Hexentage - Historischer Roman

von: Michael Wilcke

Aufbau Verlag, 2011

ISBN: 9783841202482 , 320 Seiten

Format: ePUB, OL

Kopierschutz: DRM

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Preis: 8,99 EUR

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Hexentage - Historischer Roman


 

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Kapitel 1


Der hübsche blonde Junge mit den verweinten Augen mochte nicht älter als drei oder vier Jahre sein. Seine Mutter hatte ihn in die Apotheke gebracht, weil er seit Stunden ununterbrochen geweint und über stechende Schmerzen in seinem Bauch geklagt hatte. Anna, die Frau des Apothekers, tastete vorsichtig seinen Leib ab. Stets, wenn ihre Finger in die Nähe seines Magens drückten, verzerrte das Kind sein Gesicht und stieß wimmernde Klagelaute aus, die an das Jaulen einer Katze erinnerten.

Anna strich dem Jungen tröstend über das Haar und wandte sich zu seiner Mutter um. Wenngleich diese vor allem um ihren Sohn besorgt war, wanderten ihre Blicke dennoch neugierig über das Inventar der Offizin, der Werkstatt dieser Apotheke, die auch als Laboratorium genutzt wurde. Vor allem die zahlreichen mit farbigen Wappen und Etiketten geschmückten Gefäße aus Ton, Glas oder Metall, die säuberlich in den Regalen und Schränken aufgereiht waren, zogen ihre Aufmerksamkeit auf sich. In diesen Töpfen befanden sich Arzneien und Heilmittel, die aus pulverisierten Früchten, Rinden und Wurzeln gewonnen wurden. Auch Minerale wie Arsenik, Schwefel und Quecksilber fanden hier ihren Platz.

Die Nasenflügel der Mutter bewegten sich unmerklich und erschnupperten wohl die ungewohnten Gerüche von Süßholz, Kampfer, Baldrian und all dem Unbekannten mit heilbringender Wirkung. Der mannshohe Bronzemörser mit seiner Stoß- und Stampfeinrichtung sowie die beiden brodelnden und zischenden Destillationsapparaturen trugen zusammen mit den eigenwilligen Düften dazu bei, dieser Umgebung eine geheimnisvolle Atmosphäre zu verleihen.

»So sprecht doch, was ist mit ihm?« flehte die Mutter, die ihre Aufmerksamkeit nun wieder ganz auf ihren Sohn lenkte.

Anna bat mit einem Fingerzeig um Geduld, klappte einen abgewetzten Ledereinband auf und blätterte die Seiten durch, bis sie auf die Abbildung stieß, nach der sie gesucht hatte. Sie drehte die Zeichnung der Pflanze in Richtung des Jungen, so daß er sie sehen konnte.

»Kennst du diese Pflanze?« fragte Anna.

Der Junge starrte einen Moment lang grübelnd auf die Zeichnung und nickte verhalten.

»Hast du davon gegessen?«

Wieder ein Nicken.

Annas Vermutung wurde bestätigt. Wie sie es geahnt hatte, wurde das Kind von einer Vergiftung geplagt. Gewiß unangenehm für den Jungen, aber es gab weitaus schlimmere Krankheiten, die ähnliche Symptome aufwiesen. Oft genug kam es vor, daß Anna bei Menschen, die über schier unerträgliche Schmerzen an der rechten Seite klagten, eine Verhärtung ertastete, die darauf hinwies, daß sich an dieser Stelle das Gedärm entzündet hatte. In einem solchen Fall blieb ihr nichts weiter übrig, als diese Männer und Frauen an einen Chirurgen weiterzuempfehlen, wohlwissend, daß ein Patient diese Krankheit nur selten überlebte.

»Was fehlt ihm?« verlangte die verzweifelte Mutter zu wissen.

»Euer Sohn hat vom Ackersenf gegessen. Dieses Kraut schwächt den Körper eines Menschen und verursacht Schmerzen in seinem Magen.«

»Wird er sterben?«

Anna schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht. Es war richtig, daß Ihr Euch sofort an mich gewandt habt.« Sie musterte den Jungen und sorgte sich trotz ihrer aufmunternden Worte um ihn. Einen gesunden und kräftigen Menschen konnte der Ackersenf kaum schädigen, doch dieses Kind war mager und geschwächt, seine Arme und Beine waren nicht viel dicker als die Äste eines jungen Baumes. Sie erinnerte sich daran, daß der Name der Mutter Mareke Wessels war und daß sie zu den ärmsten Bürgern der Stadt zählte. Ihr Ehemann, der Scherenschleifer Rudolf, war vor einem halben Jahr auf dem Weg in die benachbarte Ortschaft Bramsche von Wegelagerern überfallen und erschlagen worden. Mareke Wessels und ihr Sohn lebten seither in einer armseligen Behausung und ernährten sich von den Erzeugnissen ihres kargen Gartens sowie den Almosen, die sie erbetteln konnten. Wahrscheinlich gab es an vielen Tagen nicht einmal ein Stück Brot für sie, um ihren Hunger zu stillen. Wen mochte es da verwundern, daß dieses Kind über die Äcker streifte und sich von Unkraut ernährte?

»Ich werde eine Medizin aus Balsamkraut zubereiten, die Eurem Sohn das Gift aus dem Körper treibt und ihn kräftigt.«

Anna wollte sich dem Arzneischrank zuwenden, doch Mareke Wessels hielt sie zurück, indem sie eine Hand auf ihren Arm legte. »Bitte wartet, Frau Ameldung.« Ihr ausgezehrtes Gesicht, das die vielleicht dreißigjährige Frau älter aussehen ließ als Anna, die bereits die vierzig überschritten hatte, war von Resignation gezeichnet. »Ihr wißt, daß ich Eure Dienste nicht bezahlen kann.«

Anna starrte sie verwundert an. Traute diese Frau ihr tatsächlich zu, daß sie ihrem Kind die Medizin, die nur wenige Groschen wert war, verweigern würde? Im nächsten Moment mußte sie sich eingestehen, daß diese Reaktion keineswegs ungewöhnlich war. Es gab viele, zu viele Ärzte und Kurpfuscher in der Stadt, denen das Honorar heiliger war als das Wohl der Patienten.

»Laßt das Eure geringste Sorge sein«, raunte Anna und machte sich daran, die Arznei herzustellen. Sie zerstieß Balsam, Raute und Betonienkraut in einem kleinen Mörser, drückte den Saft aus und vermischte ihn mit der doppelten Menge eines Abführmittels. Diese Medizin füllte sie in ein Glasfläschchen, verkorkte es und drückte es der Mutter in die Hand.

»Sorgt dafür, daß Euer Sohn dies an einem warmen Ort trinkt. Entweder wird er dann das Gift erbrechen, oder es wird ihm durch das Hinterteil hindurchgehen.« Anna zögerte, dann griff sie in die Tasche ihrer Schürze und förderte eine schimmernde Kupfermünze zutage. Für sie war es kein großes Opfer, doch dieser Frau und ihrem Sohn konnte ihre Mildtätigkeit für einige Tage das Leben erleichtern. »Nehmt es«, sagte sie und schob Mareke Wessels die Münze zu. »Kauft Eurem Sohn davon gute Milch und vielleicht auch Brot und Käse, damit er etwas Nahrhaftes zu Essen bekommt und schnell wieder Kraft schöpft.«

Mareke Wessels preßte das Fläschchen und die Münze an ihren Busen und schenkte Anna ein dankbares Lächeln.

»Ihr seid ein guter Mensch, Frau Ameldung. Das werde ich Euch nie vergessen. Wenn Ihr es wünscht, mache ich mich in Eurem Haushalt nützlich. Ich könnte Holz für Euch sammeln, Euch bei der Wäsche behilflich sein oder Euren Garten pflegen.«

»Pflegt zunächst Euer Kind«, erwiderte Anna. »Es braucht Eure Hilfe dringender als ich.«

»Ich stehe tief in Eurer Schuld. Ihr seid fürwahr ein barmherziger Engel. Den bösen Gerüchten, die über Euch verbreitet werden, habe ich ohnehin niemals Glauben geschenkt.«

Anna quittierte diese letzte Bemerkung mit einem wohlwollenden Nicken. Natürlich wußte sie um diese Gerüchte. Manchmal wunderte es sie, daß überhaupt noch so viele Menschen zu ihr kamen, um ihre Hilfe zu erbitten.

»Da ist noch etwas, was ich Eurem Sohn mit auf den Weg geben möchte«, sagte Anna und lief rasch in den Hinterhof, wo sie neben dem Kräutergarten auch ein Blumenbeet angelegt hatte. Sie pflückte die Blüte einer weißen Lilie und reichte sie dem Jungen, der die Blume zweifelnd betrachtete.

»Es wird sicher noch ein paar Tage in deinem Bauch kneifen, aber diese Blüte wird die Schmerzen in sich aufnehmen«, erklärte ihm Anna. »Du kannst es beobachten. Sie welkt im gleichen Maße dahin, wie du erblühen wirst.«

Es war ein durchschaubarer Trick, da die Blüte ohnehin vertrocknen würde, aber der Junge nahm die Lilie, betrachtete sie interessiert, und Anna war überzeugt, daß diese kleine Geschichte ihre Wirkung zeigen würde – so wie sie schon viele andere Kinder in seinem Alter über den Schmerz hinweggetröstet hatte.

Mareke Wessels hob ihren Sohn auf dem Arm. Er klammerte sich um ihren Hals und weinte sich weiter an ihrer Schulter aus. Anna begleitete sie aus der Offizin in den der Straße zugewandten Verkaufsraum, der von dem breiten Rezepturtisch dominiert wurde, an dessen kunstgeschmiedeten Aufsätzen die kleinen Handwaagen hingen, die der Apotheker zur Rezeptur benutzte. Ihr Ehemann Heinrich Ameldung stand gebeugt über einem Lesepult, blätterte im Antidotarium und warf über die Augengläser hinweg seiner Frau wenig freundliche Blicke zu.

»Gott möge Euch schützen«, sagte Mareke Wessels und drückte zum Abschied Annas Hand.

»Euch ebenso«, erwiderte Anna und schaute Mutter und Sohn nach, wie sie ihren Heimweg über den nur wenig belebten Marktplatz der Stadt Osnabrück antraten, der von der in der Blütezeit des gotischen Stils erbauten Marienkirche sowie dem prächtigen Rathaus eingerahmt wurde. Vor wenigen Jahren noch hatten sich zahlreiche Händler und Gewerbetreibende auf diesem Platz getummelt, doch nachdem der Krieg eine große Anzahl unberechenbarer Söldner in die Stadt gebracht hatte, hatte sich das Handwerk in die sicheren heimischen Werkstätten zurückgezogen und von dort aus den Verkauf betrieben. Selbst an diesem sonnigen ersten Augusttag des Jahres 1636 wagte sich kein einziger Händler auf den weitläufigen Platz.

Anna erkannte auf der Rathaustreppe eine hochaufgeschossene Gestalt. Es handelte sich um den Ratsherren Jobst Voß, der offensichtlich nach jemandem Ausschau hielt. Er stierte in Richtung der Straße, die zum Dom führte, dann zuckte sein Gesicht plötzlich zur Seite, und er fixierte Anna mit tiefliegenden, arglistigen Augen.

Für einen Moment glaubte Anna den Anflug eines hämischen Grinsens auf seinem Gesicht zu erkennen, doch im nächsten Augenblick drehte Voß sich auch schon wieder ab und stapfte in das Rathaus. Von Jobst Voß konnte Anna...