Wovon sie träumten - Roman

von: Fiona Davis

Goldmann, 2017

ISBN: 9783641198930 , 448 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 8,99 EUR

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Wovon sie träumten - Roman


 

Kapitel 1

New York City, 2016

Sie hatte die Zwiebeln vergessen.

Nach all den Vorbereitungen und Listen, und nachdem sie sogar extra früh aus der Arbeit gegangen war, um rasch noch alles einzukaufen, was sie für dieses besondere Abendessen brauchte, hatte Rose diese wichtige Risotto-Zutat vergessen. Sie sah in der Speisekammer nach, aber der Korb war leer, abgesehen von ein paar pergamentenen Zwiebelschalen.

Zu Beginn ihrer Beziehung hatte Griff einmal begeistert ihr Risotto gelobt, und sie erinnerte sich, wie stolz sie ihm die ungewöhnlicheren Zutaten aufgezählt hatte.

»Das eigentliche Geheimnis ist die Kokosmilch«, verriet sie ihm.

»Warum Kokosmilch?« Er lehnte sich auf dem wackeligen Stuhl zurück, den sie in einem Secondhandladen auf der Bleeker Street gekauft hatte. Griffs Arme und Beine waren viel zu lang und ungelenk für ihr kleines Studio-Apartment.

»Ich finde, dass sie dem Risotto eine besonders cremige Konsistenz verleiht.« Sie sagte das ganz nebenbei, während sie die Teller einsammelte, als würde ihr das Kochen leichtfallen wie so vieles andere auch, obwohl es sich für sie anfühlte wie ein panischer Wettlauf auf die Ziellinie zu. »Zu dem Reis und den Gewürzen füge ich peu à peu Hühnerfond und Kokosmilch hinzu, bis alle Aromen miteinander verschmelzen.«

»Es gefällt mir, wie du das sagst. Verschmelzen. Sag das noch mal.«

Das tat sie, so wie sie es vor der Kamera sagen würde, ihre Stimme leicht tiefer als sonst, klarer und sicherer.

Dann hob er sie hoch und trug sie auf ihr Bett mit dem hübschen Überwurf, um sie dort zu lieben. Sie unterdrückte den Impuls, die handgefertigte Decke zur Seite zu schieben, damit sie sie nicht morgen in die chemische Reinigung bringen musste, und gab sich stattdessen seinem überwältigenden Körper hin, nur Muskeln und Sehnen, athletisch auch noch mit fünfundvierzig.

Rose vermisste die Leichtigkeit und das Feuer ihrer gemeinsamen Zeit damals, als die wütende Exfrau und die mürrischen Kinder noch nicht ihren Kokon der Glückseligkeit durchlöchert hatten. Als sie noch nicht ihr Apartment aufgegeben und mit Griff in seine Eigentumswohnung im Barbizon an der Upper East Side gezogen war.

Natürlich würden seine Exfrau und die Kinder ihre Ansicht nicht teilen. Für sie war sie der Eindringling, der Griffs Aufmerksamkeit und Liebe beanspruchte. Rose sah auf die Ofenuhr. Kurz vor sechs. Wenn sie sich beeilte, konnte sie noch zum Laden laufen und weiße Zwiebeln kaufen, bevor Griff vom Rathaus heimkehrte.

Ihr Handy klingelte. Schon wieder Maddy. Der vierte Anruf in einer Stunde.

»Was ist, Maddy?« Sie versuchte, genervt zu klingen, musste aber sofort loslachen.

»Ich weiß, ich weiß. Du hast gerade so gar keine Zeit, mit deiner besten Freundin zu telefonieren. Du bist viel zu sehr damit beschäftigt, die pflichtbewusste Hausfrau zu spielen, stimmt’s?«

»Jep. Und du gehst gleich zu den Soapies?«

»Daytime Emmys, bitte. Ich wünschte, du würdest mitkommen, Ro. Welche Schuhe passen zu dem Michael-Kors-Kleid? Nude oder golden?« Seit ihrer gemeinsamen Zeit im College hatte Maddys Schauspielkarriere gewaltig an Fahrt aufgenommen. Sie hatte direkt nach dem Abschluss eine feste Rolle in einer Daily Soap ergattert, und das hier war ihre erste Nominierung.

Rose schob die Gewissensbisse beiseite, weil sie ihre Freundin nicht begleitete. »Definitiv nude. Schick mir ein Foto, okay?«

»Hast du schon eine Ahnung, was Griffs große Neuigkeit sein könnte?«

Rose lehnte sich lächelnd gegen den Küchentresen. »Vermutlich ist es gar keine große Sache«, log sie. »Vielleicht ist er erneut befördert worden? Griff ist so ein Streber.«

»Quatsch. Man muss doch nur eins und eins zusammenzählen: Es ist jetzt ein Jahr her, dass seine Scheidung durch ist, ihr lebt seit drei Monaten zusammen, und so langsam könntet ihr euch mal einen Termin überlegen.«

»Er hat sich in letzter Zeit tatsächlich etwas merkwürdig benommen. Aber was, wenn ich voreilige Schlüsse ziehe?«

»Vertrau auf dein Bauchgefühl.«

»Mein Bauchgefühl sagt, dass da was im Busch ist. Auch wenn es sich manchmal anfühlt, als stünden wir noch ganz am Anfang. Ich meine, wir haben die Wohnung noch nicht mal fertig eingerichtet.«

Diese Wohnung, die sie zugleich liebte und hasste. Sie liebte sie wegen der großen Flügelfenster, des Wolf-Gasherds und der geräumigen Wandschränke. Wegen der Verheißung, die den stuckverzierten Wänden und den Parkettböden aus dunklem Palisander innewohnte.

Aber sie hasste sie auch für ihre Leere. Rose und Griff arbeiteten unter der Woche beide zu viel, um mit der Einrichtung wesentlich voranzukommen, und die Wochenenden verbrachte Griff bei seinen Kindern in seinem Haus in Litchfield, während seine Frau mit ihren anderen geschiedenen Freundinnen um die Häuser zog. Seine Exfrau, korrigierte sie sich.

Es war noch so viel zu tun, um es hier wohnlich zu gestalten. Die Tapete im kleinsten Zimmer war mit kletternden Äffchen gemustert. Wunderbar geeignet für ein Baby, aber absolut nicht das Richtige für Griffs Teenager-Töchter. Und der Fußboden im Esszimmer war vollkommen nackt, abgesehen von dem geisterhaften Umriss des orientalischen Teppichs der Vorbesitzer.

Rose kam sich an den Wochenenden oft selbst wie ein Geist vor, wenn sie auf dem Fenstersims saß und auf den Verkehr hinunterstarrte und auf die Pärchen, die unten entlangliefen. Das Geräusch von Autohupen und Lachen drang zu ihrer Wohnung im vierten Stock hinauf, selbst bei geschlossenen Fenstern. Das Viertel, 63rd Street Ecke Lexington, war nicht so charmant wie ihre alte West-Village-Umgebung, wo die Bäume einen Baldachin über den Pflastersteinen formten. Hier waren die Bürgersteige kahl, und in der Lexington Avenue reihten sich schicke Läden an exklusive Boutiquen, in denen man weiße Babykleidchen aus Leinen oder antiquarische Stadtpläne von Paris erstehen konnte.

Rose wartete, während Maddy sich schnaubend in ihr Kleid kämpfte. »Gott, der Reißverschluss ist echt unerreichbar. Ich bräuchte ein zweites Paar Hände.«

»Wo ist Billy nochmal?«

»Auf einem Elternabend. Er und seine Ex gehen danach essen, um die Schulfrage fürs nächste Jahr zu besprechen. Und falls ich es noch nicht erwähnt habe: Ich bin echt froh, dass ich für den heutigen Abend eine ›Du kommst aus dem Gefängnis frei‹-Karte besitze.«

»Wenn ich könnte, würde ich dir beim Schickmachen helfen, das weißt du.«

»Ja, ich weiß, Süße, mach dir keine Gedanken. Ich schick dir später ein Bild – und du mir, sobald ein Ring an deinem Finger steckt.«

Rose legte lachend auf und tappte durch den langen Flur zum Schlafzimmer, wo sie aus dem Etuikleid schlüpfte, das sie den ganzen Tag über getragen hatte. Wie immer war sie zu schick angezogen gewesen. Der Rest ihrer Kollegen bei dem Medien-Start-up, alle mindestens zehn Jahre jünger, bevorzugte Jeans und Kapuzenpullis. Sie zog sich eine Leggins und einen weichen Kaschmirpulli mit V-Ausschnitt an, dann malte sie sich vor dem Spiegel die Lippen nach.

Griff nannte sie gern sein Pin-up-Girl, ein Bild, das sie, wenn sie zusammen ausgingen, mit einem karmesinroten Lippenstift befeuerte, der gut zu ihrer blassen Haut und ihrem dunklen, glatten Bob passte. Aber in letzter Zeit fragte sie sich immer öfter, ob die Farbe nicht zu grell für eine Frau Mitte dreißig war. Ob es zu bemüht aussah.

Wann fragte sich eigentlich ein Mann, ob sein Gesicht zu sehr glänzte, sein Haar sich übermäßig kräuselte oder ob seine Augenfältchen sich über Nacht vertieft hatten? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Griff jemals über sowas nachdachte. Er betrat einen Raum als ein Mann der Tat, ein Mann, der Schlagzeilen machte. Im Gegensatz zu der hübschen jungen Frau, die nur über sie berichtete. Als Rose beim Fernsehen gearbeitet hatte, war es ihr wichtig gewesen, dass man sie ernst nahm, und sie hatte sich entsprechend seriös gekleidet, auch wenn ihr Produzent lieber tiefe Dekolletés sehen wollte. Trotz ihrer dezenten Kleidung war Rose von einem Großteil ihres Stammpublikums als reiner Blickfang abgetan worden – und es hatte auf Twitter immer wieder gemeine Kommentare über ihre Brüste und Beine gegeben. Zumindest bewahrte sie ihr neuer Job vor dem Rampenlicht.

Durch das offene Schlafzimmerfenster drang Musik herein. Eine leise, schwermütige Melodie, gefolgt von dem Schnarren eines Schlagzeugs. Sie war sich nicht sicher, wer da spielte: Außer Miles Davis kannte sie keinen Trompeter. Als sie noch klein war, hatte ihr Vater gerne Platten von Dave Brubeck aufgelegt, und bei dem Gedanken daran musste sie lächeln. Sie würde etwas von Brubeck auf ihr iPhone herunterladen und es ihrem Vater vorspielen, wenn sie ihn am Wochenende besuchte. Das würde ihm gefallen. Oder er würde das Handy quer durch das Zimmer werfen. So genau wusste man das dieser Tage nicht.

Sie sollte losgehen, doch die Melodie zog sie wie magisch zum offenen Fenster. Sie stützte sich auf das Fensterbrett, steckte den Kopf hinaus und lauschte. Der Klang schwebte von der Wohnung unter ihrer herauf, doch dann endete das Stück abrupt und wurde von einem Frauenduett abgelöst. Die eine hatte einen kratzigen Alt, wie Lucinda Williams. Die andere war sanft, hoch, beinahe engelsgleich. Das Zusammenspiel der Stimmen war unerträglich schön: Schmerz und Hoffnung, miteinander verbunden. Das Lied endete mit einem Geräusch, das wie ein Kichern klang, was ziemlich merkwürdig war.

Zeit, in die Gänge zu kommen. Sie brauchte...