichst wenig über ihre Vergangenheit in Spanien preiszugeben. Erst in letzter Zeit hatte sie ein wenig von ihrer Kindheit und Jugend erzählt und sogar mit einer gewissen Zuneigung über ihr Geburtsland gesprochen. »Abuelas einziges Erbe aus Spanien ist dieses Gemälde. Wegen ihres schlechten Gesundheitszustands hat sie sich dazu entschlossen, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das Einzige, was ihr noch wirklich am Herzen liegt, ist, etwas über die Herkunft des Bildes zu erfahren. Sie vermutet, dass es etwas mit ihrer Familiengeschichte zu tun hat.«

»Nun, wenn das Gemälde nicht signiert ist, dann sicher deswegen, weil der Künstler ein Niemand war.«

»Ich weiß, dass es viel verlangt ist, aber ich habe eine weite Reise hinter mir. Vielleicht können Sie sich doch einen Moment Zeit nehmen und einen Blick darauf werfen? Bitte.«

Professor Fonseca zuckte mit den Achseln. »Kommen Sie nächsten Mittwoch wieder.«

»Bitte, ich …« Charlotte machte einen Schritt nach vorne und griff in den Stoffbeutel.

»Nächsten Mittwoch«, hallte die barsche Stimme der Professorin im Flur wider.

»Aber …« Charlotte zog das Bild aus dem Stoffbeutel, ihre Handtasche rutschte von der Schulter und hätte beinah die in einen einfachen Holzrahmen gespannte Leinwand mit zu Boden gerissen. Als sie aufblickte, sah sie, dass Señora Fonseca das Gemälde anstarrte.

»Zeigen Sie.« Die Stimme der Professorin bebte.

Charlotte reichte ihr das Bild.

Im selben Moment wurde die Tür am Ende des Korridors aufgerissen, und eine Gruppe lachender und schwatzender Studenten kam auf sie zu.

»Kommen Sie, in meinem Büro haben wir mehr Ruhe.«

»Gracias.« Charlotte folgte der zierlichen Frau in ein mit dunklem Holz getäfeltes Zimmer. Hier drinnen schien es um zehn Grad kühler zu sein, und es roch so muffig, als wären die Fenster seit Ewigkeiten nicht mehr geöffnet worden. Ein breiter Schreibtisch voller vergilbter Aktenordner und Fotos nahm fast den ganzen Raum ein.

Professor Fonseca setzte sich hinter den Tisch, knipste eine Leselampe an und begann das Gemälde Zentimeter für Zentimeter zu untersuchen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der Charlotte unruhig neben dem Tisch gestanden hatte, schob die Professorin ihre Brille ins Haar und sagte dann leise: »Syeria Mesa Flores Giménez.«

»Wie bitte?«

»Syeria Mesa Flores Giménez. Dieses Gemälde ist annähernd hundert Jahre alt. Sehen Sie sich das an.« Sie zeigte auf die dicken Pinselstriche, mit denen die orange-, rot- und goldfarbenen Flammen gemalt waren. »Sehen Sie, wie sich die Farben nach oben reliefartig verdicken, anstatt flach auf der Leinwand zu liegen? Das war ihre Signatur.« Sie strich mit einem Finger über die linke untere Ecke der Leinwand. »Dieser kleine Riss, was hat er für eine Geschichte?«

»Ich weiß es nicht. Das Gemälde lag Jahrzehnte in einem Koffer unter einem Stapel Decken vergraben. Meine Großmutter hat mich erst vor ein paar Tagen gebeten, es herauszuholen.«

»Es war nirgends aufgehängt?«, fragte Professor Fonseca mit großen Augen. »Ein Gemälde von solch historischem Wert sollte niemals unter Verschluss gehalten werden.«

»Für abuela zählt vor allem sein emotionaler Wert.« Charlotte spürte einen Kloß im Hals, als sie an das letzte Mal dachte, als sie ihre Großmutter gesehen hatte. Der Trubel des Krankenhausbetriebs war in weite Ferne gerückt, während sie auf ihrer Bettkante saß, sie sich schweigend an den Händen hielten und die Zuneigung, die sie füreinander empfanden, das kühle, sterile Zimmer wärmte.

»Wissen Sie, warum es nicht signiert wurde?«

»Syeria hat keines ihrer Gemälde signiert. Viele Leute glauben, dass sie im Besitz einer echten Syeria Mesa Flores Giménez seien, aber die meisten Bilder sind Fälschungen. Das hier«, sagte die Professorin und lächelte anerkennend, »das ist jedoch eine echte. Ich würde meine Karriere dafür verwetten.«

»Haben Sie irgendeine Idee, wer die Tänzerin sein könnte?«

»Nein, aber ich würde sagen, dass die Darstellung in Zusammenhang mit der Leyenda del Fuego steht, der Feuerlegende. Sagt Ihnen das was?«

»Ich fürchte, mein Wissen über spanische Legenden ist nicht allzu groß.«

»Es ist eine Schande, dass Sie so wenig über Ihr Erbe wissen, doch in diesem Fall sei Ihnen das verziehen. Die Legende ist ein wenig düster und vor allem in der Gegend von Granada und in den Kreisen der gitanos bekannt. Sehen Sie?« Die Professorin zeigte auf die Tänzerin, die ein tiefrotes Kleid trug und deren dichtes dunkles Haar über ihren Rücken herabfiel. Ihre Arme waren nach oben geworfen und schienen nach dem Himmel zu greifen, während sie in einem hohen Bogen über ein Feuer sprang.

»Das Gemälde ist sehr besonders gemacht. Die Farbschattierungen sind … einfach erstaunlich, so lebendig«, sagte Charlotte leise.

»Sie haben ein gutes Auge.« – »Danke.« Charlotte räusperte sich. Das Thema war ihr unangenehm. »Können Sie mir noch mehr über die Künstlerin sagen?«

»Zuerst müssen Sie ein paar wichtige Dinge wissen.« Die Professorin schaute auf ihre altmodische Armbanduhr und runzelte die Stirn. »Ich muss mich beeilen, sonst lasse ich meine Studenten warten.«

»Es tut mir leid, dass ich einfach so ohne Termin hereingeplatzt bin.«

»Das ist schon in Ordnung. Schließlich komme ich nicht jeden Tag in den Genuss, ein solches...